#1. Mai

Tag des Arbeitsmythos

von and , 1.5.14

 

Denkich: Reden wir also über Arbeit.
 
Fragich: Oh Gott…
 
Denkich: Wieso „Oh Gott“?
 
Fragich: Na ja, der hat uns das alles doch eingebrockt. „Mit Mühsal sollst du dich von deinem Acker nähren dein Leben lang.“ Das war doch der Fluch Gottes gegenüber den ersten Menschen bei der Vertreibung aus dem Paradies. Und das hat mehr oder weniger geklappt, oder?
 
Denkich: Christliche Schwarzmalerei hat in der Tat Jahrhundertelang vieles bestimmt. Aber Regen ist nicht das einzige Wetter, und die christliche Deutung der Arbeit nicht die allein sinnvolle. „Arbeit ist die Grundlage aller menschlichen Zivilisation“, sagt Jeremy Rifkin, einer der klügeren Köpfe.
 
Fragich: Deshalb muss man sie aber noch lange nicht mit dem Vergnügen verwechseln. „Arbeit ist alles, was keinen Spaß macht“, sagt Brecht, und er hat Recht. Schon das Wort Arbeit bedeutet ja von seiner sprachlichen Herkunft aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen Mühsal, Plage, unwürdige, schwere körperliche Anstrengung.
 
Denkich: Du kommst mir vor wie einer, der mir einreden will, es gäbe nur Kirchen- und Beerdigungslieder. Ich kenne aber auch Freudengesänge, Liebeslieder und Politsongs.
 
Fragich: Die kannst du den Kindern in indischen Fabriken oder auch den Verkäuferinnen bei Lidl vorsingen.
 
Denkich: Du musst auch immer alles negativ sehen. Lass uns die Sache bitte weniger polemisch angehen.
 
Fragich: Na gut, was schlägst du vor?
 
Denkich: Versuchen wir ein paar Tiefenbohrungen. Das übliche Politgezänk schafft keine Klarheit.
 
Fragich: Zänkischer als an deinem Tag der Arbeit geht es selten zu. Dass kaum noch einer mitläuft, halte ich für einen Fortschritt.
 
Denkich: Sind für dich Fortschritt und politische Bewusstlosigkeit das gleiche? Solcher Fortschritt führt direkt zum verkaufsoffenen Feiertag.
 
Fragich: Hast du nicht gerade für weniger Polemik und mehr Tiefgang plädiert?
 
Denkich: Okay, dann halt mal die Luft an. Wie drückt sich Herrschaft zuallererst aus? Darin, andere für sich arbeiten zu lassen.

Macht und Geld werden vor allem für das eine eingesetzt, sich die Leistungen anderer Leute anzueignen. Die Tristesse des Arbeitens hat hier ihre Wurzeln. Und weil die Herrschenden daran interessiert sind, das nicht sichtbar werden zu lassen, reden sie uns ein, der Fluch komme aus der Sache, aus der Arbeit selbst.
 
Fragich: Nietzsche hat sich unklar ausgedrückt, er vergaß zu erwähnen, dass auch Marx tot ist.
 
Denkich: Vergiss den Trierer, ich halte es mehr mit dem Bielefelder. Luhmann hat es nicht so gesehen, trotzdem kann man von ihm lernen, dass Arbeit – wie Kommunikation – ein soziales Verhältnis ist, zu dem mindestens Zwei gehören.

Zu reden, zu schreiben, zu senden, zu drucken ist noch keine Kommunikation. Ohne dass ein anderer liest, hinhört und versteht, findet keine Kommunikation steht. Genau so kannst du dich stundenlang abschuften – Arbeit wird es erst, wenn jemand deine Leistung braucht.
 
Fragich: Ja und? Arbeit ist eine Tätigkeit, wenn ich Holz hacke, arbeite ich.
 
Denkich: Nur wenn du es selbst brauchst, oder wenn ein anderer das gehackte Holz braucht, ist es Arbeit. Arbeit ist, ich wiederhole mich, eine soziale Beziehung, nicht einfach nur eine Tätigkeit oder eine Leistung. Wenn das fertige Auto keiner kauft, war seine Herstellung keine Arbeit, wie sehr die Roboter auch geschwitzt haben mögen.

