von Julius Endert, 8.3.11
Das Wort von der Twitterrevolution wird seit den Aufständen im Iran immer wieder bemüht, wenn es darum geht, Gründe bzw. Anlässe oder auslösende Momente für das plötzliche Aufbegehren der Menschen gegen ihre Regierungen/Herrscher oder Diktatoren zu finden. So richtig gezündet haben diese Theorien bei mir noch nicht und auch die Netzgelehrten streiten darüber, welchen Anteil das Internet an diesen Ereignissen wirklich hat.
Top-Down-Revolution
Vielleicht muss man das Ganze umgekehrt denken. Top-Down, würde man heute ja sagen. Denn gräbt man etwas tiefer in der Soziologie, so finden sich (für mich) überraschende, andere Gedanken, die eine bessere Theorie liefern könnten. Sie besagt, dass die Formen der Machtausübung in den aktuell von Aufständen betroffenen Ländern in einem immer stärkeren Maße nicht mehr auf die (Kommunikations-) Struktur der Gesellschaften passen. Dass es quasi zu einer Inkompatibilität von vernetzten Gesellschaften und Herrschaftsformen kommt, sich aber im Augenblick der Revolution noch keine neue, passende Machtform herausgebildet hat.
Somit sind diese Ereignisse auf die mangelnde Anpassungsfähigkeit der Machthaber zurückzuführen – und nicht auf das Vorhandensein von Twitter und Facebook. Auch wenn bei uns im Westen keine Aufstände zu erwarten sind, trifft dieser Sachverhalt auch auf die politischen Verhältnisse in den USA und Europa zu. Die staatlichen Organe spüren, dass ihnen der Kommunikationsraum Internet entgleitet, dass die demokratischen Formen der traditionellen Machtausübung dort nicht hineinreichen. Insofern ist, wenn vom “rechtsfreien Raum Internet” gesprochen wird, den es nicht geben dürfe, in Wahrheit ein von staatlicher Macht befreiter Raum gemeint, welcher der Politik große Sorgen bereitet. Allerdings sind die politischen Systeme bei uns anpassungsfähiger, doch dazu später mehr.
Ein Pfund Theorie bitte
Zunächst kommt Theorie ins Spiel: Michel Foucault hat die Verfahren der Macht analysiert und festgestellt, dass sich als Reaktion auf eine Krise neue Formen von Macht herausbilden. Benjamin Seibel hat das in einem Vortrag (Jenseits des Panoptismus) hervorragend herausgearbeitet und zitiert dazu den französischen Philosophen Gilles Deleuze mit seinem “Postskriptum über die Kontrollgesellschaften” . Demnach würden “statische Formen der (staatlichen) Überwachung durch flexible Kontrollmechanismen, die unmittelbar in die Kommunikationsprozesse eingeschrieben sind, abgelöst“ (so Seibel).
Diese neue Machtform funktioniere im Wesentlichen über die Erfassung und Auswertung von Informationen. Gesellschaft wird definiert als “Ensemble aus Informationsgrößen, die über regulierende Eingriffe ausgesteuert werden können.“ Die Idee vom Überwachungsstaat ist also ein Auslaufmodell. Sie wird weiterentwickelt. „Strukturiert werden in Zukunft die Räume, in denen Individuen interagieren können.“ Wenn Handlungsmodelle vorher festgelegt werden, bedarf es keiner Überwachung mehr – wehe, wenn eines Tages die sogenannten Cognitive oder Smart-Cities Realität werden!
Neue Formen des Regierens
Es handelt sich demnach um eine neue Form des Regierens, die alles Regelbare regelt und alles nicht Regelbare regelbar macht, zitiert Benjamin Seibel diesmal Joseph Vogl.
Mit anderen Worten: Während die autoritären Regime in Nordafrika und Asien keine Antwort auf ein System wie das Internet gefunden haben und daher mit Gewalt, Unterdrückung und Zensur – im schlimmsten Fall mit der Abschaltung des Netzes reagieren (müssen), passen unsere westlichen Regierungen ihr System der Machtausübung (landläufig als Demokratie bezeichnet) über Maßnahmen wie Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren an die neuen Gegebenheiten an.
So betrachtet handelt es sich bei Netzsperren und Vorratsdatenspeicherung nicht nur um die vordergründige Kontrolle, sondern vor allem um die Herstellung von Handlungsräumen, von Regelbarkeit. Netzsperren und Vorratsdatenspeicherung sind Machttechniken, die das Netz symbolisch domestizieren sollen. Es geht also im Kern gar nicht um Kindesmissbrauch oder Terrorismus. Es geht ums Prinzip. Mit Sperren und Vorratsdaten soll die Regelbarkeit in den Kommunikationsprozess des Netzes eingeschrieben werden. Und genau um dieses Prinzip geht es den Konservativen dabei auch.
Dabei könnten sich jedoch im Netz die „Ensembles der Informationsverarbeitung“ dauerhaft verschieben. Wenn sich Macht in der „Erfassung und Auswertung von Informationen“ manifestiert, dann wird die vernetzte Meinungsbildung Auswirkungen auf die Techniken der Macht haben. „Soziale Medien“ erschließen auch neue Handlungsmodelle. Genau deshalb sind derzeit die Kräfte so stark, die versuchen, die Asymmetrie Bürger – Staat auch für das Informationszeitalter zu zementieren – durch Überwachung, Sperren oder eine Abschwächung der Netzneutralität. Zugleich werden neue Modelle der Bürgerbeteiligung nur zögerlich erprobt und eingeführt.
Das Netz wird also – wenn es schlecht läuft – geregelt, ohne dass die Bürger es selbst regeln können. Damit fällt die Netzrevolution bei uns bis auf weiteres aus.
(Robin Meyer-Lucht hat einige Gedanken zu diesem Text beigetragen)