#digitale Gesellschaft

Unbegründet: Norbert Bolz’ Angst vor der gesellschaftlichen Fragmentierung

von , 30.8.10

Robin Meyer-Lucht weist auf einen Artikel von Norbert Bolz in der Süddeutschen hin. Bolz ist Medien- und Kommunikationstheoretiker an der TU Berlin. Der Essay ist ein Rundumschlag zu aktuellen Vorgängen im Web, allerdings gespickt mit Buzzwords und rar an Inhalt.

Der Text ist an vielen Stellen zu diskutieren, aber ich will mich auf eine Aussage beschränken, die leider auch anderenorts zustimmend zur Kenntnis genommen wird. Auch Norbert Bolz sieht eine Fragmentierung der Gesellschaft durch die Ausdifferenzierung des Internets. Er formuliert das etwas verschwurbelt wie folgt:

Suchmaschinen produzieren die Homogenität der Gleichgesinnten in Geschmacks-Clustern. Hinzu kommt die Selbstselektion der Gleichgesinnten in den Communities, den virtuellen Gemeinschaften. Das 21. Jahrhundert hat also nicht mehr das Problem des Massenkonformismus durch Massenmedien, sondern das Problem der Gleichgesinntheit in digitalen Echokammern. [Hervorhebung Carta]

Vor einem Monat hatte ich mich bereits mit der überzogenen Angst vor der Fragmentierung der Öffentlichkeit auseinandergesetzt und schrieb:

Fragmentierung online bedeutet nicht, dass sich einzelne Menschengruppen in abgeschotteten Räumen treffen und dort von den anderen Gruppen nichts mitbekommen.

Ein banales Beispiel: Es dürfte nur wenige Twitternutzer in Deutschland gegeben haben, die der Fußball-WM entkommen konnten. Twitter ist mit seinem Follower-Prinzip das Paradebeispiel der systemimmanenten Fragmentierung. Und es zeigt recht deutlich: Fragmentierung im Netz bedeutet nicht Abschottung. Gerade das Webdienste zunehmend dominierende Follower-Prinzip ermöglicht mehr Individualisierung während es gleichzeitig Gruppenabschottung hemmt.

[..]

Neben der Gruppendurchlässigkeit wirken auch Aggregatoren gegen eine tiefgehende Spaltung der Öffentlichkeit durch Fragmentierung. Man denke nur etwa an Google News, Rivva, Techmeme, Digg und andere Beispiele.

Die irreführende Annahme von Befürchtern der Fragmentierung, wie es Bolz einer zu sein scheint, liegt in der vermuteten Natur der Online-Gruppierungen und ihrer gegenseitigen Abgrenzung und Abschottung.

Das aber geht mehrheitlich an der Realität vorbei.

Interessen, Gruppen und Nischen vermischt

Die sich online formierenden Gruppen (oder negativ und unnötig pseudoinstitutionalisiert “Echokammern”) fußen auf den Interessen der Mitglieder. Die Mitglieder selbst bewegen sich aber in mehreren mehr oder weniger verschiedenen Gruppen, die auf ihren unterschiedlichen Interessen beruhen. Online ist durch die einfachere Informationsbeschaffung eine stärkere Diversität innerhalb der Gruppen und bei den Gruppenzugehörigkeiten der Einzelpersonen möglich. Oder anders: Die Gruppen fransen schneller an den Rändern aus oder bestehen bereits nur in einer flüssigen Ad-Hoc-Form (Stichwort Follower-Prinzip).

Ein relativ banales Beispiel:

1. Ich interessiere mich überdurchschnittlich stark für Technologie und die Entwicklung des Webs und beschäftige mich aufgrund meiner Arbeit intensiv mit diesen Themen.

2. Ich habe außerdem ein sehr großes Interesse an Musik. Ich habe jahrelang den lokalen Plattenladen regelmäßig mit Platten im Wert von 100 DM (und später Euro) und mehr verlassen. Freunde von mir betreiben kleine Labels und leben von Auftritten als DJs und/oder Livemusiker oder haben das jahrelang getan. Auch ich bin eine Zeit lang regelmäßig aufgetreten. Ich habe also ein hohes Interesse daran, wie sich Musik im allgemeinen und die Musikbranche entwickelt.

