von Jörn Kruse, 19.2.09
Für unser Gemeinwesen bewirken Wahlkämpfe zunächst vor allem, dass eine Sachpolitik – sofern sie überhaupt noch stattfindet – nur noch unter wahltaktischen und PR-Gesichtspunkten gemacht und von der medialen Öffentlichkeit auch so bewertet wird. Ob sich unsere Gesellschaft, die (auch ohne die Finanzkrise) vor hohen Anpassungs- und Gestaltungserfordernissen steht, das leisten kann, muss bezweifelt werden. Vordringlich wäre eigentlich eine zukunftsorientierte und tatkräftige Politik, die allen Sachverstand der Gesellschaft bündelt und in effektive Reformpolitik umsetzt. Aber dies scheint eine Illusion zu sein. Der Begriff des “Superwahljahres” suggeriert den Bürgern einen Einfluss, den sie tatsächlich gar nicht haben.
Dass alle Macht vom Volke ausgeht und die Bürgerpräferenzen die demokratische Politik bestimmen, ist formal sicher zutreffend, inhaltlich jedoch kaum. Wenn ein Bürger für sämtliche bundespolitische Entscheidungen der nächsten vier Jahre nur eine einzige Stimme zur Verfügung hat, kann er seine Präferenzen für die einzelnen Politikfelder nicht zur Geltung bringen, da sie in der großen Gemengelage vieler Sachprobleme, Interessen, Ideologien und Personalia untergehen oder gar von kurzfristig-zufälligen Wahlkampfthemen überlagert werden.
Viele Bürger würden (wenn sie denn könnten) für verschiedene Politikfelder (z.B. Innen-, Außen-, Wirtschafts-, Sozial-, Steuer-, Umweltpolitik etc.) durchaus unterschiedliche Parteien wählen. Sie stimmen jetzt also mit ihrem Kreuz in der Wahlkabine notgedrungen für Politikvorschläge auf einzelnen Feldern, die sie gar nicht wollen.
Wenn man die Bürger als demokratischen Souverän ernst nehmen würde, sollte man über politikfeldspezifische Stimmabgaben der Bürger nachdenken, die im politischen Prozess Wirkung entfalten (anders als reine Meinungsumfragen). Zum Beispiel könnte man Gremien, die die Funktion heutiger Parlamentsausschüsse haben, direkt von den Bürgern wählen lassen (mehr hier). Dies erfordert jedoch eine Bereitschaft, über die Institutionen der Demokratie in Deutschland einmal neu nachzudenken.
Das Gleiche gilt auch für das Verhältnis von Parlament und Regierung und die fehlende Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive. Die Bürger sollen gegenwärtig mit einem einzigen Wahlakt sowohl (direkt) das Parlament als auch (indirekt) die Regierung wählen. Viele Bürger würden (wenn man sie ließe) einen/eine bestimmte/n Kanzlerkandidaten/in wählen, aber vielleicht nicht seine/ihre Partei und schon gar nicht alle Politikvorschläge derselben. Aber so viel Differenzierung ist für den Souverän nicht drin. Ein einziges Pauschalkreuz ist alles, was die Macher des Grundgesetzes und der Wahlgesetze ihm zugestehen.
Die Wähler einiger Parteien wissen nicht einmal, wofür ihre Stimmen später verwendet werden, da häufig erst die nachfolgenden Koalitionsverhandlungen über die Macht entscheiden. Verhilft eine Grünen-Stimme der CDU oder der SPD zur Mehrheit? Und gibt es überhaupt eine Mehrheit, die eine Regierung handlungsfähig macht und in die Lage versetzt, eine vernünftige Politik zu konzipieren und durchzusetzen?
Warum wird in Deutschland nicht darüber nachgedacht, das Parlament und die Regierung von den Bürgern separat wählen zu lassen und damit die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive wieder herzustellen. Diesbezüglich kann das amerikanische Verfassungssystem mit getrennten Wahlen des Präsidenten, des Repräsentantenhauses und des Senats durchaus ein Modell für eine Reformdiskussion sein.
