von Hans-Jürgen Arlt, 5.1.17
2016 war auch ein Jahr des Politiker-Bashing. Zum Jahresende hat sich Thomas Leif auf Zeit Online und dann bei CARTA in längerer Form eingereiht unter diejenigen, und das sind so ziemlich alle außer den Politikern, die wissen, wie man bessere Politik macht. Leifs Befunde sind ebenso zutreffend wie ergänzungsbedürftig.
Wenn es alle besser wissen als die Zuständigen, empfiehlt es sich, über die Zustände nachzudenken. Denn das ist doch eine komische Vorstellung, dass in unserem Land mit seinem 80 Millionen Volk gerade die paar tausend Leute Ministerinnen und Minister, Parteivorstände, Abgeordnete in Bundes-, Landtags- und Kommunalparlamenten geworden sind, die von Politik weniger verstehen als alle anderen. Was sie alles falsch macht und dass sie eigentlich alles falsch macht, wird der Politik in den sozialen Medien, in Print- und Funkmedien laut und drastisch vorgehalten. Damit nicht genug, Politikerinnen und Politiker werfen sich auch gegenseitig vor zu versagen.
Wohin die Verachtung der Politik führen kann, nicht muss, wissen wir, in eine Diktatur mit mehr oder weniger Staatsterror. Woher die Verachtung kommt, ist keine leichte Frage. Ihre bequeme Antwort lautet stets: sie komme von der Unfähigkeit des politischen Personals. Freedom & Democracy werden in Schulen und Medien als Lichtgestalten gepriesen, ihre Funktionsprobleme und praktischen Schattenseite bleiben unerklärt; wo diese zutage treten, werden sie der Politik in die Schuhe geschoben. Es ist unbequem, tut aber nicht weh, sich ein paar andere, ebenfalls nur unvollständige Gedanken zu machen.
Die Qual vor und nach der Wahl
Wie mühsam und riskant es sein kann, Entscheidungen zu treffen, erleben wir alle beruflich und privat. Zu der einen Option ja und zu allen anderen Möglichkeiten nein zu sagen, erzeugt die berühmte doppelte Qual der Wahl. Die Ungewissheit darüber, was die beste Alternative sein könnte, ist die Qual vor der Wahl. Sobald diese Qual durch den Entschluss für eine bestimmte Alternative beendet und diese realisiert wird, wachsen die Bedenken, sich vielleicht doch falsch entschieden zu haben. Das ist die Qual nach der Wahl. Vorher Streit und nachher Vorwürfe sind ganz normal.
Um Organisationsentscheidungen, vor allem um Unternehmensführung, wird ein Riesenbohei gemacht, eine ganze Consulting-Branche lebt davon. Dabei sind Vorstandsbeschlüsse nur für das jeweilige Unternehmen verbindlich. Aufgabe der Politik ist es hingegen, „kollektiv verbindliche Entscheidungen“ zu treffen und durchzusetzen, also für alle Menschen in ihrem Einflussbereich verbindliche Gebote und Verbote zu verhängen. Das kann niemand sonst, weder die Wissenschaft, noch die Wirtschaft, nicht einmal das Militär. Nur die Politik hat, gestützt auf die Staatsgewalt, eine solche Macht. Gesetze zu erlassen, ist eine herausragende, eine ehren- und verantwortungsvolle Aufgabe. Aber eben auch eine verdammt schwierige. Instabilität, Verwirrung und Glaubwürdigkeitsdefizite sind Strukturmerkmale demokratischer Politik, sie beruhen nicht auf einem Versagen der Politikerinnen und Politiker.
Was erkennbar auf Entscheidung beruht, kann auch anders entschieden werden. Demokratische Politik befindet sich im Dauerzustand der doppelten Qual. Sie hat beschlossen und muss sich sagen lassen, sie hätte besser anders entschieden. Sie sieht sich aufgefordert, sowohl alte Entscheidungen zu revidieren als auch neue Entscheidungen zu noch nicht dagewesenen Problemlagen zu treffen. Im politischen Prozess stellt sich ständig die Frage, welche Entscheidungen weiterhin gelten sollen und welche nicht, wie über neue Probleme entschieden werden soll, ob überhaupt entschieden werden soll… ein Grundgefühl der Instabilität ist unvermeidlich.
