von Franz Sommerfeld, 6.10.15
Mit einer gewissen Verblüffung notiere ich, wie in der Flüchtlingsdebatte vom Bundespräsidenten über die ARD mit verschleierter Kanzlerin (Hoho, wie komisch) bis hin zu Konservativen die Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen als entscheidende Grundwerte benannt werden. Daran erscheint mir zweierlei bemerkenswert:
Zum einen die entschlossene oder vielleicht auch ängstliche Eile, mit der von den Menschen, die oft nicht wissen, wo sie morgen schlafen oder Essen erhalten werden, die Einhaltung unseres Wertekanons verlangt wird.
Zum anderen die Reduzierung dieses Grundrechte-Kanons, den Botho Strauß in seinem maulend misslaunigen Stück ziemlich genau, wenn auch etwas zuspitzend beobachtet:
Ihre Farbe scheinen parlamentarische Parteien heute ausschließlich in der Causa Schwulenehe zu bekennen. Es ist, als gäbe man (…) mit jeder Weisung politischer Korrektheit Verhaltensbefehle aus, denen die meisten Einwanderer nur nachkommen können, wenn sie sich von ihrem Glauben und Sittengesetz verabschieden und also eine weitere Entwurzelung hinnehmen müssen. Die Überprofilierung (…) von Zulassen und Gewähren enthält unausgesprochen die Drohung, der Willkommene habe sich säkularisiert zu verhalten oder wenig Chancen, ein integrierter Bürger dieses Landes zu werden.
Vielleicht ist das gerade der Grund, warum diese Werte plötzlich eine solche Popularität erlangen.
Wohlgemerkt halte ich die Anforderungen an Flüchtlinge und Einwanderer für richtig und notwendig. Ich habe sie selbst im Kölner Moscheestreit in Kommentaren und Leitartikel erhoben und hätte mir oft eine entschlossenere öffentliche Auseinandersetzung mit denen aus der dritten Generation türkischstämmiger Deutscher gewünscht, die diese Grundrechte gering schätzen oder gar verachten.
Aber ich war und bin mir immer bewusst, das gerade die aktuell in den Mittelpunkt gestellten Werte der Gleichberechtigung von Frauen und Schwulen erst nach langen Auseinandersetzungen Gewicht und eine gewisse Selbstverständlichkeit erlangten. Über Jahrzehnte standen dem Gesetze und öffentliches Klima entgegen. Und auch heute ist dieser Anspruch keinesfalls gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Deutschen brauchten also Zeit, um – in zum Teil heftigen Auseinandersetzungen – die Gesetze zu reformieren und das heutige Maß an Zivilität zu erreichen. Vielleicht sollten wir auch den in diesen Wochen zu und über uns kommenden Flüchtlingen einen Augenblick Zeit lassen. Das ist kein Plädoyer für Laissez-faire oder den Verzicht auf die Verteidigung durchaus mühsam errungener Werte, sondern es reicht die Erinnerung daran, wie zustande kam, worauf wir heute stolz sein können.
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