von Christoph Kappes, 17.7.13
Es sind nur vordergründig die Überwachung oder die Unverhältnismäßigkeit durch eine falsche Güterabwägung das Problem. Für staatliche Überreaktionen nach dem Trauma von 9/11 kann man Verständnis haben, auch wenn sie zu missbilligen sind; das Appartement der Hamburger Zelle in der Marienstraße 54 existiert, die Geschichte der Täter ist gut dokumentiert, und der Ort ist symbolhaft für eine entgleiste Normalität, die hinter ihrer Fassade den Terror verbirgt. Man kann sogar den Schaden und den Nutzen saldieren, in der einen Waagschale unbemerkte Eingriffe, in der anderen verhinderte Terrorakte, auch wenn dazu die Faktenlage doch ausgesprochen dünn ist.
Die Heimtücke der digitalen Angriffe
Doch trifft das alles nicht das Besondere des Sachverhaltes. Der Sachverhalt besteht nämlich nicht aus Einzelmaßnahmen, die gegenüber Einzelnen begründet wären, sondern aus massenhaften Maßnahmen, die man gar nicht erst auf Verhalten Einzelner stützt, sondern mit einer abstrakten Gefahrenlage begründet. Das ist die Besonderheit, wenn ein Staat ohne einzelnen Anlass millionenfach und tagelang die Eckdaten der Kommunikation von Bürgern speichert, denen er gar nichts vorzuwerfen hat.
Wenn Computer Daten aufzeichnen, geschieht es äußerlich ruhig und ohne irgendein Bewusstsein. Vielleicht ist es deswegen für viele Bürger nicht ganz leicht, diesen Vorgang zu bewerten. Es ist aber richtig, darin ein „Abhören“ zu sehen, weil das Aufzeichnen auf einer menschlichen Entscheidung beruht, fortwährende Tätigkeiten erfordert und auch Teil eines komplexen Vorgehens ist, an dessen Ende wieder Menschen stehen, die Zwecke verfolgen.
Die stillen und unbeweglichen Maschinen offenbaren also nicht, dass sie Teil einer Handlung sind. Unsere Bilder von menschenleeren Rechenzentren oder Unterwasserkabeln zeigen uns nicht die Heimtücke, die wir im Alltag sonst gut erkennen können, etwa wenn ein Mensch den anderen von hinten bedroht. Dass digitale Angriffe so heimtückisch sind wie biologische Waffen, das müssen wir erst noch emotional erfassen lernen.
Misstrauen erzeugt gesellschaftlichen Schaden
Solches Handeln durch stille und bewegungslose Maschinen zeigt millionenfach Handelnde mit einer Grundhaltung, mit der sie allen anderen begegnen: Misstrauen. Denn diese Handlungen sind sachlich und örtlich kaum begrenzt und haben daher im Vergleich zu beispielsweise Videoüberwachung an Brennpunkten eine andere Qualität. Diese andere Qualität zeigt sich auch dadurch, dass das Handeln unbemerkt erfolgt – anders als Ausweiskontrollen auf der Straße.
Man könnte den Schaden, wie eingangs formuliert, in rechtlichen Kategorien von Verletzungen subjektiver Rechte diskutieren. Das wäre wichtig, denn es geht um Eingriffe in Autonomie von Bürgern, die ihr Handeln anders ausrichten werden als ohne Eingriff, das hat auch das BVerfG mehrfach gesagt. Der Schaden ist aber in jedem Fall auch sozialer Natur: ein Gefühl ständiger Wachheit und Anspannung entsteht, wo man sich von Unbekannten beobachtet fühlt und nicht sicher sein kann, was passieren wird. Der Schaden ist gesellschaftlich.
Nicht dass wir immer ganz sorglos sein dürfen, so ist es nicht – natürlich kann uns jeder aggressiv begegnen, natürlich können wir auf der Straße stürzen, und natürlich kann es auch im allerbesten Rechtsstaat passieren, dass ein Polizist die Lage falsch einschätzt, den Falschen trifft oder einfach nur seine Aggression auslebt, Menschen sind fehlbar.
Aber die besondere Unsicherheit, was mit uns und dem Mächtigsten passieren werde, ist ein besonderer Schaden, denn das Mächtigste ist der Staat, dem wir uns anvertraut haben und dem wir alles Menschenmögliche gegeben haben, damit er diese Macht für uns ausübt: Gesetze, Organisationen, Ressourcen.
