#Björn Höcke

Über „unsere Wurzeln“ reden

von , 13.10.16

„Sankt Wladimir an der Seine“, betitelte die FAZ dieser Tage einen Bericht über den Bau einer orthodoxen Kathedrale in Paris. Die fünf Zwiebeltürme des Baues liegen dort, wo jedes Jahr Millionen Touristen das Seine Ufer bevölkern. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff ist misstrauisch: „In den Augen der russischen Ideologen im Kreml hat Frankreich die christlichen Wurzeln des Abendlandes aus dem Gedächtnis verloren. … Die goldenen Kuppeln mit ihren großen orthodoxen Kreuzen sind eine Botschaft des Kremls an die Franzosen: Seht her, es gibt noch ein Land in Europa, das die Treue zur Tradition, zu christlichen Werten, zur Familie hoch hält, mit einer Kirche, die dem Staat verbunden und sehr patriotisch ist. Wir signalisieren euch: Eine andere Politik ist auch möglich, die russische Politik.“ Bezahlt wurden Kathedrale und Begegnungszentrum vom russischen Staat, eingefädelt wurde das damalige Vorhaben von Nikolas Sarkosy, gefeiert wird es von der Anhängerschaft Le Pens und abgelehnt von den Sozialisten der Stadt.

Der Kölner Dom und der in Straßburg, der Berliner Dom sowie viele andere Gebäude mit sakraler Funktion – sie sind für einen großen Teil der Bevölkerung zu bloßen Denkmälern geworden. Steinerne Zeugnisse einer untergegangenen beziehungsweise im Untergang begriffenen Kultur. Vom geistigen Führungsanspruch der katholischen Kirche ist bei einem Besuch des Kölner Doms wenig zu spüren. Eigentlich fehlt nur noch der Coffee to go aus Hand eines rotgewandeten Kirchenhüters, eines „Schweizers“ wie man früher sagte, damit die Besucher hochzufrieden sind. Für die Erbauer der fünf Zwiebeltürme sind diese freilich Zeugnisse eines weitreichenden Auftrages, nämlich eines Herrschaftsanspruchs.

Wir müssen über die „Treue zu Traditionen und christlichen Werten“ reden, über das, was bei uns in Deutschland christlich-jüdische Kultur genannt wird, über die immer wieder erwähnten gemeinsamen jüdisch-christlichen Traditionen, also über Abendland, über unsere „Wurzeln“ in Europa. Wir müssen das tun, weil die Debatte über diese Dinge ihren quasi „unschuldigen“ Charakter verloren hat.

Irgendwie war es nett, führende Persönlichkeiten über eine leitende christlich-jüdische Kultur sprechen zu hören; irgendwie war das wie Johanniskrauttee trinken: Der beruhigt, besänftigt, tut gut, aber gegen Zellwucherungen, hilft er, der Tee, trotz gegenteiliger Behauptungen nicht.

Bis vor einiger Zeit war es bei uns so: Die einen propagierten eine gemeinsame abendländische, christlich-jüdische Kultur, hielten sich aber mit der Ausdifferenzierung dessen, was sie meinten zurück. Die Art und Weise des Denkens sei mit Athen verbunden, die Gottesvorstellung mit Jerusalem, die Grundlagen unseres Rechts in Rom gelegt worden. Das ist richtig und flüchtig zugleich – wie der Rauch über einem herbstlichen Kartoffelfeuer. Die anderen hielten sich meist ebenfalls zurück, weil sie wussten, dass es diese gemeinsame Kultur bei genauem Hinschauen zwar nicht gab, eine wahrheitssuchende Debatte aber heillos werden könnte.

Das Menschenbild des Grundgesetzes mit dem ihm innewohnenden universellen Versprechen (vor allem) in Artikel 1 ist eben nicht genuin christlich-jüdisch. Dieses Menschenbild ist während und auch aus den Auseinandersetzungen mit den christlichen Glaubensrichtungen entstanden, als das Christentum auf der Seite der gottgewollten Herrscher, der Kaiser und Könige stand. Aber ohne diese Auseinandersetzungen gäbe es dieses Menschenbild nicht. Dessen „Abstammung“ freilich einfach ins Christliche zu verlegen, das ist mehr als gewagt. Noch in der bahnbrechenden Enzyklika Leos Xlll. „Rerum novarum“ von 1891 wird die allgemeine Gleichheit der Menschen, Grundlage unserer Menschen- und Bürgerrechte abgelehnt.

Die Juden waren für die meisten „führenden“ Theologen über viele Jahrhunderte, eigentlich ab dem 5. Jahrhundert, die „falschen Brüder. Die heutige Einstellung der Mehrheitschristen, dass die Juden ihre ältesten Brüder sind, die ist ziemlich jungen Datums. Es ist schon so, wie der französische Althistoriker Paul Veyne schrieb: „Der Antijudaismus beruht bis heute auf einem Mechanismus, der auf das zurückgeht, was man primitive Mentalität oder Dummheit nennen kann.“. Angesichts dieses Sachverhalts „gemeinsame Traditionen“, Wurzeln zu unterstellen, das ist sehr gewagt.

