von Daniel Gruschke, 15.11.12
Data is money und Big Data ist sehr, sehr viel Geld. Welche Blogs wir lesen, was wir bei Amazon ansehen oder einkaufen, wie alt wir sind, welches Geschlecht wir haben, wie lange wir uns wann vor einem Schaufenster aufhalten, zu welcher Tageszeit wir gewöhnlich wie viel Geld in welchem Drogeriemarkt ausgeben – dank Internet-Nutzung, stets empfangsbereitem Mobiltelefon, Kundenkarte usw. ziehen wir alle eine endlose Datenspur hinter uns her, mit deren Hilfe sich diese (und andere) Fragen ohne größeren Aufwand beantworten lassen. Vorausgesetzt natürlich, man verfügt über hinreichend große Datensätze und die nötige Ausrüstung, um sie auszuwerten – was bekanntlich kein Problem mehr darstellt: Datensätze kann man kaufen, die nötige Mining-Software ebenso, und für die ermittelten Korrelationen, die sich zu Verhaltensprofilen von einzelnen Individuen oder auch ganzen Personen-Gruppen verdichten lassen, interessiert sich so manches Unternehmen. (Wer sich dazu einlesen möchte, dem sei das Buch Die Datenfresser von Constanze Kurz und Frank Rieger empfohlen.)
Eine bedenkliche Mischung
Fast unbegrenzte Datenmengen, immer bessere Software, immer größere Rechenleistung, immer mehr Geld. Dieser Mix ist fatal. Wenn daher – wie Anfang Oktober gemeldet wurde – der spanische Telekommunikationskonzern Telefónica, in Deutschland als O2 präsent, den Plan gefasst hat, die Bewegungsdaten seiner Kunden (genauer: ihrer Mobiltelefone) weiterzuverkaufen, dann überrascht das nicht wirklich. Man fragt sich vielmehr, warum man Derartiges nicht wesentlich öfter liest. Wie lange bist du vor der Auslage eines Geschäfts stehen geblieben, aus welcher Richtung kamst du, wie alt bist du, welches Geschlecht hast du, etc.? Verständlicherweise wüssten diverse Einzelhandelskette darüber gerne Genaueres. Telefónica hat deshalb eine neue Sparte mit dem vielsagenden Namen “Dynamic Insights” ins Leben gerufen. Die Erprobungsphase in Großbritannien läuft bereits. (In Deutschland haben die zuständigen Ministerien zwischenzeitlich darauf hingewiesen, dass der Verkauf von Standortdaten für derartige Zwecke verboten sei – und dies EU-rechtlich auch für andere Mitgliedsstaaten der Union gelte.)
Telefónicas Idee hat einiges Aufsehen erregt, nicht zuletzt bei Datenschützern. Eine Netz-Community hat sich dazu aber bislang erstaunlicherweise nicht geäußert, zumindest nicht auf ihrem zentralen Blog, nämlich die sogenannte/selbsternannte “datenschutzkritische post-privacy Spackeria”. Das Entsetzen aller Datenschutzbewegten wäre für die Spackeria eigentlich eine Steilvorlage gewesen. Ihre Grundthese lautet ja, dass der Schutz der Privatsphäre im Allgemeinen und Datenschutz im Besonderen unter Bedingungen des digitalen Zeitalters weder möglich noch wünschenswert ist. Dementsprechend fällt auch die Sympathie aus, die Spackos und Spackessen allen Bemühungen um Datenschutz & Co. entgegenbringen.
Wieviel Privatsphäre wird uns gewährt?
Natürlich ist die Spackeria kein deutsches Eigengewächs. Begonnen haben Privatsphärenkritik und Datenschutzskepsis, wie so vieles, in den USA. Dort haben bspw. feministische Intellektuelle wie Catherine MacKinnon in den 80er Jahren die Institution Privacy kritisiert (Toward a Feminist Theory of the State, Cambridge/Mass. 1989): Die Abgrenzung des Privaten als eines Raums, der den Blicken der Öffentlichkeit entzogen ist, schaffe eine Sphäre, in der Frauen und Kinder der von Ehemännern und Vätern ausgehenden Gewalt ausgeliefert seien. Häusliche Angelegenheiten als Angelegenheiten im privaten Raum seien dem Blick der Öffentlichkeit entzogen; Interventionen zum Schutz der Opfer würden dadurch erschwert oder ganz unmöglich. Obwohl als Zone individueller Freiheit gedacht, markiere “Privacy” für Frauen einen Raum der Unfreiheit und des Ausgeliefertseins, der männliche Gewalt und die darauf gestützte Herrschaft über Frauen zementiere sowie mit dem Anstrich der Legitimation versehe.