Das ist doch die große Schwäche der Gewerkschaften, dass sie die dritte Seite der Arbeit, die Gebrauchs-, Verkaufs-, Konsumseite – wie immer du sie nennen willst -, der Regie des Unternehmers alleine überlassen. Der kann immer sagen: Die Wettbewerbsfähigkeit ist zu niedrig, der Preis zu hoch, ich muss die Arbeitskosten senken, sonst bleiben wir auf den Sachen sitzen.
 
Fragich: Gehe doch mal in einen früheren Praktiker-Markt und erzähle den Leuten, sie hätten offensichtlich nicht gearbeitet, denn das Zeug hätte sich ja nicht verkauft.
 
Denkich: Was macht der Schein, wenn er kein Sonnenschein ist? Er trügt.

Arbeiter und Angestellte können nur deshalb sicher sein, dass sie arbeiten, weil der Unternehmer das Risiko der Arbeit übernimmt. Das merkst du als Selbständiger sofort. Dass manche Unternehmer und die meisten Manager diese Position schamlos ausnutzen, um die eigenen Taschen zu füllen, steht auf einem anderen Blatt – desselben Buches. Lassen wir uns davon jetzt nicht ablenken.
 
Fragich: Das wird mir ein bisschen zu agitpropmäßig. Willst du aus unserem Dialog ein politisches Manifest machen?

Mir geht es um etwas Grundsätzlicheres. Wenn du es schon politisch willst, sage ich es eben mit Marx: „Das Reich der Freiheit beginnt erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.“

Heute ist Arbeit alternativlos geworden. Das ganze Leben wird unter die Verwertungsregeln der Arbeit gepresst. Alles ist Arbeit oder dient der Arbeit. Freizeit ist Rekonstitution der Arbeitskraft, Kraft durch Freude eben. Als Konsumzeit ist sie Stress, der sich von Arbeitsleistung kaum noch unterscheidet. Die Menschen haben die Fähigkeit zur Muße verloren.

Sogar die Liebe ist jetzt Beziehungsarbeit. Arbeit ist inflationär geworden. Und bei allem glauben wir mittlerweile sogar daran, dass unsere Arbeit der Selbstverwirklichung dient. Ich möchte die Arbeit in ihr beschränktes Recht zurückversetzen. Unter Arbeit verstehe ich die Befriedigung der individuellen und gesellschaftlichen Notdurft. Das ist erforderlich, aber keine Freiheit.

Um meine lange Rede noch einmal mit deinem Trierer zu beenden: „Erst jenseits dessen beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt.“
 
Denkich: Zweimal nein.

Erstens will ich es nicht politisch, sondern gesellschaftlich, also auch ich will sehr viel mehr. Die Instrumentalisierung der Arbeit, früher für die Herren des Adels, heute für die Herren des Kapitals, darf darüber nicht hinwegtäuschen: Arbeiten, d.h. auf der Basis einer Qualifikation etwas leisten, was andere brauchen, macht zusammen mit Kommunizieren humanes und gesellschaftliches Leben überhaupt erst möglich.

Zweitens dürfte die Unterscheidung eines Reichs der Notwendigkeit und eines der Freiheit für das 19. Jahrhundert funktioniert haben. Das 21. Jahrhundert kennt viel individuelle Not, aber wo soll in den entwickelten Ländern die gesellschaftliche Notwendigkeit sein – beim iPhone 5, beim neuen BMW, bei Bionade oder Jogginghosen?
 
Fragich: Die Not ist heute nur eine andere. Nicht mehr körperliche Mühsal und Qual stehen heute im Vordergrund beim Arbeiten – zumindest in der sogenannten westlichen Welt. Bei den Textilarbeiterinnen in Bangladesch geht es hingegen noch ziemlich frühkapitalistisch zu.

