von Steffen Rutter, 22.7.09
Der Basar für Mehrwertsteuersätze ist dank Sommerzeit gegenwärtig geschlossen. Doch bald werden die Marktschreiber ihre fauligen Angebote wieder unter das Volk bringen. Es wird daher Zeit, zivilisierte Alternativen für die indirekte Steuer zu erwägen.
Das bestehende Umsatzsteuersystem in der Bundesrepublik ist undurchsichtig, inkonsistent, in sich widersprüchlich und lässt den Verdacht einer sozialpolitischen Willkür aufkommen. Dafür zeugen schon die skurrilen Praxisbeispiele für die umsatzsteuerpolitische Irrfahrt:
- Babynahrung: 19 Prozent – Tiernahrung: 7 Prozent
- Hummer: 19 Prozent – Garnelen: 7 Prozent
- Wildschweine: 19 Prozent – Hausschweine: 7 Prozent
Postdienstleistungen der Deutschen Post AG sind umsatzsteuerbefreit, die gleichen Leistungen der Konkurrenz unterliegen aber 19 Prozent Umsatzsteuer. Hier werden indirekte Steuern gar zur Verteidigung eines Monopols missbraucht.
Aber auch ganz grundsätzlich ist das deutsche Umsatzsteuerregime reformbedürftig. Statische oder feste Umsatzsteueraufschläge verstärken pro-zyklisch die Belastungswirkungen steigender Preise für Unternehmen und Privatpersonen zu Gunsten der Steuereinnahmen der öffentlichen Hand. 19 Prozent auf 100 Euro sind eben weniger als 19 Prozent auf 120 Euro.
Zahlreiche Güter unterliegen an sich einer ausgeprägten Preisvarianz, wobei sich das Marktpreisniveau mittelfristig oftmals sinusartig nach oben oder unten entwickelt. Unternehmen und Privatpersonen können sich oftmals nicht rechtzeitig auf die – steigende oder fallende – Marktpreisentwicklung einstellen. Produzenten unterliegen daher dem Schweinezykluseffekt, der für die Unternehmen existenzbedrohend sein kann. Verbraucher sind vor – staatlich mitverursachter – Inflation verängstigt, wobei insbesondere die unteren Einkommensschichten belastet werden.
Staat und Privatwirtschaft versuchen bereits mit ineffizienten und letztlich wirkungslosen Maßnahmen wie Mengensteuerungen über Quoten, Preisindizierungen (Ölpreisbindung), Subventionen oder ermäßigter Mehrwertsteuer dem entgegen zu wirken. Hier wird aber nur an Symptomen herumgedoktert, statt die Ursachen nachhaltig anzugehen.
Ich schlage daher die Einführung eines Systems der ‚atmenden Mehrwertsteuer’ vor. Hiernach wird die Umsatzsteuerbelastung dynamisiert, der entsprechende Steuersatz ändert sich in Abhängigkeit vom Nettopreis. Die Umsatzsteuerbelastung wird zukünftig in einem flexiblen System tagesaktuell bestimmt. Ein noch einzusetzendes Zentralkomitee, beispielsweise ein Gremium aus Sozialpartnern und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, bestimmt einen fixen Bruttopreis für jedes einzelne Gut mit Gültigkeit für eine bestimmte Zeitperiode. Der Umsatzsteuersatz wird dann automatisch so angepasst, dass Preissteigerungen beim Nettopreis mit sinkenden Umsatzsteuersätzen kompensiert werden und vice versa.
Aus meiner Sicht überwiegen die Vorteile dieses Systems der ‚atmenden Mehrwertsteuer’. Dieses innovative, weltweit einmalige Umsatzsteuersystem dient der Stärkung des Steuerstandorts Bundesrepublik Deutschland. Vor allem die Auflösung des Willkürlichkeits-Paradigmas des bestehenden Umsatzsteuersystems entfaltet positive Effekte zur Gewährleistung von Steuergerechtigkeit. Die bisher planwirtschaftliche Festlegung des Umsatzsteuersatzes wird durch Variabilisierung der Steuer überwunden; der durch Angebot und Nachfrage induzierte Nettopreis bestimmt marktnah den Umsatzsteuertarif.
Mittelfristig ergibt sich eine belastbare Prognostizierbarkeit der Bruttopreise für Unternehmen und Verbraucher. Dies öffnet neue Handlungsmöglichkeiten zum Verzicht auf teure, derivative Spekulationsinstrumente wie etwa Swaps (Hebung volkswirtschaftlicher Effizienzpotentiale). Die Transaktionskosten sinken perspektivisch. Ferner dient die ‚atmende Mehrwertsteuer’ der Entschärfung des Inflationsdrucks für Verbraucher durch Bereinigung staatlicher Inflationseffekte.
Vor dem Hintergrund der ausufernden Staatsverschuldung ermöglicht die ‚atmende Mehrwertsteuer’ die Erwirtschaftung zusätzlicher fiskalischer Effekte bei sinkendem Nettopreisniveau. Einerseits ließe sich hierdurch die Haushaltskonsolidierung erreichen, andererseits werden Gestaltungsmöglichkeiten für die Schaffung von Zukunftsinnovationen in Familien, Bildung und Forschung neu geschaffen. Verbraucher und Unternehmen sind ja an das fixierten Bruttopreisniveau gewöhnt, daher würde der steigende Mehrwertsteueranteil abschöpfbar sein.
Letztlich würde dieses neue Mehrwertsteuersystem den Abbau systembedingter Überbeschäftigung in Bundes- respektive Landesbehörden zur Ermittlung, Eintreibung und Kontrolle der heute unverständlichen Umsatzsteuersystematik nach sich ziehen. Auch dies wirkt haushaltsentlastend.
Nachteile der ‚atmenden Mehrwertsteuer’ sehe ich lediglich darin, dass mein Modell vom tradierten Preis- und Steuermodellen abweicht.