Für jede Problemlage ergeben sich viele Deutungsmöglichkeiten. Schließlich handelt es sich um kollektiv verbindliche Entscheidungen, d. h. im Prinzip sind alle – in ihren ganz unterschiedlichen Lebenslagen – betroffen. Das Gesetz hat beispielsweise direkte Folgen für Investoren, für die Städte, für die Natur, für den Einzelhandel, für den Arbeitsmarkt. Je nach dem wie es ausfällt, nützt oder schadet es bestimmten Interessen mehr oder weniger. Es sind laufende Deutungskämpfe darüber im Gang, was gute und was schlechte Alternativen sind. Dieser Auseinandersetzung ist im demokratischen politischen System fest, strukturell verankert, weil die Spitze in Regierung und Opposition gespalten ist, d. h. es gibt sozusagen schon von Amts wegen permanenten Widerspruch. Da ist sogar noch eine zweite offizielle Instanz, die ständig kommentierend dazwischen redet, in Frage stellt, es besser weiß – die öffentliche Meinung. Das hohe Gut der Meinungsfreiheit sichert (fast) jeder Kritik das Recht zu, öffentlich verbreitet zu werden. Ein Grundgefühl der Verwirrung ist in politischen Prozessen überhaupt nicht zu vermeiden.
In dieser laufenden Herausforderung, Entscheidungen zu treffen, zu entscheiden, worüber und ob überhaupt entschieden wird, stehen die einzelnen politischen Akteure unablässig vor der Schwierigkeit, ob sie ihre bisherigen Meinungen und Entscheidungen verteidigen oder verändern sollen. Welche Deutung ihres Verhaltens setzt sich durch: Haben sie aus guten Gründen dazu gelernt? Oder hängen sie aus opportunistischen Motiven ihr Fähnchen nach dem Wind? Bewahren sie Haltung und schützen sie wichtige Werte? Oder sind sie Sturköpfe, die alte Zöpfe weiter flechten? Sich einen guten Ruf zu bewahren, ist für Politikerinnen und Politiker so gut wie unmöglich, Glaubwürdigkeitsverluste sind der Normalfall.
Was im Namen der Freiheit verbockt wird…
Solange höhere adlige Wesen regierten, gesegnet von Gottes Gnaden, brokatgeschmückt und hinreichend bewaffnet, war es auch nicht immer leicht. Seit dem 18. Jahrhundert ist es wesentlich komplizierter geworden. Seither müssen sich die kollektiv verbindlichen Entscheidungen vertragen mit den Entscheidungen, welche die Organisationen, (z. B. Unternehmen, Universitäten, Kliniken, Verbände, Vereine) und die Personen (alte und junge, männliche und weibliche, reiche und arme, höher und schlechter gebildete) selbst treffen möchten – Freiheit ist das große Wort dafür. Ihre schönste Tochter heißt Demokratie. Was im Namen der Freiheit verbockt wird, soll die demokratische Politik reparieren, möglichst ohne Freiheiten einzuschränken.
Wie lässt sich sicherstellen, dass die Politik mit ihrer Macht, Gesetze zu erlassen, auf die Freiheit, also auf die Interessen der Organisationen und Personen hinreichend Rücksicht nimmt? Über weniges hat sich unsere moderne Gesellschaft gründlicher den Kopf zerbrochen als darüber, wie sich der Leviathan kontrollieren lässt. Mit Menschen- und Grundrechten fängt es an, mit Verfassungsrecht, Gewaltenteilung und Föderalismus geht es weiter, in freien, gleichen und geheimen Wahlen, der Spaltung der Spitze in Regierung und Opposition sowie einer freien öffentlichen Meinung gipfelt es. Alles Vorkehrungen, um die politische Macht zurück zu binden, um nicht zu sagen: zu fesseln, an die Interessen der Organisationen und Personen.
Die erste Frage, die sich die Politik seither stellen muss, lautet, worüber sie entscheiden will und dürfen soll; und was woanders, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Familie, in der Religion entschieden werden kann. Wie viele Kinder eine Familie haben darf, wie hoch die Preise sein dürfen, wann ein Mensch kein Kopftuch tragen darf, ob genmanipulierte Nahrungsmittel erlaubt sind, welches Schmähgedicht publiziert werden darf und welches nicht – das alles kann auch politisch entschieden werden.
Die zweite Frage lautet, wer innerhalb des politischen Systems worüber entscheiden soll. Was darf die Kommunalpolitik entscheiden, was die Landespolitik, was wird in der Bundeshauptstadt entschieden, was in Brüssel? Und wovon muss die Politik überhaupt die Finger lassen – bis sie entschieden hat, dass sie auch darüber entscheiden dar? Erst wenn beides geklärt ist, das Worüber und das Wer, steht die dritte Frage an, wie in der Sache entschieden werden soll. So viel Wahl, so viel Qual.