Bei (direkter oder indirekter) Wahl der Regierung durch das Volk würden sich eventuelle „Koalitionen“ zur Unterstützung eines bestimmten Kanzlerkandidaten schon vorher zusammenfinden und sich den Bürgern zur Wahl stellen. Nach der Kür eines Regierungschefs, die man durch entsprechende Abstimmungsregeln gewährleisten kann, wird dieser sich weitgehend unabhängig von bestimmten regionalen oder soziografischen Zwängen die jeweils geeigneten Minister auswählen. Die formalen Kompetenzen der Regierung und des Parlaments sind in der Verfassung etc. zu definieren. Soweit die Regierung für ihre Politik neue Gesetze benötigt, würde sie sich in dem von der Regierung unabhängigen Parlament um entsprechende Mehrheiten für ihren Entwurf bemühen. Unter diesen Bedingungen müssen dann die einzelnen Abgeordneten nicht mehr ihren Blick darauf richten, ob sie die Regierung stützen oder stürzen wollen (da dies nicht in ihrer Macht steht), sondern sie können sich auf die inhaltliche Thematik und die politischen Positionen konzentrieren, für die sie von den Bürgern bei den Parlamentswahlen gewählt wurden.
Heutzutage haben die Bundestagswahlen für die Parteien und Politiker aus einem besonderen Grund eine ganz herausragende Bedeutung. Die Wahlen versehen sie mit dem kostbarsten demokratischen Gut und dem Schlüssel zur Macht. Das ist das generelle Mandat bzw. die umfassende demokratische Legitimation. Da es auf Bundesebene nur eine einzige Wahl gibt, nämlich diejenige zum Bundestag, haben die Bundestagsparteien gemeinsam ein Monopol für demokratische Legitimation. Dies ermöglicht ihnen (im Einzelnen im Rahmen der jeweiligen Mehrheiten) grundsätzlich über fast alles Staatliche zu entscheiden, und zwar sowohl über die Inhalte der Gesetzgebung und des Regierungshandelns, als auch über die Top-Personalien fast aller staatlichen Institutionen. Erst dies macht es zum Beispiel möglich, dass das Parteibuch eines Bewerbers für ein staatliches Amt eine relevante Rolle spielen kann und nicht nur seine fachliche Qualifikation.
Wenn man das Monopol der Parteien relativieren möchte, könnte man die „zweite Kammer“ (bisher der Bundesrat) so gestalten, dass sie explizit von den Parteien unabhängig ist und direkt vom Volk gewählt wird. Sie verfügt damit über eine eigenständige demokratische Legitimation (mehr hier).
Eine solche zweite Kammer („Senat“) sollte ihre Entscheidungen unter systematischer Nutzung beauftragter, externer Fachkompetenz treffen. Deren Argumente und Bewertungen werden bei inhaltlichen Fragen zeitnah publiziert. Damit werden die tatsächlichen politischen Alternativen transparenter und der politische Diskurs in der Gesellschaft relevanter.
Eine zweite Kammer, die nicht aus Berufspolitikern besteht, fördert außerdem die politische Partizipation der Bürger. Bisher kontrollieren die Parteien durch ihr Legitimationsmonopol den Bottleneck beim Zugang zu allen politischen und staatlichen Ämtern. Dies ist auch deshalb problematisch, weil die Attraktivität der Parteien für engagierte Bürger im Laufe der Jahre kontinuierlich abgenommen hat und die Rekrutierungsbasis für politische Ämter damit sehr schmal geworden sind. Eine Erhöhung der Partizipation der Bürger stärkt die Demokratie.
Sind Wahlen also super? Ja, das wären sie grundsätzlich, wenn die Bürger sich differenziert entscheiden könnten und nicht nur mit einer vierjährigen Pauschalstimme. Wir brauchen also viel mehr und differenziertere Wahlen als bisher. Technisch dürfte das im Internetzeitalter viel weniger Aufwand bedeuten als jemals zuvor.