3. Aufgrund meines Hintergrundes (BWL-Studium) bringe ich Kenntnisse in wirtschaftlichen Fragen mit.

Alle drei Felder zusammen genommen sind die Grundlage für meine Betrachtungen von aktuellen Entwicklungen wie etwa dem Filesharing und was dies für die betroffene Branchen, wie etwa die Plattenindustrie, bedeutet.

Wenn ich jetzt in einem Forum verkehre, in dem sich vor allem Musiker unterhalten, kann ich dort meine eigene Sicht zu Themen wie Filesharing einbringen. Jeder kann im Netz leicht auf Informationen von außen verweisen, was Diskussionen online zumindest theoretisch fundierter machen als ihre Offline-Pendants.

Mein heutiger Kenntnisstand setzt sich nicht zuletzt aus der Lektüre vieler Nischenblogs zusammen, die aus meinen jeweiligen Interessensbereichen stammen können. Vielen anderen wird es ähnlich gehen. Die Erkenntnisse aus Techblogs wie Techdirt finden auf dieser Basis ihren Weg in Musikerforen oder Musikerblogs.

Zu unterstellen, dass eine Gruppe von Personen in sich konform ist, weil die Personen ein Interesse teilen, ist eine unzulässige Vereinfachung der Realität. Zu einer in sich konformen Gruppe gehört mehr als der kleinste gemeinsame Nenner auf einem Gebiet als Auslöser der Gruppenbildung.

Die Senkung der Suchkosten für Informationen durch das Internet ist eine nicht zu unterschätzende Kraft, die in alle Richtungen wirkt.

Die Macht der Verlinkung

Yochai Benkler hat sich in seinem 2006 erschienen Klassiker The Wealth of Networks (Affiliate-Link) ebenfalls mit Befürchtungen zur Fragmentierung der Öffentlichkeit auseinandergesetzt. So schreibt er auf S.256 zum Einbeziehen von Quellen:

Jack Balkin has argued that the culture of linking more generally and the “see for yourself” culture also significantly militate against fragmentation of discourse, because users link to materials they are commenting on, even in disagreement.

Der hier vorliegende Text, in dem ich oben auf den Artikel von Bolz linke, dem ich nicht zustimme, ist ein Beispiel dafür.

Benkler geht außerdem auf die Verlinkungen zwischen den verschiedenen Sphären in der politischen US-Blogwelt ein und bezieht sich (S. 257) auf eine Studie, die jene Verlinkungen untersucht hat. Das Ergebnis: Die großen Blogs der jeweiligen Lager verlinkten in 15 Prozent der gesetzten Links auf ein Blog aus dem anderen Lager. Das bedeutet, dass einer von sechs oder sieben Links in das gegnerische Lager verwies. Das galt ungefähr gleich für beide Lager. Eine durchaus bemerkenswerte Vernetzung über das Spektrum hinweg.

Man vergleiche das mit den Querverweisen innerhalb von Massenmedien in Print, TV oder Hörfunk, die oft prozentual niedriger oder zumindest nicht direkt mit genannter Quelle stattfinden und immer weitaus schwerer zu verfolgen sind.

Die oft befürchteten Online-Echokammern sind also bei weitem nicht so abgeschlossen wie oft a priori angenommen wird.

Mit der Zunahme an Diensten, die dem Follower-Prinzip von Twitter folgen, werden die Gruppen, wie oben bereits geschrieben, außerdem flüssiger. Entgegen dem Raum-Prinzip (Foren) gibt es beim Follower-Prinzip quasi keine an externen Faktoren verankerbare feste Gruppe mehr. Das hat wiederrum zur Folge, dass Informationen und mit ihnen die Diskurse in solchen Systemen noch effizienter Verbreitung finden sollten.

Warum ist Fragmentierung überhaupt negativ?

