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Uri Avnery: Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich

von , 7.2.11

Sicher, der Aufstand in Ägypten wurde in erster Linie durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt: wachsende Lebenshaltungskosten, Armut, Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit der gebildeten jungen Leute. Aber lassen wir kein Missverständnis aufkommen: Die Ursachen liegen viel tiefer. Sie können mit einem Wort zusammengefasst werden – Palästina.

Denn in der arabischen Kultur ist nichts bedeutsamer als die Ehre. Die Menschen können Not ertragen, aber keine Demütigungen.

Was jeder junge Araber von Marokko bis Oman täglich sah, war, dass die arabischen Führer sich demütigten, indem sie die palästinensischen Brüder im Stich ließen, um Gunst und Geld von Amerika zu erhalten. Sie kollaborierten mit der israelischen Besatzung und katzbuckelten vor den neuen Kolonialherren. Dies war für junge Leute zutiefst demütigend, die mit den Errungenschaften der arabischen Kultur vergangener Zeiten und dem Ruhm früherer Kalifen aufgewachsen sind.

Nirgendwo war der Ehrverlust offensichtlicher als in Ägypten, das offen mit der israelischen Führung kollaboriert, indem es die schändliche Blockade über den Gazastreifen verhängt und so 1,5 Millionen Araber der Unterernährung und Schlimmerem preisgibt. Es war niemals nur eine israelische Blockade, sondern eine israelisch-ägyptische, die mit 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschmiert wurde.

Ich habe viele Male – laut – darüber nachgedacht, wie ich mich als 15-jähriger Junge in Alexandria, Amman oder Aleppo fühlen würde, wenn ich meine Führer sehe, wie sie sich wie unterwürfige Sklaven der Amerikaner und Israelis benehmen, während sie ihre eigenen Untertanen unterdrücken und ausplündern. In diesem Alter schloss ich mich einer terroristischen Organisation an. Warum sollte ein arabischer Junge anders sein? Ein Diktator kann toleriert werden, wenn er die nationale Würde reflektiert. Ein Diktator, der nationale Schande ausdrückt, ist ein Baum ohne Wurzeln – ein starker Wind wird ihn zu Fall bringen.

Für mich gab es nur die Frage, wo in der arabischen Welt der Aufstand beginnen würde. Ägypten wie Tunesien standen unten auf der Liste. Doch genau hier, in Ägypten, findet die große arabische Revolution statt. Wenn Tunesien ein kleines Wunder war, so ist dies ein großes.

Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt zwar, dass man nicht 88 Millionen Individuen lieben kann, aber man kann sicher ein Volk mehr als ein anderes lieben. In dieser Hinsicht ist es einem erlaubt, zu verallgemeinern.

Die Ägypter, die man auf den Straßen trifft, in den Häusern der intellektuellen Elite und in den Gassen der Ärmsten der Armen sind eine unglaublich geduldige Gesellschaft. Sie sind mit einem unverwüstlichen Gespür für Humor ausgestattet. Und sie sind unheimlich stolz auf ihr Land und seine 8000-jährige Geschichte.

Für einen Israeli, der an seine aggressiven Landsleute gewöhnt ist, ist das fast vollständige Fehlen von Aggressivität bei den Ägyptern erstaunlich. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine besondere Szene: Ich saß in einem Taxi in Kairo, als dieses mit einem anderen zusammenstieß. Beide Fahrer stiegen aus und verfluchten einander mit schrecklichen Ausdrücken. Dann hielten beide plötzlich inne und brachen in Gelächter aus.

Wenn ein Europäer nach Ägypten kommt, mag er das Land, oder er hasst es. In dem Augenblick, in dem du auf ägyptischem Boden landest, verliert die Zeit ihren tyrannischen Druck. Alles wird gelassen, alles ist durcheinander, doch in wunderbarer Weise löst sich alles von alleine auf. Geduld ist grenzenlos. Dies mag einen Diktator täuschen. Weil die Geduld plötzlich ein Ende haben kann.

Es ist wie ein defekter Deich an einem Fluss. Das Wasser steigt geräuschlos und kaum wahrnehmbar hinter dem Deich – aber wenn es einen kritischen Punkt erreicht, bricht der Deich und überschwemmt alles.