In modernen westlichen Staaten ist es der Staat, der diese Macht sorgfältig ausbalanciert innehält, und nicht eine Mafia oder Oligarchen oder Militär mit ihren eigenen Interessen. In puncto Macht ist also auch ein Rechtsstaat ein Schwergewicht. Dieses Schwergewicht hält sich durch ausbalancierte und verschränkte Teilbereiche seiner selbst in Schach.
Ein Staat aus Beobachtenden gerät in Dysbalance
Jedermann hofft, dass diese Balance bleiben wird, und dass der Koloss nicht doch eines Tages in die falsche Richtung in Bewegung gerät und auf seine Bürger fällt. Mit anlassloser und umfassender Überwachung kann jedoch ein Wissensvorsprung erreicht werden, der die Balance zerstört. Wenn Teile der Exekutive die Oberhand über andere Gewalten erlangen, weil sie Entscheidendes über diese wissen (“Kompromate”), wäre dies der Beginn eines Zustandes, den man als Beginn des Zusammenbruchs des Rechtsstaates betrachten muss.
Ganz deutlich: Wem Parlament und Gerichtsverfahren wichtig sind, der lässt anlasslose Überwachung nicht zu.
Auffällig ist: Die staatlichen Gewalten beobachten sich gegenseitig und andauernd, das Verfassungsgericht bewertet und kassiert Gesetze, die Legislative wählt und stürzt die Exekutive, die Exekutive ragt mit ihren bürokratischen Routinen in alles hinein, was noch Eigenleben entwickeln könnte, und so weiter. Man könnte daher sagen: Das Prinzip gegenseitiger dauernder Beobachtung ist (neben dem Wahlvorgang und der Kommunikationsfreiheit) im modernen Rechtsstaat funktional verfasst und geradezu sein Erfolgsrezept, das man verallgemeinern müsste. Wenn jeder jeden beobachtet, ist alles sicher. So in etwa ist ja auch das zweite Argument strukturiert, man solle sich über Geheimdiensttätigkeit von Geheimdiensten nicht wundern, wenn man seine Mails nicht verschlüssele, sondern “offen” verschicke.
Verschlüsselung als DIY-Fortsetzung von Paranoia
Beide Argumente (“Beobachtung als Prinzip” und “Schütz Dich selbst”) berücksichtigen aber die tatsächlichen Machtverhältnisse nicht, sondern bleiben auf einer kommunikativen Ebene stehen. Denn hinsichtlich Macht ist es ein Unterschied, wer wen “beobachtet” und wer geheim oder transparent kommunizieren muss. Eigenartig unpolitisch ist die Krypto-Fraktion („Verschlüssel doch“), die in Do-It-Yourself-Manier das Beste tut, aber ihr eigenes Handeln in eine Kampfhandlung umdeutet, obwohl es eine Unterwerfungshandlung ist.
Ein Bürger, der sich zu wehren behauptet, in dem er nach fremden Regeln spielt, ist ein trauriger Bürger. Verschlüsselung taugt nur als zeitweilige Notwehr, wie Gewalt als Akt von Notwehr taugt. Als allgemeines Prinzip setzt sie nur die Paranoia fort, gegen die sie angehen will.
Es verwundert eigentlich nicht, dass diese Argumente von zwei Berufen kommen, deren Kern prozessuale Informationsverarbeitung ist: Juristen und Programmierer. Beide verlieren ihr Vertrauen in Prozesse und Technik erst, wenn man ihnen überraschend auf die Schnauze haut.1 Denn das Gegenteil ihrer Thesen ist richtig: Freiheit im Sinne eines positiven Freiheitsbegriffes ist dort, wo keine Systeme sind, wonach sich Menschen gegenseitig in Schach halten. Und frei ist, wer unverschlüsselt darauflosplappert – eine Obliegenheit zu allgemeiner Verschlüsselung verkehrt die Verhältnisse, indem sie die Pflicht auf das Opfer verlaget.
Nach der Logik müsste man auch in anderer Richtung rückwärts um den Straßenblock laufen, auf den roten Hut einen braunen aufsetzen und auf nur einem Bein hüpfen, um damit die Fähigkeit des Gehens anderen zu verbergen. Man kann sein ganzes Leben so einrichten, dass es Unberechtigten per default verborgen bleibt, dann aber nennen wir es gemeinhin „Doppelleben“.
