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Soziale Marktwirtschaft sieht anders aus

von , 30.8.15

Wohlstand für alle wollte Ludwig Erhard schaffen und propagierte dies als Ziel des deutschen Modells der sozialen Marktwirtschaft. Diese basiert unter anderem auf dem Konzept des Ordoliberalismus. Bei der Idee der sozialen Marktwirtschaft geht es zunächst um freien Markt und Wettbewerb, die als Weg zu gesellschaftlichen Wohlstand angesehen werden – um liberale Ordnungspolitik also. Der Erhalt des freien Wettbewerbs war für Erhard eine der zentralen Aufgaben des Staates. Die sozial ausgewogene Verteilung des Wohlstandes kommt erst danach in den Blick. Wann und inwiefern wird die soziale Kategorie innerhalb des deutschen Modells relevant?

Der soziale Ausgleich soll durch Wirtschaftswachstum finanziert werden. Nur wer etwas einnimmt, kann auch etwas austeilen, so die Idee. Und mehr einnehmen würde man, wenn das Wirtschaftswachstum gesteigert werden könnte. Darum redet man in der politischen Kommunikation so gerne über Maßnahmen zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums. Ohne das funktioniert die ursprüngliche Idee der sozialen Marktwirtschaft nicht.

So weit, so verständlich. Doch haben wir heute zwei Probleme, wenn wir diese Idee betrachten.

Erstens: Das relative deutsche Wirtschaftswachstum hat sich verlangsamt und der Kuchen wächst somit nicht mehr so stark – also wachsen auch die Stücke der Einzelnen weniger stark. Auch in absehbarer Zukunft wird das Wachstum in Deutschland nicht wieder auf zweistellige Raten steigen – so, wie man sie noch in den 1950er Jahren hatte. Im Gegenteil, momentan zeichnet sich ein Erschlaffen des deutschen Wachstums ab. Denn unter anderem sinkt einerseits mit dem demografischen Wandel die Zahl der Konsumenten – und weniger Menschen geben insgesamt auch weniger aus. Andererseits wird deutsches Kapital verstärkt im Ausland investiert – Schwellenländer in Asien und Lateinamerika locken mit großen Kapitalrenditen. Beides wird sich so rasch nicht ändern. Trotz erster Anzeichen einer Krise in China, wird Asien – insbesondere China – noch länger stark wachsen und damit Kapital anziehen. Damit künftig wieder mehr Kapital in Deutschland investiert wird – anzustreben wäre dies gewiss – bräuchte es zunächst Richtungsänderungen in der Wirtschaftspolitik – es braucht einen New Industrial Deal. In jedem Fall löst sich dieses erste Problem des Nachlassens des deutschen Wachstums nicht über Nacht.

Es gibt also weniger zu verteilen hierzulande als noch in den 1950er Jahren, als die Flut alle Boote kräftig hob. Aber solange es noch Wirtschaftswachstum gibt, kann ja noch ausgeteilt werden. Und nach der Idee der sozialen Marktwirtschaft sollen alle vom größeren Kuchen ein vergleichbar größeres Stück bekommen.

Nun besteht aber ein zweites Problem – und das ist gerade ebenso relevant wie die Frage nach der Zukunft des Wachstums: Obwohl der Kuchen noch wächst, wachsen die Stücke der Einzelnen unterschiedlich stark. Das Problem der momentanen „sozialen Marktwirtschaft“ ist also, dass die vergleichbare Beteiligung aller am Wohlstand nicht mehr gewährleistet ist.

Beispiel Lohnniveau

Hätte es den Mindestlohn nicht gegeben, würden die Reallohnentwicklungen am untersten Lohnniveaurand weiter sehr marginal wachsen – oder gar stagnieren. Das zeigt ein Blick auf das vierte Quartal 2014: Die Nominallöhne von Arbeitnehmern in leitender Stellung stiegen laut Statistischen Bundesamt um 4,8 Prozent, während die Löhne von Fachkräften nur um 2 Prozent, die von angelernten Arbeitern um 1,6 Prozent und die von ungelernten Arbeitern lediglich um 1,3 Prozent stiegen. Die Quartale davor sehen fast genauso aus. Oben geht es gut voran, unten nur sehr wenig. Das ist der Normalmodus der deutschen Marktwirtschaft.

