Über Ostdeutschland reden ist so notwendig wie nervig: Sechs subjektive Anfänge

Im Osten wird deutlich, wie weitsichtig und richtig Adenauers Westbindung war. Denn im Westen ist das volksdeutsche Phantasma, dem man in Dresden oder irgendwelchen Rittergütern so hinterher trauert, tatsächlich marginalisiert worden und die Anzahl derer, die deutsche Romantik westlicher Weltzugewandtheit vorziehen, spürbar geringer.

von , 29.8.19

In drei ostdeutschen Ländern stehen Landtagswahlen kurz bevor – und überall zeichnet sich ab, dass eine völkisch-rechtsradikale Gruppierung stärkste Kraft werden dürfte. Obwohl es eigentlich Unsinn ist, pauschal über »den Osten« zu sprechen, obwohl, wenn man eine Wahlbeteiligung von etwa 50 Prozent zugrunde legt, nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung tatsächlich rechts wählen, könnte dieser Wahltermin ein Beben durch die politische Landschaft gehen lassen, das kaum an der Bundespolitik vorbei gehen dürfte. So ist kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls eine erneute Debatte über ostdeutsche Identität, die Anerkennung ostdeutscher Biographien und die Abwicklung der DDR-Wirtschaft, kurz, über die Befindlichkeit des deutschen Ostens entbrannt. Eine Debatte, die Ratlosigkeit hinterlässt. Wie soll ein politischer Diskurs mit völkischen Positionen möglich sein? Warum fühlt sich ausgerechnet das Bürgertum am Dresdner Elbhang in seiner Existenz bedroht? Lehrt ein Blick nach Osteuropa, in die dort früher ebenfalls relativ geschlossenen Gesellschaften, dass Migration gesellschaftlich gelernt werden muss? Das Narrativ von der mehr oder weniger schmerzhaften Transformation vom gescheiterten Kleinbürgersozialismus in den sich beschleunigt globalisierenden Kapitalismus auf der einen und deutschnationalem Gegröle auf der anderen Seite genügt als Erklärung kaum. Darum soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, Geschichte und Gegenwart seit der Wende aus verschiedenen, durchaus subjektiven Aspekten zu beleuchten. 

Die ökonomische Sicht
Sie sollte an erster Stelle stehen, nicht nur, weil es vielen Autorinnen zufolge die bis heute bestehenden ökonomischen Unterschiede sind, die den Frust immer weiter wachsen ließen. Es waren vor allem die schnelle Einführung der D-Mark und die Politik der Treuhand, die mehr als Sachwalter westdeutscher Konzerne als zu treuen Händen ostdeutscher Beschäftigter agierte, die für Massenarbeitslosigkeit und bis heute fehlende ökonomische Perspektiven in ganzen Landstrichen verantwortlich waren. Hinzu kommt, was häufig vergessen wird, dass die Zeiten industriellen Wachstums 1989 auch im Westen vorüber waren. Die automatische Fabrik war schon in Sichtweite, Deregulierung und Flexibilisierung bereits beliebte Vokabeln in Politik und Management. Und es gibt heute die verbreitete These vom Aufstieg der Rechten, der durch diese Politik des so genannten Neoliberalismus erst ausgelöst worden sei. 

Der europäische Blick
Aus der Perspektive ehemaliger »sozialistischer Bruderstaaten« hat es der deutsche Osten ungleich besser getroffen. Die Volkswirtschaften in Polen oder Ungarn traf der Umbruch weitaus härter als die ehemalige DDR, die im Vergleich dann eben doch sanft aufgefangen wurde. Aus europäischer Sicht erscheint die deutsche Diskussion fast ignorant: Immerhin war der Euro eine Folge der deutschen Einheit, unter dessen Konstruktion als Kopie der D-Mark die Südeuropäer bis heute zu leiden haben. Dass sie zum Dank von deutschen Rechtsreaktionären als faul beschimpft werden, höhnt jeder Idee europäischer Solidarität.  

Die gesamtdeutsche Perspektive
Es wachse zusammen, was zusammen gehöre, soll Willy Brandt gesagt haben. Davon abgesehen, dass die Geschichte des deutschsprachigen Raums keinerlei Zwangsläufigkeit für staatliche Einheit erkennen lässt, hilft es nix: Deutschland ist heute das größte Land der EU und als solches mehr Teil ihrer Probleme als Teil einer Lösung. Es ist das alte Dilemma: Das Land ist zu klein (und in seinem Nationalgefüge zu hysterisch), um international wirklich Gewicht zu haben, andererseits aber im Konzert europäischer Mächte zu groß, um in Europa nicht dominant zu werden. 

Die »Wessi«-Perspektive
Dass der Osten nervt, wäre deutlich zu nett. Nicht etwa wegen des Solidaritätszuschlags und des »ausbleibenden Danks«, der angeblich ewigen Jammerei oder ähnlichem Unfug. Sondern wegen der Rückkehr von Deutsch- und Heimattümelei in die Gesamtgesellschaft. Im Osten wird deutlich, wie weitsichtig und richtig Adenauers Westbindung war. Denn im Westen ist das volksdeutsche Phantasma, dem man in Dresden oder irgendwelchen Rittergütern so hinterher trauert, tatsächlich marginalisiert worden und die Anzahl derer, die deutsche Romantik westlicher Weltzugewandtheit vorziehen, spürbar geringer. Demgegenüber sind die Anrufungen des deutschen Volkes, der heimischen Scholle und eines fiktiven »Wir« im Osten deutlich häufiger.

Ein empathischer Versuch
Nicht in Erfurt, Leipzig, Dresden, Rostock oder den anderen mehr oder weniger boomenden Regionen, wo auf den ersten Blick kein großer Unterschied zu Ulm oder Münster erkennbar ist. Aber etwa in Brandenburg an der Havel drängt sich beim Anblick afrikanischer Geflüchteter in der Stadt doch der Eindruck auf, dass hier etwas schief läuft. Denn hier treffen verwundete Menschen auf eine verwundete Gesellschaft in einer verwundeten Stadt. Das rechtfertigt in gar keiner Weise die vielfach anzutreffende rassistische Grundstimmung. Aber vielleicht fällt es einer Gesellschaft leichter, Andersartigkeit und die Verletzungen anderer Menschen aufzufangen, wenn sie nicht selbst von Spannungen durchzogen ist, die Transformationen nun einmal hervorrufen. Andererseits: Die Geschichte der Moderne ist eine einzige Transformation. 

Ein Blick in die Zukunft
Scheint leider wenig Gutes bereit zu halten. Es ist nicht zu erwarten, dass der völkisch-rassistische Grundton verschwinden wird. Im Gegenteil: Bernd Höcke und Spießgesellen wähnen sich im Aufwind, schließlich haben sie Verbündete bis ins Weiße Haus. Wahrscheinlich ist aber etwas anderes: Eine sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft, kürzlich von Claus Leggewie entlang der Achse Grüne-AFD beschrieben. Damit stünde der humanistisch-demokratisch gesinnte Teil der Gesellschaft jenen gegenüber, die sich in eine postfaktische Traumwelt flüchten. Das scheint leider von den USA bis Polen die Perspektive der so genannten westlichen Wertegemeinschaft zu sein. Einzige Hoffnung ist wiederum, dass die rechten Horrorclowns letztlich überall nur von einer Minderheit von etwa 20 Prozent gewählt werden. Der Erhalt der Zivilgesellschaft hängt mithin von allen ab, die sich dem postfaktisch-nationalen Blödsinn nicht angeschlossen haben. 

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