Grenzüberschreitendes Zusammenwirken von Nationalstaaten „über Kreuz“ gegen eigene Bürger
Vertrauen ist essentiell für einen modernen Staat. So ein Rechtsstaat lebt von Vertrauen, das ihn konstituiert: Nur durch seine massenhafte Anerkennung kann der Rechtsstaat ein Rechtsstaat bleiben und muss sich nicht auf eine Weise durchsetzen, die ihm die Legitimation nimmt und letztlich zu seiner Auflösung führt.
Was aber, wenn Ausländer von seinem Handeln betroffen sind?
Lassen wir die internationale Rechtslage außen vor, wo nur die Lösung zu suchen sein kann, weil Staaten untereinander Regeln brauchen. Bleiben wir erst einmal bei der Bewertung stehen, weil es hierzulande wohl noch zu diskutieren ist. Wer andere Staaten heimlich mit Informationen versorgt, ohne dass es dessen Bürger wissen, zerstört Vertrauen innerhalb dieser Staaten (in diesem Fall Deutschland). Aus der Perspektive eines Bürgers eines ausländischen Rechtsstaates (in diesem Fall Deutschland) ist die Quelle der Information unbedeutend im Vergleich zum Ziel: Der ganze Vorgang ist eine Grundrechtsverletzung durch den Staat, der die Information entgegennimmt, in mittelbarer Täterschaft, wobei der abhörende Staat Werkzeug des grundrechtsverletzenden Staates ist.
Nach normalen Regeln des Strafprozesses müsste man wohl auch an ein Verwertungsverbot denken: Was illegal erlangt wurde, darf nicht verwertet werden. In jedem Fall liegt eine moralische Verantwortung für das vor, was Juristen kollusives Zusammenwirken nennen: Die geheime Verabredung mehrerer Beteiligter (in diesem Fall der Staaten USA und Deutschland), einem oder mehreren Dritten (nämlich Millionen von Bürgern) unerlaubt Schaden zuzufügen, wobei Kenntnis oder Unkenntnis einzelner Staatsorgane an der Zurechnung für den Staat nichts ändert.
Es ändert auch nichts an dieser Betrachtung, dass es das innerhalb der jeweiligen Staaten immer schon gegeben hat, denkt man etwa an Millionen vom BND im Kalten Krieg geöffnete Briefe. Es mag alles rechtens sein, wie Verantwortliche sagen, denn es kommt trotz aller systematischen Bedenken (vor allem hinsichtlich der Verfahrensweise in den USA [Lesetipps Economist und FAZ]) immer auch darauf an, welche Daten konkret wem zur Kenntnis gelangen (die allgemeine Information über eine neue Terrorzelle in Harburg etwa wäre noch keine Grundrechtsverletzung). Trotzdem ist das grenzüberschreitende Zusammenwirken von Nationalstaaten „über Kreuz“ gegen ihre Bürger schon so nah am Ufer des Rubikon, dass man sich wünscht, der aktuelle Bundespräsident oder wenigstens Kai Diekmann hätte dem amerikanischen Präsidenten auf den Anrufbeantworter gesprochen.
Falscher Friede
Vertrauen nimmt durch anlasslose Kommunikationsüberwachung schweren Schaden. Vertrauen als Erwartung des Handelns anderer richtet sich nicht nur an den Staat und seine Organe, sondern natürlich auch von Bürger zu Bürger, deren Handeln sich durch Kommunikationsüberwachung ändern kann. Vertrauen ist nicht einfach „da“, sondern es kann sich nur dort entwickeln, wo die Zukunft unsicher ist, wo Menschen handeln und wo sie auch die Wahl haben, sich für unethisches Handeln zu entscheiden.
Die Zukunft ist aber nicht unsicher, wenn alle identifiziert und kontrolliert werden, denn dann werden sie sich äußerlich korrekt verhalten. Dieser äußerliche Frieden verdient die Bezeichnung „Frieden“ nicht – und eine Erwartung, die sich auf ständig korrektes Verhalten in der Vergangenheit stützt, darf nicht „Vertrauen“ genannt werden, wenn sich hinter der äußerlichen Nichtkriegsheit eine innere Feindlichkeit verbergen kann, die gerade dadurch zu einer ständigen Bedrohung wird, dass man sie nicht mehr äußerlich bemerken kann. Denn niemand konnte sich gegen das Gute (um in der Polarität zu bleiben: für das Böse) entscheiden, jeder musste gut handeln.