Nun ist ja die Geschichte bekanntlich listig bis „fies“ hinterlistig. Beim Austausch der Standpunkte zwischen Jürgen Habermas und dem damaligen Kardinal Ratzinger war das greifbar: Der Kampf um die Wort und die Schrift, Debatten und Beschlüsse sind das eine. Was liegt hinter denen? Da müsse es doch hinter den Artikeln und universellen Setzungen noch etwas geben. Wie sicher sind unsere universellen Dinge, wenn sie am Ende doch davon abhängen, dass die Menschen und Mehrheiten rational handeln und davor gefeit sind, nicht völlig durchzudrehen? Wie rasch es geht, die Menschenrechte ohne Federlesens zu suspendieren, das wissen die Deutschen aus der Nazizeit mit am besten.

Das ist meine Vorgeschichte, über die einige schmunzeln, andere sich ärgern werden. Nun beginnt aber die Geschichte über „unsere wahren Wurzeln“ anders zu ticken.

 

Eine europaweite rechte Bewegung, die sich der „Wurzeln“ bemächtigt hat und die später andere für irgendwie heimatlos, für eine Art „Spreu“ erklären würde, die vom Weizen unterschieden, getrennt werden müsse, wäre eine echte Bedrohung.

 

Auf der Seite derjenigen, die unentwegt über die christlich-europäischen Wurzeln reden, ragen Leute hervor, denen ich nicht mehr traue. Beziehungsweise, denen ich zutraue, langsam, sicher unstetig aber zielbewusst die Bürgerrechte einzuschränken und zwar gegründet auf von ihnen propagierten Wurzeln und Traditionen, die keiner wahrhaftigen Prüfung standhalten. Wladimir Putin zähle ich zu denen, die so handeln werden. Dem Chef in Ungarn kann man nicht über den Weg trauen. In den sogenannten Visegrad Staaten, neben Ungarn Tschechien, Slowakei und Polen, sind ähnliche Töne zu hören. Und wenn die CSU- Führung fordert, Flüchtigen aus dem christlich- abendländischen Raum die Tür aufzuhalten und anderen aus anderen Kulturkreisen von Fall zu Fall die Einreise nach Deutschland zu gestatten, zeigt dass: Da hat etwas gezündet.

In Frankreichs Rechtsaußen-Bewegung um Frau Le Pen spielt die Wurzel-„Konservierung“ eine enorme Rolle, in Österreichs rechter Bewegung ebenfalls, in Italien und in den Niederlanden. Natürlich auch in der Partei des Herrn Höcke, der mit tremolierender Stimme vor dem Magdeburger Dom vom 1000-jährigen Reich der Deutschen phantasiert.

Zu den „alten Kameraden“, die sich da einfinden gehört – natürlich – auch der Nationalismus. Es ist, als ob ein Drache aus seinem Schlaf geweckt worden sei. Den Kirchen selber ist dies alles zutiefst suspekt, verdächtig, unangenehm. Sie spüren vielleicht am ehesten, dass der in der Aufklärung durch viele Kämpfe gewonnene „historische Kompromiss“ mit dem sie und die säkularen Gesellschaften leben, in Gefahr gerät.

Was sich jetzt abspielt, das ist etwas anderes als das bloße deutsche Gerede über eine Leitkultur, gedacht, um eine ideologische Gegenposition gegen einen Islam aufzubauen, dem zugetraut wird, in der Zuwanderung einen andersgearteten ethisch-politischen Anspruch an Europa zu verstecken, als den der Gleichheit und Gleichberechtigung, der Dominanz der Demokratie gegenüber Religiösem und den der kulturellen Vielfalt. Darüber reden war das eine. Die Aktion, gut vernetzt und übernational angelegt, die begonnen hat, ist etwas anderes.

Man kann Furcht hier für übertrieben halten. Aber da Europa kein Kontinent ist wie Australien oder Amerika, sich einen Teil seiner Identität nicht aus der Geographie holen kann, sondern im Wesentlichen aus der Kultur, muss man hier aufpassen. Wir haben nämlich nichts anderes als unsere in der Vergangenheit vielfach gebrochene Kultur mit ihren entsetzlichen Kriegen, Verbrechern und Verfehlungen, aber auch mit den grandiosen Vorbildern aus Politik, Kirchen, Kunst, Forschung und Publizist. Das ist unsere Prägung. Diese Prägung hat den Aufstieg Europas zu einer Friedenskraft möglich gemacht. Die vielfach gebrochene Kultur war dabei Triebkraft für ein Versprechen, es künftig besser zu machen.

Eine europaweite rechte Bewegung, die sich der „Wurzeln“ bemächtigt hat und die später andere für irgendwie heimatlos, für eine Art „Spreu“ erklären würde, die vom Weizen unterschieden, getrennt werden müsse, wäre eine echte Bedrohung. Sehen wir uns vor. Es kommen Zeiten auf uns zu, die uns mehr abverlangen werden als die Bürgerpflicht der Ruhe.

 


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