1998 erschien von David Brin – einigen vielleicht als Science-Fiction-Autor bekannt – The Transparent Society, eine mit 378 Seiten etwas überdimensionierte Prognose des Inhalts, dass immer billiger werdende und immer einfacher zu handhabende Überwachungstechnologien naturgemäß darauf hinauslaufen, nicht nur Regierungen das Ausspähen zu erleichtern, sondern Überwachung sozusagen zu “demokratisieren”. Was aus technischen und finanziellen Gründen einst dem Staatsapparat vorbehalten war, wird nun ein Werkzeug in den Händen von Bürgern, und zwar mit dem Ergebnis, dass unsere Privatsphäre in bisher nicht gekanntem Ausmaß erodiert. Da Brin Privatsphäre innerhalb bestimmter Grenzen als schützenswert ansieht, schwebt ihm zur Abwehr der Gefahren, die mit der Aushöhlung von Privatsphäre einhergehen, eine Art Gleichgewicht des Schreckens vor: Wir Bürger müssen in die Lage versetzt werden, die Überwacher zu überwachen, damit Fehlverhalten, etwa seitens der Regierung, möglichst zeitnah aufgedeckt werden und von einer kritischen Öffentlichkeit sanktioniert werden kann.
Dass ein Wettrüsten zwischen Bürgern vermutlich allem eher dient, als dem Schutz eines letzten Rests von Privatsphäre, und dass die Annahme, Regierungen wären ernstlich geneigt, ihren Bürgern Waffengleichheit zu gewähren, ins Reich der Netz-Mythen gehört, bedarf wohl keiner Erläuterung. Zwei Dinge sollte man sich aber zu Brin notieren: Zum einen gab es, als Brin The Transparent Society schrieb, weder Google noch Facebook (Google trat unter diesem Namen erst im Jahr der Publikation von Brins Buch ans Licht der Öffentlichkeit). Das Problem, zu dem sich unsere heutigen Datenschleudern ausgewachsen haben, zeichnete sich damals bestenfalls umrisshaft ab. Zum anderen ist Brins These zunächst bloß deskriptiv gemeint: Privatsphäre wird erodieren – wie auch immer man dazu steht. Brins Prognose ist Privacy-skeptisch, aber nicht Privacy-ablehnend.
Ist Datenschutz Unfug?
Die Spackeria jedoch geht, wie es scheint, über einen bloßen Zweifel daran, dass der erreichte Schutz unserer Privatsphäre auch im Internet-Zeitalter aufrechterhalten werden kann, einen Schritt hinaus. Nach ihr sind Datenschutz und Privatsphäre de facto passé. Das Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen – und jeder Versuch in diese Richtung hätte lediglich Kontrolle und Überwachung etwa durch Datenschutzbehörden in einem Ausmaß zur Folge, das unserer Freiheit ganz bestimmt nicht zuträglich ist und überdies die Vorteile verspielt, die das offene Netz mit sich bringt.
Allerdings ist aus Sicht der Spackeria dieser Zug nicht einfach nur unwiderruflich abgefahren; es wäre auch gar nicht wünschenswert, ihn aufzuhalten. Die freie Verfügbarkeit von personenbezogenen Daten habe nämlich auch ihr Gutes: Man denke nur an die Möglichkeiten, die sich beispielsweise für medizinische Forschung auftun, wenn alle Krankendaten frei im Netz verfügbar wären. Oder wie leicht sich Vorurteile entkräften ließen, wenn jeder jederzeit alles über jeden anderen wüsste. Mehr noch: Eine Gesellschaft, welche die Hemmungen und Tabus des Privaten abgelegt hat, wäre nicht nur freier und transparenter, sondern wohl auch toleranter und solidarischer. Egal, was ich bin oder habe, ich bin damit nicht allein.
Sobald ich mit “meiner” Besonderheit nicht mehr hinterm Berg halte, finde ich im Netz die für mich passende Gemeinschaft von Menschen. Wenn erst einmal alles offen daliegt, wird uns nichts Menschliches mehr fremd sein. Auch wenn wir die Besonderheiten der anderen nicht teilen mögen: Wenn wir sehen, dass sie zwar anders sind, aber doch nicht “so” anders, wie wir in der Beschränktheit unseres Un- oder Halbwissens gedacht hatten, so werden wir sie doch zumindest nicht mehr ablehnen. Offenheit und Sichtbarkeit sind der erste Schritt auf dem Weg zu gesellschaftlichen Veränderungen – man denke etwa an die Schwulen-Bewegung. Genau besehen, hat das Pochen auf Privatsphäre zu Abkapselung und Isolation geführt, Halbwissen und Vorurteilen Vorschub geleistet, durch Unsichtbarkeit und Verborgenheit hinter den dicken Samtvorhängen von Privacy so manch zweifelhaftes Tun erst ermöglicht – z.B. häusliche Gewalt – und schließlich offene gesellschaftliche Debatten bzw. politische Initiativen behindert.