Der Mindestlohn reißt es in diesem Jahr für Niedriglöhner aber deutlich nach oben. Vergleicht man erneut die Leistungsgruppen, dann haben ungelernte Arbeitnehmer eine Erhöhung von 4 Prozent bekommen, wohingegen Arbeitnehmer in leitender Stellung nur 2,4 Prozent mehr bekommen haben. Und da wir momentan eine geringe Inflation haben und der Verbraucherpreisindex damit zusammenhängend im ersten Quartal 2015 im Vergleich zum Vorjahr gar nicht gestiegen ist, kommen die Veränderungen des Nominallohns eins zu eins im Geldbeutel an. Der Reallohnindex ist vom ersten Quartal 2014 bis zum ersten Quartal 2015 um 2,5 Prozent gestiegen. 2015 scheint bisher das Jahr des Geringverdieners. Aber dieser Fall ist die Ausnahme. Die Regel ist eine andere: Die Lohnentwicklungen spreizen sich massiv.

Die momentane Steigerung hat aber nun eben nicht die Marktverteilung selbst ergeben, sondern der politische Wille. Der Mindestlohn ist ein Eingriff des Staates – ihre gute Lohnentwicklung verdanken viele Arbeiter und Niedriglohnbezieher also letztlich der SPD und den Gewerkschaften, die sich für den Mindestlohn eingesetzt haben.

Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft beinhaltet jedoch, dass es durch die Primärverteilung des Wirtschaftswachstums – also durch die Marktergebnisse – zur vergleichbaren Erhöhung des Wohlstands für alle kommen solle. Umverteilung durch Sekundärverteilung – also durch progressive Besteuerung – gehörte zwar auch immer zur Idee der sozialen Marktwirtschaft, zumindest aus der Perspektive der SPD. Dennoch liegt der Kern der Idee darin, dass die Eigentümer erfolgreicher Unternehmen – und diese Gewinner waren zu Beginn des deutschen Nachkriegswirtschaftswunders nun mal im Wesentlichen (Familien-)Unternehmer –, alle ihre Mitarbeiter angemessen an dem betriebswirtschaftlichen Erfolg beteiligen, und das entweder im Zusammenspiel mit Gewerkschaften oder aus purer sozialer Verantwortung.

In Deutschland profitieren nicht mehr alle auf vergleichbare Weise vom Wirtschaftswachstum

Mit der Dominanz des angelsächsischen Finanzkapitalismus ist diese soziale Verantwortung erodiert. Viele Familienunternehmen gingen an die Börse und haben sich stärker dem Shareholder value verpflichtet, andere wurden von Investoren übernommen. Zudem seien die Unternehmen – laut vielfacher Selbstaussage – generell eingefügt in einen globalen Wettkampf, durch den sie sich gezwungen sähen, die Arbeitskosten gering zu halten.

Deutsche Unternehmen haben so massive Spreizungen bei der Lohnentwicklung ihrer Beschäftigten zugelassen. So sind große Unterschiede bei den Gehältern entstanden: Nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung verdienten zum Beispiel 2011 die VW-Vorstände das 170-Fache eines durchschnittlichen VW-Beschäftigten. Und im Durchschnitt der Unternehmen des Dax-30 verdienten die Bosse 53-mal so viel wie ein normaler Beschäftigter. Hier geht es wohlbemerkt nur um das Verhältnis der Arbeitnehmer eines Betriebs untereinander und nicht um das Verhältnis des Mehrgewinns der Eigentümer zu dem was der schlecht bezahlteste Arbeitnehmer des Unternehmens bekommt. Den Trend zur Zwei-Klassen-Arbeitnehmerschaft nennt man die genannte Entwicklung.