„Quasselbude“
Wohl der häufigste und zugleich der absurdeste Vorwurf an die Politik lautet, sie würde zu viel reden, zu wenig handeln. „Quasselbude“ – so hat einst Kaiser Wilhelm II. den Reichstag verächtlich gemacht, so haben die Nazis das demokratische Parlament beschimpft, so ist es bis heute üblich, Verachtung gegenüber der Politik auszudrücken. Schon eine Sekunde des Nachdenkens genügt, um sich klar zu machen, dass es für jeden, der demokratische Entscheidungen zu treffen hat, die erste und wichtigste Pflicht ist, darüber zu sprechen und darüber zu streiten. Nur Diktatoren brauchen im Prozess der Entscheidungsfindung nicht zu reden, nur Diktatoren können ihre einsamen Beschlüsse einfach verkünden. Woher sollen vielfältige Informationen kommen, wie sollen Argumente geprüft und ausgetauscht, wie sollen Erläuterungen und Begründungen gegeben werden? Demokratische Entscheidungsprozesse sind Kommunikationsprozesse und zwar die wichtigsten und schwierigsten.
Die Vorstellung, dass die Politik in der Regel Entscheidungen treffen soll, mit welchen alle einverstanden sind, ist eine völlig realitätsferne Idee. Am Rand des politischen Systems können viele verschiedene Ansichten und Lösungsideen vorgebracht, viele Mittel und Wege vorgeschlagen werden. Im Parlament muss am Ende die eine Möglichkeit, der eine Weg definiert und beschlossen werden. Je näher die Entscheidung rückt, desto weniger Rücksicht kann auf die Vielfalt der Meinungen genommen werden. Die Anerkennung des Verfahrens, wie eine kollektiv verbindliche Entscheidung zustande kommt, soll den kollektiven Konsens, die Zustimmung aller ersetzen.
Die Normalität demokratischer Politik ist der Dissens in der Sache. Was sich als Frust und Empörung über die Politik äußert und in Zustimmung zu populistischen Protestparteien niederschlägt, hat auch damit zu tun, dass die außerordentlich schwierigen Funktionsbedingungen von Politik in unserer Gesellschaft nicht gesehen und nicht offen thematisiert werden. Die Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften, wie sie gerade auch von der Politik selbst sowie in den Massenmedien und im Schulunterricht angeboten werden, neigen dazu, unerfüllbare Erwartungen zu wecken, also Illusionen zu verbreiten. Ich will es in der These zuspitzen, dass Politikverdrossenheit eine Ursache auch darin hat, dass uns Demokratie nur im Ansichtskartenformat vorgestellt wird.
Parteien, zuständig für das allgemeine Wohl
Die repräsentative Demokratie setzt die gewählten Personen dem unvermeidlichen Risiko aus, dass ihnen vorgeworfen wird, den Willen des Volkes zu missachten. Für die kollektiv verbindliche Entscheidung steht nur eine Legitimationsformel zur Verfügung. Wer immer auf eine politische Entscheidung abzielt, muss vom Gemeinwohl reden, für das er sich einsetzt. Es kann nur um das allgemeine Wohl gehen, aber es kann zugleich nur Parteien geben, die sich um die Regierungsämter bewerben. Schon im Namen – lateinisch pars heißt Teil – lauert der Widerspruch. Ein Teil muss sich zum Sachwalter und Repräsentanten des Ganzen aufspielen; das werden andere Teile nicht unwidersprochen hinnehmen.
Berufspolitiker müssen wie alle Berufstätigen auch an ihre Karriere und ihr Einkommen denken. Politische Repräsentanten werden natürlich daraufhin beobachtet, ob sie die eigenen Taschen mit Macht, Geld und öffentlicher Aufmerksamkeit füllen oder ob sie sich tatsächlich, wie sie behaupten (müssen), nur um das allgemeine Wohl kümmern. Je dümmer die öffentliche Meinung, desto weniger wird sie einsehen und anerkennen, dass dieses Problem nicht die Schuld der einzelnen Politikerinnen und Politiker, sondern eine fatale Lage ist, aus der sich in einer repräsentativen Demokratie kein Volksvertreter befreien kann. Für die Art und Weise freilich, wie mit diesem Problem umgegangen wird, ist die Politik durchaus mitverantwortlich.
Das Gemeinwohl ist ein Bezugspunkt, der nur als Streitpunkt existiert. Es ist kein Wallfahrtsort, zu dem man pilgern, kein Gipfel, den man erklimmen kann. Weil das Gemeinwohl nur als Streitpunkt existiert, ist es für jede Partei und jede Person schwer, überzeugend darzulegen, dass gerade sie für das Allgemeinwohl steht; leichter ist es, dafür zu argumentieren, dass die anderen jedenfalls nicht dafür stehen, dass sie nur an sich, an ihre Klientel und an ihren Machterhalt denken. In der politischen Auseinandersetzung liegt der Negativdiskurs näher, er ist jederzeit griffbereit. Es ist sehr viel leichter, über die Schurkereien der anderen zu reden als eigenes Heldentum glaubhaft zu machen – was sich wiederum negativ auf die Reputation der Politik insgesamt auswirkt. Denn wenn jeder den anderen als Schurken beschimpft, entsteht für das Publikum der Eindruck, als seien überhaupt nur Schurken am Werk.
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