Meine eigene erste Begegnung mit Ägypten war wie ein Rausch. Nach Anwar El Sadats beispiellosem Besuch in Jerusalem eilte ich nach Kairo. Ich hatte kein Visum. Ich werde niemals den Moment vergessen, in dem ich meinen israelischen Pass dem korpulenten Beamten am Flughafen reichte. Er blätterte ihn durch und wurde immer verwirrter – und dann hob er seinen Kopf mit einem breiten Lächeln und sagte „Marhaba!“, „Herzlich Willkommen!“

Zu diesem Zeitpunkt waren wir die einzigen Israeli in der riesigen Stadt, und wir wurden gefeiert wie Könige. Beinahe erwarteten wir, jeden Augenblick auf die Schultern der Leute gehoben zu werden. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen Ägyptens liebten es.

Es dauerte nur ein paar Monate, bis sich alles veränderte. Sadat hoffte – und glaubte wohl ehrlich – dass er auch den Palästinensern Befreiung gebracht hatte. Unter intensivem Druck Menachem Begins und Jimmy Carters stimmte er einer vagen Formulierung zu. Bald danach merkte er, dass Begin nicht im Traum daran dachte, sein Versprechen zu erfüllen. Für Begin war das Friedensabkommen mit Ägypten ein separater Frieden, der es ihm ermöglichte, den Krieg gegen die Palästinenser zu intensivieren.

Die Ägypter vergaben dies nie. Das begann bei der kulturellen Elite und sickerte bis zu den Volksmassen durch. Sie fühlten sich betrogen. Die Palästinenser mögen nicht sehr beliebt sein, aber einen armen Verwandten zu verraten, ist nach arabischer Tradition eine Schande. Nachdem die Ägypter gesehen hatten, wie Hosni Mubarak mit diesem Verrat kollaborierte, verachteten sie ihn. Diese Verachtung lag allem zugrunde, was in dieser Woche der Revolte geschehen ist. Die Millionen, die „Mubarak, geh weg!“ schrien, riefen – bewusst oder unbewusst – auch aufgrund dieser Verachtung.

Bei jeder Revolution gibt es einen „Jelzin-Moment“. Die Panzer werden in die Hauptstadt geschickt, um die Diktatur wieder herzustellen. Im kritischen Augenblick stehen sich die Volksmassen und das Militär gegenüber. Wenn die Soldaten sich weigern zu schießen, ist das Spiel zu Ende. Jelzin kletterte auf einen Panzer, El Baradei wandte sich an die Massen auf dem Tahrir-Platz. Das ist der Augenblick, in dem ein vorsichtiger Diktator ins Ausland flieht, so wie es der Schah tat und jetzt der tunesische Boss.

Dann gibt es noch den „Berliner Moment“, wenn ein Regime ins Wanken gerät und keiner der Mächtigen weiß, was er tun soll, und nur die anonymen Massen genau zu wissen scheinen, was sie wollen: Sie wollten, dass die Mauer fällt.

Und schließlich gibt es noch den „Ceausescu Moment“. Der Diktator steht auf dem Balkon und wendet sich an die Menge, als plötzlich von unten ein Schrei ertönt „Nieder mit dem Tyrannen!“ und anschwillt. Einen Moment lang ist der Diktator sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann verschwindet er. Dies geschah Mubarak, der noch eine lächerliche Rede hielt und vergeblich versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen.

Wenn Mubarak die Realität nicht mehr sieht, so trifft dies auch auf Benjamin Netanjahu zu. Er und seine Kollegen sind unfähig, die schicksalhafte Bedeutung dieser Ereignisse für Israel zu begreifen.

Wenn Ägypten sich bewegt, wird die arabische Welt folgen. Was in der nächsten Zukunft in Ägypten geschieht – Demokratie oder Militärdiktatur – ist Sache einer (kurzen) Übergangszeit, bevor die Diktatoren in der ganzen arabischen Welt fallen und die Massen eine neue Realität ohne Generäle schaffen.

Alles, was die israelische Führung in den letzten 44 Jahren der Besatzung, in den 63 Jahren seiner Existenz getan hat, ist obsolet geworden. Wir stehen vor einer neuen Realität. Wir können sie ignorieren – und darauf bestehen, dass wir „eine Villa im Dschungel“ sind, wie es Ehud Barak einmal ausdrückte – oder wir können einen passenden Platz in der neuen Realität finden. Frieden mit den Palästinensern ist nicht länger Luxus. Er ist eine absolute Notwendigkeit.

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Uri Avnery, 1923 in Beckum (NRW) geboren, ist israelischer Journalist und Friedensaktivist. Zwischen 1965 und 1981 war er zehn Jahre lang Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Avnery gründete die Friedensbewegung Gush Shalom und ist (gemeinsam mit seiner Frau Rachel) Träger des Alternativen Nobelpreises.

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