Vermutlich ist der Unterschied in Unternehmen, in denen keine Gewerkschaft aktiv ist, noch deutlich stärker – relativ und absolut. Denn bei den DAX-Größen VW, Daimler oder BMW sorgt zum Beispiel die IG Metall für vergleichsweise gute Löhne und Lohnentwicklungen für alle Beschäftigtengruppen. Aber die deutlichen Unterschiede der Lohnentwicklungen sind nun mal da, man findet sie in allen Branchen und in allen Betriebsgrößen.

Die Formel der Arbeitnehmergesellschaft

Zum Verhältnis der Entwicklung der Kapitalrendite (r) zur Veränderung des Wirtschaftswachstums (g) hat der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty gezeigt, dass die Kapitalrendite zurzeit enorm höher und generell im Kapitalismus immer mehr oder weniger höher ist als die Rate des Wirtschaftswachstums. Formelhaft ist laut Piketty r>g. Zusätzlich gilt für den derzeitigen Zustand der Arbeitnehmergesellschaft, dass die Rate der Gehaltsentwicklung der Führungskräfte oder Manager (m) höher ist als die der Arbeiter – vom Facharbeiter bis zum ungelernten Arbeiter – (a). Somit gilt für die Arbeitnehmergesellschaft, dass m>a ist. Dass m>a ist, ist zwar im Kapitalismus kaum zu verhindern, da mit steigender Kompetenzanforderung an den Job auch das Einkommen steigt und man besonders qualifizierten Fachkräften dann auch tendenziell höhere Lohnzuwächse auf dieses ohnehin schon höhere Grundeinkommen gewährt. Wenn jedoch m sehr viel größer ist als a, dann ist das nicht mehr im Sinne der Idee der sozialen Marktwirtschaft.

Die derzeitige deutsche Marktwirtschaft verdient das Etikett „soziale Marktwirtschaft“ nicht. Will man nun die soziale Marktwirtschaft revitalisieren, bräuchte es eine Initiative zu einer faireren Verteilung der Löhne. Trotz aller Zwänge der Unternehmen sollte dies möglich sein, denn die Unternehmen verteilen ja Lohnzuwächse, nur verteilen sie sie massiv ungleich. Der Spielraum ist da, es braucht eine neue Sensibilität für die fairere Verteilung der Gewinne. Die Unternehmen sind keine Opfer des finanzkapitalistischen Systems. Sie müssen halt Prioritäten setzen.

Ohne höheres Gehaltsplus der unteren Leistungsgruppen keine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft

Diese Initiative für eine neue soziale Marktwirtschaft müsste zunächst vom Markt ausgehen – von der Primärverteilung. Mithin sollten sich die Unternehmen zu höheren Tarifabschlüssen bereit erklären, die allen zu Gute kommen, und generell eine Unternehmenskultur wiederbeleben, in der alle Beschäftigten in vergleichbarer Weise vom Unternehmenserfolg profitieren. Dies impliziert auch eine Deckelung der Vorstandsgehälter. Maß und Mitte muss das Ziel sein.

Dass wir im Anschluss an diese Neuorientierung in der Unternehmenskultur auch eine Steuerdebatte brauchen, um etwa mehr finanzielle Ressourcen für mehr staatliche Investitionen in das Bildungs- und Arbeitsmarktsystem zu gewinnen, um die Chancengleichheit in der deutschen Arbeitnehmergesellschaft zu erhöhen, ist zwar auch im Sinne der Idee des deutschen Kapitalismusmodells, zumindest in der Interpretation der Sozialdemokratie. Allerdings kann auch nur durch eine solche chancengerechtere Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik die Entkopplung von nicht unwesentlichen Teilen der Bevölkerung bei den Lebenschancen aufgehalten werden. So eine Steuerdebatte erzeugt jedoch Streit. Diesen Streit sollte die SPD aber wagen, im Sinne der sozialen Marktwirtschaft.

Soll „soziale Marktwirtschaft“ also nicht nur Rhetorik sein, dann braucht es jetzt die Verantwortung der Unternehmen besser zu entlohnen und die Verantwortung des Staates, um eine neue fairere Lebenschancenkultur in diesem Land zu schaffen.

 

Weitere Texte zum Thema finden Sie im Dossier Ausbeutung 4.0: Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?.


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