Das falsche Menschenbild
Es wird deutlich, wie sehr eine anlasslose Überwachung auf einen Zustand zielt, der im christlichen Weltbild als Fundament westlicher Grundwerte nicht vorgesehen ist. Das Menschenbild westlicher Grundwerte sieht den „#fail“ als eine Möglichkeit des Handelns vor, mehr noch: Das Gute und das Böse, Gott und Teufel, bilden eine dialektische Einheit, und die christliche Geschichte ist voll von Versuchen, die These von der Existenz eines Gottes zu verteidigen, obwohl derselbe ja ganz offenkundig Leiden zulässt (Theodizee).
Ein Zustand, der uns faktisch die Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse nimmt (insofern, als er unser Handeln sofort erfasst und bestraft), entspricht nicht unserem Menschenbild. In diesem Zustand sind alle entmenschlicht, sie verlieren ihre Subjekt-Eigenschaft und werden Objekt staatlichen Handelns. Die Überwachung, die alles panoptisch erfasst, will Vertrauen schaffen, aber sie schafft Misstrauen – noch über das Misstrauen hinaus, das sie selbst schon ausdrückt. Sie infiziert so alles soziale Handeln, das sie überwachend erfasst, wie ein Virus mit ihrem Misstrauen, das jede überwachte Handlung begleitet.
Die Überwachung, die alles panoptisch erfasst, ist im engeren Sinn totalitär, weil sie in alle sozialen Verhältnisse eindringt – das ist ein Verrat an den Grundwerten des Westens für Menschen, die sich online ebenso wie offline bewegen, weil sie ihre sozialen Verhältnisse im Netz genauso wie in der körperlichen Welt pflegen und dort mitunter vertrauensvoller miteinander umgehen, als in der körperlichen Welt. Das ist in etwa so, als hätten im Wohnzimmer unserer Großeltern immer drei graue Herren gesessen, wenn die Nachbarn zum Romméspiel kamen.
Aus diesem Grunde ist der Aufschrei in der deutschen Netzgemeinde über Prism so laut – wohingegen ein solcher Eingriff in das Leben von Offline-Normalbürgern nicht zur Diskussion steht und Online-Normalbürger auf Facebook dieses Vertrauen in die Integrität von Facebook nie hatten, weil die Medien sie seit Jahren ständig warnen.
Das Verblüffende ist: Das alles wäre nur halb so schlimm, wenn es nicht heimlich geschähe. Erst durch Heimlichkeit hat das Mitschneiden den Charakter von Heimtücke und Vertrauensbruch. Es ist daher tunlichst zu raten, dass die Öffentlichkeit aufgeklärt wird.
Vertrauen, überall und im Prozess
Vertrauen ist der Rohstoff, aus dem soziale Beziehungen in neue Qualitäten wachsen können.
Was eine friedliche Gesellschaft auszeichnet, ist nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern dass der Eine mit dem Anderen in Interaktion treten kann, weil er Erwartungen haben darf, dass es für ihn gut gehen werde. Dass wir positive Erwartungen hegen dürfen, gilt nicht für nur das Respektieren unserer eigenen Rechte, nicht nur für archaische Handlungen wie Mord und andere Gewalt, sondern Vertrauen ist auch der Rohstoff für Tauschbeziehungen in der Wirtschaft – es ist im Grunde für jedes gesellschaftliche Teilsystem so wichtig, dass man es als strukturgebend bezeichnen kann, weil sich Menschen in ihren Rollen so verhalten, wie es andere erwarten.
Das ist uns heute so selbstverständlich geworden, dass es hier herauszuarbeiten ist: Es ist nicht selbstverständlich, dass uns unser eigener Anwalt der Gerechtigkeit wegen nicht anzeigt, dass uns der Beichtvater der göttlichen Gesetze wegen nicht ins Jenseits befördert, und uns der Arzt nicht tötet, wenn wir mit unserem Virus die Gesundheit anderer gefährden!
Wo also dieses Gut „Vertrauen“ gefährdet ist, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen, die Gesellschaft fällt um Jahrtausende zurück in einen Zustand der Dunkelheit. Eine Gesellschaft, die längere Zeit anlasslos die Kommunikation überwacht, verlernt es zu vertrauen; Vertrauen entsteht im Prozess aus Freiraum und geht wieder, wo Handeln keinen Freiraum hat. Dasselbe gilt für Verantwortung als Einstehen für die eigene Entscheidung.
