#Thilo Sarrazin

Sarrazins Ein-Mann-Partei: Die Revolution verlässt ihre Kinder

von , 3.9.10

Der Fall Sarrazin ist noch lange nicht ausgestanden. Auch wenn er jetzt für immer aus der Bundesbank verbannt werden sollte, als Stichwortgeber wird er dennoch lange auf einer Bank am Spielfeldrand der öffentlichen Meinung sitzen bleiben.

Denn beim Stammtischgeschwätz ist es wie bei der Nationalmannschaft. Die Fans warten nach dem Spiel auf den Kommentator, der ihnen das Spiel mit seinem Wissen auseinander pflückt. Aber ein Netzer ist Sarrazin eben nicht. In Talkshows wirkt er wie ein spröder Finanzbeamter, der nebenbei nach Dienstschluss ein philosophisch-populistisches Buch geschrieben hat, das sich als perfektes Labsal für eine geschundene Nation blendend verkauft.

Thilo Sarrazin ist kein Pausenclown für ein genervtes, vielleicht sogar verängstigtes Bürgertum, das sich von der Regierung verraten und verkauft und um ihre Interessen betrogen fühlt. Er ist kein Möllemann und auch keine Eva Herman.

Vielmehr ist Sarrazins Haltung eine deutsche Tradition und damit gleichzeitig ungewollt ein sonderbar urdeutsches Phänomen: Der Bürger als selbsternannter Revolutionär. Der Enttäuschte, der das längst Erodierte zurückholen will. Und der eben nicht wie der liberale Revolutionär Tancredi in dem glanzvollen Roman „Der Leopard“ von Tomaso die Lampedusa stolz formuliert: “Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.” Aber es ist eben nicht die Veränderung, die das Thema dieses Romans ist. Sondern die Vergeblichkeit. Die Auflehnung gegen diese Vergeblichkeit ist für Konservative eine Revolution. Für Linke spießiges Querulantentum. Und für Liberale eine nervöse, geisterhafte Irritation.

Eben Thilo – nicht Thomas Mann

Dieses große, seit mehr als neunzig Jahren wirkungsvolle Paradoxon von der „konservativen Revolution“, die Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ 1918 politromantisch formulierte, dass eben nur durch etwas revolutionär Neues die alten Ideale erhalten werden könnten, ist der lauwarme, heute eher namenlose Traum praktizierender Privatanarchisten, die Stubenhockerei für innere Einkehr und Revolution als lautstarke Debatte unter verunglückten Bildungsbürgern halten.

Die große Ergänzung zu Manns Werk erschien im gleichen Jahr: Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“, in dem der ehemalige Gymnasiallehrer über die Unfähigkeiten von Kulturen – also auch Staaten – doziert, so hinreichend kreativ zu wirken, den eigenen Verfall aufzuhalten. Das alles sind eben jene Themen, die von Sarrazin auf seine Weise aufgeköchelt werden. Mit einiger Wahrheit, mit falschen Zahlen und sonderbaren Schlussfolgerungen, wie man inzwischen weiß. Richtige Fragen mit falschen Antworten zu garnieren, musste giftig wirken.

Willkommen im Untergang

Deutschland schafft sich ab – es ist ein altes Lied und man singt es immer wieder neu. Und der Tenor dieser allzu frommen, missionarischen Denkart feiert alle Jubeljahre seine mitunter pointierte Reinkarnation. Diesmal hat der Thilo zugeschlagen. Mit medialem Feuerwerk, Talkshowauftritten, Titelthemen und einer Extraportion Pfeffer in das Getriebe der öffentlichen Meinungsbildung.

Es kommt einem fast so vor, dass seit den „Satanischen Versen“ von Salman Rushdie kein Buch soviel Entsetzen und Begeisterung gleichermaßen auslöste. Henryk M. Broder entdeckte eine Hatz auf Sarrazin und nannte sie sogar „Hexenjagd“.

Sarrazins Bekenntnisbuch „Deutschland schafft sich ab“ soll satanisch sein. Instrumentalisiert als Untergangspolka. Und die wird auf einer Bühne gespielt, in der die schwarzgelbe Regierung unter Angela Merkel in eine gefühlte Bedeutungslosigkeit versunken ist und die gesamte Opposition in der Spätphase der Sommerpause wie eine Armee konturloser Pappkameraden wirkt.

Und nun ist er da: Thilo, die Ein-Mann-Partei. Er war immerhin Führungskraft der SPD. Nun sind seine Thesen „nah an der Rassenhygiene“, wie Sigmar Gabriel urteilt. Doch der Erzengel der SPD vergisst dabei, dass sein Kollege Sarrazin immer schon ein bisschen der Luzifer der Sozialdemokratie war. Als Finanzsenator von Berlin schreckte er vor nichts zurück.

Fällt so ein Rassenhygieniker eigentlich vom Himmel, möchte man fragen. Der muss doch schon vorher so gewesen sein. Oder?

Ob das Krisenmanagement der SPD, die sich ja gerade im Aufwind der Umfragen wähnt, dem Verdacht “Ex-Führungskraft brilliert als Antisemit und wird Deutschlands wortmächtigste Außerparlamentarische Generalopposition” überhaupt etwas entgegen zu setzen hat, muss bezweifelt werden. Wie auch? Sie war es doch schließlich, die Sarrazin erst in Führungspositionen brachte. Ihn jetzt als das zu entlarven, was er zu sein scheint, entlarvt vor allem eine Partei, deren Mitglied er noch ist.

Die Volksparteien gehen – Sarrazin kommt

Den besten Boden für Sarrazin haben die beiden großen Volksparteien gleichermaßen bereitet. Sie haben sich komplett von ihren Mitgliedern und Stammwählern entkoppelt: Innerhalb von zwanzig Jahren hat die SPD 46% und die CDU immerhin 33% ihrer Mitglieder verloren. Das hat seine Gründe.

„Die CDU, ob sie es wahrhaben will oder nicht, ist längst eine genauso sozialdemokratische Partei geworden wie die SPD“, schrieb Sebastian Haffner bereits 1980 in seinem Essay „Überlegungen eines Wechselwählers“. Eine langwährende Erosion also, bei der konservative Wähler vor den Kopf gestoßen, liberaler denkende Zielgruppen aber nicht langfristig an die Union gebunden werden konnten. Angela Merkel hat diesen Prozess beschleunigt, in Gang gesetzt hat sie ihn gewiss nicht. Gleiches gilt für die SPD, die antisozialistischer ist, als Linksbündler der Partei suggerieren mögen.

Sarrazin: SPD-Mitglied, Bundesbanker – und im Nebenberuf Ein-Mann-Partei.

Laut einer Emnid-Umfrage stimmen 69% der Wähler ihm zu: 39% von der CDU, satte 30% der Sozialdemokraten. Der Bundesbanker hat damit Werte, von der andere nur träumen können. Er war damit schon fast eine Ein-Mann-Klientel-Partei. Bei den Enttäuschten fand Sarrazin seine Befürworter. Nun hat ihn der Antisemitismusvorwurf zu Fall gebracht. Gestürzt ist Sarrazin allerdings noch lange nicht. Diese Revolution hat ihre Kinder längst verlassen. Der Phantomschmerz aber bleibt. Wann kommt Thilo wieder?

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