In den hochentwickelten kapitalistischen Ländern ist die körperliche Mühsal heute psychischem Stress gewichen. Nicht umsonst ist mittlerweile überall vom Burnout die Rede; psychische Probleme liegen heute auf Platz eins der arbeitsbedingten Erkrankungen. Ich teile deine begriffliche Definition von Arbeit als Leistung auf der Basis einer Qualifikation, der ein Brauchen gegenübersteht …
 
Denkich: Aber ich teile nicht deine Argumentation. Katastrophale Umstände und psychischer Stress, das sind die schlechten Bedingungen, unter welchen etwas geleistet werden muss, sozusagen die Not in der Arbeit. Das sagt noch nichts über die Notwendigkeit dieser Arbeit aus. Das Verrückte ist doch, dass weitgehend überflüssiges Zeug unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt wird.

Gesellschaftlich gesehen, haben die meisten Länder das Reich der Notwendigkeiten hinter sich. Aber wir organisieren die Arbeit so, dass viel individuelle Not entsteht, die dazu nötigt, unter Stress und bei schlechter Bezahlung unnötige Leistungen zu erbringen: Leistungen, für die ein Riesenaufwand an Werbung betrieben werden muss, bis sich Kunden finden, die glauben, diese Produkte oder Dienstleistungen haben zu müssen.
 
Fragich: Wir drehen uns im Kreis und du glaubst, besser vorwärts zu kommen, wenn du dich schneller drehst. Ich möchte noch einen weiteren Schritt zurück machen und fragen, welche andere Seite ich denke, wenn ich von Arbeit rede.

Freizeit? Nein doch, bitte nicht; das hatten wir eben schon. Freizeit ist bereits durch Arbeit bestimmt, als Reproduktion von Arbeitskraft.

Die andere Seite von Arbeit ist Muße, im Sinn einer gelassenen selbstzweckhaften Aktivität. Schönen Gruß von Aristoteles: Die Natur verlangt danach, „nicht nur in der rechten Weise zu arbeiten, sondern auch würdig der Muße pflegen zu können“. Zweckbestimmte Arbeit, die nicht durch ihr Gegenteil der selbstzweckhaften Muße begrenzt wird, kolonialisiert unser ganzes Leben. Darauf wollte ich mit der Unterscheidung von Notwendigkeit und Freiheit hinaus.

Arbeit, die ich als andere Seite von Freizeit denke, ist eine andere Arbeit als eine Arbeit, deren Gegenteil die Muße ist – so wie der Himmel eines Priesters, dem die Hölle gegenüber steht, ein anderer Himmel ist als bei einem Piloten, der diesen als Gegenseite zur Erde denkt. Ohne Muße keine gute Arbeit, sondern körperliche Mühsal und/oder psychische Qual.

Weder die Helden noch die Moralapostel der Arbeit bringen uns weiter. Gewerkschaft und Wirtschaft spielen doch dasselbe Spiel, nur gegeneinander. In diesem Spiel bedeutet „Befreiung von der Arbeit“ Arbeitslosigkeit.
 
Denkich: An diesem Punkt gebe ich dir Recht. Die Arbeitsgesellschaft ist auf zwei Augen blind: Sie sieht kein sinnvolles Tun jenseits des Arbeitens, und sie anerkennt keine Arbeit außer der wirtschaftlich dominierten Erwerbsarbeit.

Ohne gute Arbeit ist eine gute Gesellschaft nicht zu bekommen, das bleibt wahr. Aber einer Gesellschaft, in der sich alles um die Arbeit dreht, fehlt das Beste: Die Muße. Solange wir uns Nicht-Arbeit nur als Erholung oder Faulheit vorstellen können, bleiben wir im Hamsterrad.
 
Fragich: Jawoll! sagen die beiden alten Männer Denkich und Fragich. Befreiung in der Arbeit ist ohne mehr Freiheit von der Arbeit nicht zu bekommen. Ein erster Schritt wäre ein garantiertes Grundeinkommen.
Denkich: Mehr als ein Schritt. Ein Meilenstein.

 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Arlt lehrt strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste in Berlin.
Prof. Dr. Rainer Zech ist Geschäftsführer der ArtSet Forschung Bildung Beratung GmbH in Hannover.
 

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