Der Grund, warum Fragmentierung problematisch ist, wird oft nicht mehr angeführt. Auch Bolz schreibt einfach von einem Problem, bevor er zum nächsten Punkt auf seiner Liste springt:

Das 21. Jahrhundert hat also nicht mehr das Problem des Massenkonformismus durch Massenmedien, sondern das Problem der Gleichgesinntheit in digitalen Echokammern.

Die oft implizierte Gefahr liegt in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr über die Öffentlichkeit organisieren kann, weil keine Diskurse mehr auf einer Ebene geführt werden, die zu einem gesellschaftsweiten Konsens (oder zumindest zu dessem Anschein) führen.

Die Befürchtung: Wenn jeder nur noch auf der Website seines Anglervereins verweilt, statt die FAZ von vorn bis hinten zu lesen, zerfällt die Gesellschaft. Oder: Wenn sich jeder nur noch auf radikalen Blogs am kollektiven Schulterklopfen beteiligt, statt sich über Massenmedien allgemein zu informieren, zerfällt, zersplittert, die Gesellschaft.

Studien, wie die, die Benkler in seinem Buch zitiert, scheinen die letztgenannten Befürchtungen bereits vor 2006 widerlegt zu haben. Das Abschotten scheint eher ein Randphänomen statt ein systemweites zu sein.

Was die Anglervereinshypothese angeht: Informationen und Diskurse besitzen eine unterschiedlich hohe Interessanz für den einzelnen. Je interessanter oder relevanter etwas erscheint, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Information über Gruppen hinweg verteilt werden, die unter Umständen mit dieser Art von Information oder Diskurs gar nichts oder nur wenig zu tun haben.

Der Unterschied zum Fortpflanzen des Diskurses im Web zum selbigen Vorgang im Massenmedienzeitalter ist folgender:

Im Web entscheiden die Einzelpersonen zunehmend selbst, ob sie die Nachricht für verbreitenswert halten. Im Massenmedienzeitalter entscheidet der an der Spitze der internen Hierarchie stehende Redakteur.

Die Trennung von Produktion und Distribution: Das heißt, statt einer Entscheidung einer Einzelperson oder einer kleinen Gruppe, oder mehrerer kleiner Gruppen, die sich gegenseitig beeinflussen (die Redaktionen der überregionalen Tageszeitungen etwa), entscheidet eine sehr viel größere Masse an Menschen für jeden Artikel, jede Information und jeden Diskurs auf’s neue, ob er relevant für sie ist oder nicht, und ob sie ihn verbreiten wollen oder nicht.

Die Folge: Die Verteilung der Diskurse nähert sich den tatsächlichen Interessen der Bürger an. Nicht zuletzt, weil die Verbreitung nicht mehr an industrielle Produktionsbedingungen gekoppelt ist.

Ich glaube nicht, dass das in absehbarer Zeit eintreten wird, aber: Eine Konsequenz davon kann, muss aber nicht, natürlich sein, dass die nationale Schicksalsgesellschaft nicht die Interessen der Bürger widerspiegelt. Ein deutscher Schauspieler hat immerhin mehr mit einem französischen oder einem russischen Schauspieler gemein als mit einem deutschen Bauarbeiter.

Sollte also die Verschiebung der Diskursbasis langfristig unsere Gesellschaftsstrukturen so maßgeblich unterwandern, dass Nationalstaaten in ihrer heutigen westlichen Form nicht mehr funktionsfähig sind, dann wäre das keine Folge isolierter Gruppenbildung.

Das Gegenteil ist der Fall. Die Auflösung der Isolation:

Wenn dieser Fall eintreten sollte, dann wäre das vielmehr ein Sichtbarmachen von etwas, das vorher lediglich von den Begrenzungen der Massenmedien zurückgehalten wurde. Die Folge also des Aufhebens eines historischen Zufalles.

Meyer-Lucht hat recht, wenn er meint, dass man sich Texte wie jenen von Bolz nicht mehr zu Gemüte führen muss. Erkenntnisse findet man in ihnen nicht.

Crosspost von neunetz.com.

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