Jeder Mensch muss beides als Kind lernen. Eine solche Gesellschaft, die längere Zeit anlasslos die Kommunikation überwacht, muss sich umso mehr vor jenem dunklen Tag fürchten, an dem die Überwachungs-Automaten ausfallen. Hochmoralische Beichtväter im Jahre 2100 könnten Gläubige töten, die sich als Schwerverbrecher offenbart haben, wenn alle die Konzepte von Vertrauen und Verantwortung vergessen haben.
Der Mensch als Störfaktor in der Sicherheitsgesellschaft
Komplexe Gesellschaften stellen Vertrauen zudem über Institutionen, Normen, Prozesse, Marken und ähnliches her. Ständig anlasslos überwachte Prozeduren kann man als besonders gesichert in dem Sinn ansehen, dass sie erwartungskonforme Ergebnisse liefern. Dabei schalten sie jedoch den Menschen als Störfaktor aus und nehmen ihm Beweglichkeit, Luft und Lebendigkeit, so dass sie ihm auch auf diese Weise Menschlichkeit nehmen.
Das gilt nicht nur für die Rollen von Menschen in wirtschaftlichen Wertschöpfungsprozessen, diese Grunderwartung ist auch zunehmend in einer Politik zu finden, die alles durchnormiert und Risiken ausschalten will. Kein Bereich ist davon ausgenommen, auch Blogger fordern lieber, als dass sie verzeihen. Die “Komfortgesellschaft” hat insofern über die “Sicherheitsgesellschaft” eine eigenartige geistige Nähe zur Überwachungsgesellschaft, und man muss sehr aufpassen, dass sie sich nicht zur Superkomfortgesellschaft für Mehrheiten gegen Minderheiten entwickelt, die die Erwartungen nicht erfüllen.
Digitale Schattenarbeit ist notwendig
Wer sich nun empören möchte, muss noch digitale Schattenarbeit leisten: Wo beobachten wir einander, ohne dass wir fremde Dritte zu Tätern erklären können und uns zum Opfer machen? Inmitten unserer Gesellschaft nehmen wir es als Normalität hin, wenn Kinder rund um die Uhr von Eltern beobachtet werden. Wir nehmen nicht wahr, dass alte Menschen in Pflegeheimen rund um die Uhr von Dritten beobachtet werden und nicht einmal in ihrer Nachttischschublade noch sicher davor sein können, dass man ihre Grenzen respektiert. Medienprodukte entstehen mit gezielten Brüchen von Privatsphäre. Es gibt Eheleute, die wie selbstverständlich ihre Handys gegenseitig in Augenschein nehmen – sogar einvernehmlich als „Vertrauensmaßnahme“. Auch die Kontrollierbarkeit am Arbeitsplatz hat mit der Digitalisierung zugenommen.
Vielleicht wird dies alles auch durch Verdichtung beschleunigt: mit Urbanisierung und Anschluss an viele Funktionssysteme muss sich die Kontrolldichte beinahe erhöhen. Umgekehrt: Wie soll es ohne Beobachtung gehen, wenn sich eine Million Menschen auf wenigen Quadratkilometern Ressourcen teilen? Jedenfalls sind wir selbst es, die jede Neuerung der Medientechnik dazu genutzt haben, Dokumentierbarkeit eines jeden Vorganges zu fordern; selbst im Wirtschaftsalltag zählt das Wort weniger als eine Mail oder eine Präsentation mit Protokoll. Das Protokoll hält etwas fest, weil wir Angst haben, dass es unsicher werden könnte.
Schluss
Dieser Frieden, der mit anlassloser Überwachung hergestellt wird, ist kein Frieden, und er darf nicht Frieden genannt werden. Er ist aus dem Krieg geboren, und seine Handlungen richteten sich erst gegen wenige, die den Krieg begonnen haben, und nun säen sie Misstrauen, das Gift für jede soziale Beziehung, die Vertrauen erfordert.
Es ist nicht leicht, die Grenze zwischen einerseits Beobachtung beziehungsweise Beobachtetwerden als existentiellem Grundzustand und andererseits Überwachung als Grenzüberschreitung zu ziehen. Aber aus genau diesem Grund darf die Beobachtung nicht zur Regel werden, sondern muss begründete Ausnahme bleiben. Eine dauerhafte Beobachtung in weitreichendem Umfang ist jedenfalls eine dauerhafte Grenzüberschreitung, welche die Gesellschaft in ihrem Grundfundament beschädigt und auch nicht in das westliche Wertesystem passt.
1 = Diesen Satz habe ich für mich geschrieben, weil ich beides bin, und ich beobachte nun, wie er in mir nachklingt
Crosspost von Christoph Kappes