So oder so ähnlich jedenfalls argumentiert bspw. Christian Heller in seinem Buch Post-Privacy – Prima leben ohne Privatsphäre (München 2011). Jeff Jarvis, dessen Public Parts gerade unter dem Titel Mehr Transparenz wagen! auf Deutsch erschienen ist, schlägt in dieselbe Kerbe und provoziert damit bei Internetskeptikern wie Evgeny Morozov mit persönlichen Beleidigungen gespickte publizistische Wutausbrüche (mehr dazu hier).
Die Spackeria vertritt also, kurz gesagt, nicht nur die deskriptive These, dass Datenschutz & Co. unwiederbringlich dahin sind, sondern auch die evaluative These, dass deren Ableben überdies wünschenswert ist. (Christian Heller selbst scheint darüber hinaus der Ansicht zu sein, dass wir angesichts des unabwendbaren Exitus’ der Privatsphäre auch davon absehen sollten, Versuche zum Schutz unserer Privatsphäre zu unternehmen, und statt dessen gut daran täten, uns in “Post-Privacy-Taktiken” zu üben. Er selbst geht dabei mit gutem (?) Beispiel voran: Sein Tagesablauf und Terminkalender sind online einsehbar.)
Gute Post-Privacy gegen schlechte Privatsphäre?
Der Streit zwischen Privacy- und Post-Privacy-Anhängern dreht sich primär um die Frage, ob das Internet-induzierte Ende der Privatsphäre nun erfreuliche oder unerfreuliche Folgen zeitigen wird, ob die involvierten Technologien, platt gesagt, also nun “gut” sind oder “schlecht”. Genauer gesagt, kreist die Auseinandersetzung um die Frage, welche Szenarien realistisch sind, mit welchen Chancen und Risiken sie einhergehen, und wie sie unter Abwägung aller Gesichtspunkte zu bewerten wären.
Diese Frage ist zunächst eine empirische (und auch philosophisch nicht sonderlich interessant). Was die Zukunft bringen wird, wissen wir nicht. Allerdings ist nicht ersichtlich, dass plötzlich eine neue Zeit angebrochen wäre, in der zwei Lehren der Technikgeschichte nicht mehr gelten würden: Alles, was schiefgehen kann, geht irgendwann schief – und alles, was sich zu sinistren Zwecken missbrauchen lässt, wird irgendwann auch dafür herhalten.
Man würde von der Spackeria im Allgemeinen und von Jeff Jarvis im Besonderen gerne erfahren, warum sie denken, dass es sich mit netzbasierter Datenschleuderei anders verhalten wird. Der bloße Verweis auf den eigenen privatreligiösen Glauben an das Gute im Menschen ist dafür etwas dürftig – und mit Blick auf die Geschichte auch wenig überzeugend. Dass uns schon nichts passieren wird, wenn wir das Unausweichliche nur enthusiastisch umarmen, erinnert ein wenig an Prentice Mulfords Überzeugung, wenn wir nur positiv genug dächten, dann bräuchten wir weder zu altern noch zu sterben. (Mulford ist übrigens auch gestorben.) Dass das Ende der Privatsphäte Gutes bringen kann, ist sicher richtig; dass das Ende der Privatsphäre Schlechtes bringen kann, allerdings wohl auch.
Philosophisch wenig interessant – und wenig plausibel – sind, am Rande bemerkt, auch die spackeristischen Hintergrundannahmen über die Natur von Vorurteilen, die dem Glauben der Spackos und Spackessen über die vorurteilsbeseitigende Kraft von “Transparenz” zugrunde liegen. Im Allgemeinen sind Vorurteile eben nicht bloß falsche Überzeugungen, die nach Erhalt von zusätzlichen Informationen korrigiert werden. Vorurteile knüpfen nämlich an echte oder angebliche Eigenschaften ihres Gegenstands Werturteile. Diese führen bisweilen ein seltsames Eigenleben und erweisen sich manchmal auch als völlig informationsimmun: Antisemiten und Schwulenhasser lassen sich für gewöhnlich durch keine Statistik der Welt von ihren Ansichten abbringen. Vorurteile spielen im System der Sätze, die jemand als wahr akzeptiert, eine herausgehobene Rolle: Sie strukturieren und tragen das eigene Weltbild – und sie orientieren das Handeln. Eher wird deshalb eine Anomalie ignoriert bzw. solange uminterpretiert, bis sie zu den Axiomen des eigenen Überzeugungssystems passt, als dass diese angetastet werden würden. Im System unserer Überzeugungen sind einige Sätze eben gleicher als andere. Im Konfliktfall wird eher der Bauer geopfert als die Dame. (Vergleichbare Phänomene sind auch aus der Wissenschaftstheorie bekannt.)
