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Seismographen der Gesellschaft – Zum Internationalen Frauentag 2020

Dass die Themen, deretwegen der Frauentag ins Leben gerufen wurde, immer noch akut sind, egal in welcher Nation, ob im Süden, Norden, Osten oder Westen der Erde, und egal wie reich oder wissenschaftlich aufgeklärt eine Gesellschaft ist, und dass deshalb noch im Jahr 2020 Frauentage begangen werden müssen, ist skandalös.

von , 8.3.20

Wie fortschrittlich eine Gesellschaft ist, zeigt sich an der Situation der Frauen in dieser Gesellschaft. Seit 109 Jahren gibt es den Internationalen Frauentag. Die heutigen Anliegen sind allerdings noch dieselben wie die von 1911: Gleichberechtigung, Wahlrecht, Anrecht auf öffentliche Ämter, Emanzipation und Anti-Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dass die Themen immer noch akut sind, egal in welcher Nation, ob im Süden, Norden, Osten oder Westen der Erde, und egal wie reich oder wissenschaftlich aufgeklärt eine Gesellschaft ist, und dass deshalb noch im Jahr 2020 Frauentage begangen werden müssen, ist skandalös. In unterschiedlichen Ländern, Branchen und Kontexten gibt es feine bis grobe Unterschiede im Umgang mit Frauen. Diese eignen sich als Maß zum Vergleich von sozialem Fortschritt. Doch jeder Vergleich erübrigt sich, wenn das Mindset der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung so aussieht, wie es der gerade veröffentlichte Gender Social Norms Index (GSNI) der UN zeigt. Demnach hegen nahezu 90 Prozent aller Menschen weltweit Vorurteile gegen Frauen. 

Der Index misst, wie sein Titel besagt, die Geschlechtervorstellungen, die derzeit als Norm oder als normal erachtet werden. Im Rahmen des »United Nations Development Programme« wurden Daten zur Gleichstellung von Frauen in den Bereichen Haushalt, Ausbildung, Politik, Beruf und Gesundheit in 75 Ländern erhoben. Gefragt wurde beispielsweise nach politischen Leitfiguren oder danach, wer eine bessere Ausbildung erhalten und mehr Geld verdienen sollte, Frauen oder Männer. Die für die UN-Studie gesammelten Meinungen und Haltungen belegen, dass das männliche Prinzip (weiterhin) als Maß fast aller Dinge gilt. Für neun von zehn Frauen und Männern ist der Standard-Mensch männlich. Diese sehen das männliche Prinzip oder Männer als Norm oder als normal an. Und was normal ist, wird auch als gut, richtig und erstrebenswert betrachtet. Diese Auffassung stärkt das Männliche in der Welt. Gratis liefert sie einen Freifahrtschein dafür mit, alles abzuurteilen, was von der Norm = Mann abweicht. Was ihr entspricht, wird geachtet und nachgeahmt, und was nicht, wird in Wort oder Tat missachtet und abgewertet. Dieser logische Fehlschluss vom Ist- zum Soll-Zustand ist gängige Theorie, aber auch Praxis. Das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein. 

28 Prozent der für den GSNI befragten Personen denken, ein Mann habe das Recht, seine Frau zu schlagen. Dieses »normale« Denken bildet dann auch die Vorlage für »normales« Handeln. So kommt es, dass 2020 nur 24 Prozent der Parlamentssitze weltweit von Frauen besetzt sind. Von 193 Regierungen werden nur 10 von Frauen geführt (und soeben zog sich mit Elizabeth Warren eine qualifizierte Kandidatin aus dem Wettbewerb um den US-Präsidentenposten zurück). Weniger als sechs Prozent der 500 größten börsennotierten US-Unternehmen haben weibliche CEOs. Und genau wie noch vor 100 Jahren arbeiten Frauen mehr als Männer, verdienen aber weniger. Zu diesen breiten Macht- und Einkommensklüften gesellen sich andere, handfestere Schikanierungen und Misshandlungen von Frauen. Für fast jede Frau gehören sie in irgendeiner Form zum Alltag. Doch dürfen sie deshalb nicht als Standard wahrgenommen oder womöglich akzeptiert werden. Frauen stellen 50 Prozent der Menschheit, und müssten schon rein rechnerisch zu 50 Prozent gleichgestellt sein – also weder aus humanitären Gründen noch aus Liebe zu den Frauen. Die Gründe dafür, Frauen gleichberechtigt zu behandeln, überall einzubeziehen und in höhere Positionen einziehen zu lassen, sind auch praktischer Natur. In einer zunehmend komplexen Weltsituation werden alle Talente und Fähigkeiten zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft benötigt. Nur paritätisch und integrativ organisierte Gesellschaften können echte und umfassende Fortschritte liefern, statt bloß bereichsbezogene Fortschrittchen. Damit würde der Begriff Fortschritt für alle gelten und nicht bloß für einige und so letztlich gar nicht.

