#Masse

Tyrannei der Masse 2.0?

von , 2.11.09

Das Selbstbild der Web-2.0-Massen: Klug, unbestechlich, investigativ, der Wahrheit verpflichtet. Alles klassische Attribute der vierten Gewalt. Diese vierte Gewalt wird nun von einer fünften Gewalt angegangen, der schieren kritischen Masse. An die Stelle eines Sturmgeschützes der Demokratie tritt ein demokratischer Volkssturm. Pressefreiheit ist nicht mehr nur die »Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten« – Pressefreiheit und Redefreiheit sind nicht mehr nur theoretisch, sondern auch praktisch eins.

Ohne Zweifel: Die Ausbreitung des Web 2.0 ist ein demokratisierender Prozess par excellence. Privilegien werden immer mehr aufgebrochen. Politik als Herrschaftswissen wird untergraben, Wissen dezentralisiert, Meinungsmacht verteilt. So wie die freie Presse das Informationsmonopol der Regierenden aufgebrochen hat, so bricht das Web 2.0 das Informationsmonopol der Presse auf.

Mit jeder Demokratisierung geht (scheinbar?) immer auch eine Gefahr der Vulgarisierung einher. »Demokratie« war bei Aristoteles kein Ideal, sondern die schlechte Variante der Herrschaft aller. Die positive Form der Herrschaft aller nennt er Politie; Polybios nennt später die positive Form Demokratie, die negative Ochlokratie, Herrschaft des Pöbels.

Die Massen des Web 2.0 haben daher auch eine Kehrseite; eine Kehrseite, die in der Geistesgeschichte noch jede Theorie der Masse festgestellt hat; eine Kehrseite, die Karl Valentin kurz zusammengefaßt hat: “Der Mensch is guad, de Leit’ san schlecht!” Mit der Masse einher geht immer die Gefahr einer Tyrannei der Masse, die ihrer Natur nach viel schlechter zu fassen, viel schlechter zu beschränken ist als die Tyrannei eines Despoten. In seiner Einleitung zu »On Liberty« schreibt John Stuart Mill:

[W]hen society is itself the tyrant – society collectively, over the separate individuals who compose it – its means of tyrannizing are not restricted to the acts which it may do by the hands of its political functionaries. Society can and does execute its own mandates: and if it issues wrong mandates instead of right, or any mandates at all in things with which it ought not to meddle, it practises a social tyranny more formidable than many kinds of political oppression, since, though not usually upheld by such extreme penalties, it leaves fewer means of escape, penetrating much more deeply into the details of life, and enslaving the soul itself.

Momentan trifft die herrschende Meinung im Web 2.0 gefühlt immer die richtigen: Jack Wolfskin, Homophobie, Jako, Zensursula, Stasi 2.0. Offline treffen die gleichen Mechanismen etwa die verantwortungslosen Blogger, die sich nur für ihre unbeschränkte Freiheit interessieren und für die Verbreitung von Kinderpornographie sind. Stephen Fry schreibt in einem klug abwägenden Essay dazu:

Twitter may seem to some to be dominated by bien pensant, liberal spirits at the moment. Will I be so optimistic about it when these spirits are matched by forces of religiosity and nationalism that might not accord with my chattering-class, liberal elite preferences? When the political machines march in and start recruiting and acquiring millions of followers, giving them the power to close sites with DDOS slashdotting campaigns, what will I say then?

Und das ist das Problem mit diesen Meinungsstürmen: Ihr Mechanismus ist wohlfeile Empörung einer Masse, die sich in gleichgesinnten »information cocoons« und »echo chambers« (Cass Sunstein, Republic 2.0), Resonanzräumen der Empörung, gegenseitig aufschaukeln. Marcel Reich-Ranickis Diktum (oder war es Karl Lagerfeld?) hat uneingeschränkte Geltung zur Legitimierung dieser Empörung: “Natürlich übertreibe ich, aber in die richtige Richtung.”

Das Ergebnis ist ein permanenter Ostrakismos, eine Vernichtung von Personen, die keine Verjährung, keine Vergebung kennt. Es braucht gar keine homogene Mehrheitsmeinung, es reicht, daß sich genügend Menschen für eine machtvolle Minderheitsmeinung zusammenfinden – und das Web 2.0 gibt diesen Menschen die Werkzeuge an die Hand. In den weiten des Netzes finden sich immer genug thymotische angry young men, um eine Kampagne zu starten, findet sich immer jemand, der betroffen ist und diese Betroffenheit in Empörung ummünzt: »All it took though was for one person to decide that it was offensive, and from then on the gusts of proxy outrage keep the thing moving.« Abweichende Meinungen werden nicht argumentativ angegangen, sondern niedergebissen.

Das ist die negative Seite der Macht des Web 2.0, und es wäre wohlfeil, damit jetzt im Web 2.0 den ultimativen Alptraum Mills heraufziehen zu sehen. Tatsächlich ist das aber die Schattenseite, die an jedem neuen Medium überbetont wird, beginnend mit Platons Kritik an der Schriftlichkeit. Gegen eine Demokratisierung von Information steht immer dasselbe alte Ressentiment: Wenn das alle machen würden! Was so isoliert empörend wirkt, ist tatsächlich nur die Waffengleichheit mit BILD und Spiegel.

Twitter is to the public arena what the press itself was two hundred and fifty years ago — a new and potent force in democracy, a thorn in side of the established order of things. (Stephen Fry, ebd.)

Niemand hat gesagt, daß Freiheit einfach wäre.

Dieser Text erschien zuerst bei fxneumann. Crossposting mit freundlicher Genehmigung des Autors und unter CC-BY-SALizenz.

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