Ein Denkfehler
Die philosophisch zentrale Frage wird, wie ich meine, durch die evaluative Seite des Streits angedeutet – wie also die Chancen und Risiken im Verhältnis zueinander zu Gewichten sind. Dieser Punkt ist nicht deshalb philosophisch interessant, weil Philosophen Experten für Wert-Fragen wären. Er ist philosophisch interessant, weil er den fundamentalen Konstruktionsfehler der Debatte ans Licht hebt: Die Rede von positiven und negativen Folgen des Endes der Privatsphäre tut so, als wäre die Angelegenheit nur eine Kosten-Nutzen-Rechnung.
Tatsächlich geht es bei “Privacy” aber um individuelle Rechte. Unsere Wohnung ist Teil unserer Privatsphäre, d.h., wir dürfen selbst darüber entscheiden, wer zu ihr Zutritt hat. Unser Beziehungsleben ist privat, weil sich andere hier nicht einzumischen haben, es sei denn, sie wurden von uns dazu eingeladen: Mit wem wir Freundschaften eingehen und pflege,n ist allein unsere Sache. Unsere persönlichen Daten – vom Tagebucheintrag über unseren Kontostand bis hin zu unserer Krankenakte – sind privat, weil niemand dazu legitimiert ist, sie ohne unsere Erlaubnis an sich zu bringen, zu verarbeiten, weiterzugeben etc. Die gemeinsame Idee hinter lokaler, dezisionaler und informationeller Privatheit besteht darin, dass es einen Kernbereich des Persönlichen gibt, den zu kontrollieren der Einzelne ein ausschließliches Recht hat, und der, salopp gesagt, niemand anderes legitimes Anliegen ist bzw. sein kann. Es geht um das Recht, diesen Bereich und den Zutritt dazu zu kontrollieren (de jure-Kontrolle), nicht darum, dass wir diesen Bereich auch immer de facto kontrollieren (können).
Das Recht auf Privatsphäre ist somit gar nichts Geheimnisvolles und übrigens auch nichts Belangloses, sondern nichts anderes als eine Manifestation des grundlegenden Rechts jedes Menschen, über zentrale Aspekte des eigenen Lebens selbst entscheiden zu dürfen. (Wer sich in die Philosophie des Privaten einlesen möchte, sei auf Beate Rösslers Der Wert des Privaten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, verwiesen.)
Wenn man es also bei der Frage, wie die Aushöhlung der Privatsphäre zu beurteilen ist, mit fundamentalen Rechten von Individuen zu tun hat, dann verbieten sich bloße Folgen-Überlegungen in Gestalt von Kosten-Nutzen-Rechnungen. Im Allgemeinen akzeptieren wir nämlich nicht, dass jemandes Recht auf Leben / körperliche Unversehrtheit / Redefreiheit / freies Kunstschaffen etc. mit der Begründung verletzt wird, dies habe aber erfreuliche Konsequenzen – wenn auch vielleicht nicht für den Betroffenen selbst. Rechte können nur durch mindestens gleichrangige Rechte anderer begründet eingeschränkt werden.
Der Streit zwischen Privacy- und Post-Privacy sollte sich also nicht um “Transparenz”, krude Menschenbilder und Prophezeiungen über schöne und unschöne Eigenschaften der – angeblich heraufziehenden – Post-Privacy-Welt drehen, sondern um die Frage, wie diese mit Blick auf unsere fundamentalen Rechte zu bewerten wären – d.h. also, um die Frage, ob wir fundamentale Rechte auch im Angesicht der (vermeintlichen) Wunderwelt des Internets ernst nehmen wollen und ggf. zu verteidigen bereit sind. Wer sich unter die Post-Privacy-Jünger einreihen möchte, sollte darauf eine überzeugende Antwort haben. Andernfalls läuft er Gefahr, sich zum nützlichen Idioten für Unternehmen zu machen, deren Geschäftsmodell auf der systematischen Verletzung des Rechts auf (informationelle) Selbstbestimmung basiert.
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