Aktuell sehen wir erhebliche wissenschaftliche, technologische und auch wirtschaftliche, die allgemeine Grundversorgung und Umverteilung betreffende Fortschritte. Aber die sozialen und moralischen Fortschritte hinken weit hinterher, weswegen man auch deshalb kaum von Fortschritt sprechen kann. Zu beobachten sind derzeit sogar Rückschritte – und das ausgerechnet in den sich avanciert wähnenden westlichen Bevölkerungen. Hier wächst die Verunsicherung. Ängste vor sozialem und ökonomischem Abstieg, vor der Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch neue Technologien, vor Überwachung, Klimakatastrophen, Migrationsbewegungen, Kriegen und neuerdings Virus-Epidemien lähmen die Menschen oder machen sie aggressiv. Die bisher in Sicherheit und Wohlstand gebadeten Bewohner der westlichen Welt fürchten um ihren Status und ihren Besitz. Zu der Sorge, dass ihnen etwas weggenommen werden könnte, addiert sich ein Ohnmachtsgefühl. Das kratzt stark am Selbstbewusstsein. Wer in einer solchen depressiven Lage Ursachen und Wirkungen nicht begreifen kann oder will, wer sich nicht selbst befragt oder in Frage stellt, externalisiert seine Ängste. Die Unzufriedenheit mit sich und der Welt äußert sich in Wut gegen Dritte. Als Sündenböcke bieten sich »Andersartige« an, Menschen, die höher oder niedriger gestellt sind, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit anderer Meinung, mit anderer sexueller Orientierung oder mit anderem Geschlecht. Alles, was nicht als Norm definiert ist, darunter Frauen und das weibliche Prinzip (falls so etwas existiert), wird zum Wutablassen benutzt. Da Frauen überall und in großer Zahl verfügbar sind, scheinen sie sich hervorragend dafür anzubieten, um diffuse Ängste auszuagieren.

Und ausgerechnet eine Errungenschaft der Aufklärung und moderner Naturwissenschaften, der technologische Fortschritt, begünstigt derlei Regression. Bei Social Media-Plattformen steigt der Hate Speech-Pegel an. Incels (»involuntary celibates«, unfreiwillig zölibatär lebende, heterosexuelle Männer), MGTOWs (Vertreter der anti-feministischen Männerbewegung »Men Going Their Own Way«), Alt-Right-Anhänger, Rechtspopulisten oder Nazis sondern online Dinge von Beleidigungen über Flüche bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen gegen Frauen ab. Und sie erhalten dafür Zuspruch. Je mehr ihnen online zujubeln, desto eher trauen sie sich, lauter zu werden, sich öfter und vehementer zu äußern und offline tätlich zu werden. Insbesondere den Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, öffentliche Figuren sind und öffentliche Posten wahrnehmen, wird anonymisierter und unterdrückt-versteckter oder offener Hass entgegen gebracht. 

Doch genauso wenig wie der Norm-Mann existiert, gibt es die Norm-Frau, die sich pauschal als anders, fremd oder anormal abstempeln ließe. Und Frauen sind schon gar nicht »normale« Opfer. Frauen sind keine Opfer. Sie eignen sich jedoch als Spiegel. Ihre Situation dient allen Frauen und Männern, die Frauen den Rang der Gleichberechtigung absprechen, dazu, ihre eigenen Ängste und ihr Versagen im selbstverantwortlichen Umgang mit diesen zu reflektieren. Frauen sind soziale Seismographen. An ihrer Lage im sozialen Raum lassen sich zwar keine Bodenbewegungen wie bei Erdbeben oder Atomexplosionen ablesen, aber sehr wohl gesellschaftliche Erschütterungen. Derzeit registriert dieses sozio-seismische System viele und erschütternd hohe Frequenzen – Hinweise auf starke Ausschläge in aller Welt. 

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