von Dirk Pilz, 19.5.12
Es gibt kein Zurück. Das immerhin lässt sich festhalten. Seit fünf Jahren ist nachtkritik.de online. nachtkritik.de heißt: Theaterkritik im Internet. Heißt also: Kritik im Netz, Journalismus online geht. Dennoch bleiben Fragen, natürlich.
Die Idee eines überregionalen, unabhängigen Theaterfeuilletons war schnell da. Aber wir wussten damals auch noch nicht, was es heißt, mit der Theaterkritik ins Internet zu ziehen. Es gab so etwas zuvor ja nicht.
Am Online-Tag eins, am 4. Mai 2007, erschien auf nachtkritik.de ein Text von Robin Detje, Theaterkritiker für Print einst, Übersetzer und Performer inzwischen. Es war ein Grußwort zum Umzug. Der letzte Satz lautet: “Wer sich nicht verändern will, soll jedenfalls lieber gar nicht erst umziehen.”
Gegenverkehr in der Einbahnstraße
Wir wollten verändern, uns und die Theaterkritik, wir wollten uns selbst überraschen, ohne Fertigrezepte für die große andere Kritik in der Tasche zu haben. Aber wir wollten, sagten wir damals, die “Einbahnstraße der Kritik für den Gegenverkehr” öffnen, wollten runter vom Richterstuhl, dem Hochsitz der Besserwisserei, weil das uns nicht mehr der passende Ort schien, um Kritik zu betreiben. Die Nachtkritik stellten und stellen wir uns immer noch vor als erste professionelle Stimme, die ein Gespräch anbahnt. Das Gutsherrentum hielten wir in theaterkritischen Belangen für überholt, also langweilig, unergiebig, den Glauben an Fertigrezepte auch. Aber wir wollten keineswegs die kritischen Ansprüche aufgeben, sie selber jedoch überprüfen. Also auch uns in Frage stellen lassen, zum Beispiel durch die Leser und ihre Kommentare.
Zu den Kommentaren später. Vorher eine kurze Inventur. Die äußeren Fakten sind schnell erzählt. nachtkritik.de ist auch klickmäßig sehr erfolgreich, knapp 200.000 Besuche im Monat, stetig wachsende Zugriffszahlen. Aber das allein sagt noch nicht viel, außer: nachtkritik.de hat mehr Leser als alle anderen Fachmedien zusammen. Es ist dennoch nach wie vor ein Zuschussgeschäft, weil Werbung allein bislang die Kosten nicht deckt. Die Seite verschlüsseln und Abos verkaufen möchten wir nicht, weil wir glauben, das Internet hat es als offener Ort besser. Es lohnt sich, ihn zu gestalten, statt dem Wildwuchs zu überlassen oder die Inhalte wegzusperren.
Von hier ab wird es kompliziert. Allein: das Internet und der Journalismus. Es gibt sie noch, die Leute, für die das Internet bloße Rumpelkammer ist, Abstellfläche für das, was in Zeitung, Radio, Fernsehen keinen Platz findet, oder bloße Plattform für Hobbykritiker. Für die im Netz zu publizieren respektive zu lesen einer Niederlage gleichkommt. Für die es hier um einen Glaubenskrieg geht, neue gegen alte Medien, richtiger Journalismus gegen falschen, Shitstorm gegen Seriosität. Für die das Netz nur aus anonymen Nestbeschmutzern besteht, einem Sammelbecken für Mob und Mobbing. Die das Medium schon für die Botschaft halten. Sie werden weniger.
Das Internet lässt sich genauso wenig abschalten wie die Erfindung des Papiers zurücknehmen, obwohl es Gründe gäbe, das zu wünschen – es gibt so viel Unsinn auf Papier, so viel Schmutz und Schmuddel, nicht nur in BILD & Co., auch dort, wo man sich qualitätsmäßig auf der sicheren Seite wähnt. Es kommt eben immer und überall darauf an, was mit Medien gemacht wird. So einfach ist das.
Die Sache mit den Argumenten
So einfach ist es natürlich nicht. Kürzlich hat eine Zeitung, die sich unbedingt in der Kategorie Qualitätsjournalismus einsortiert sehen will, die Süddeutsche, ein israelkritisches Gedicht eines deutschen Nobelpreisträgers gebracht, das ein anderes Blatt mit nicht minderem Qualitätsanspruch, Die Zeit, keinesfalls drucken wollte, weil: zu schlecht, zu sehr Stammtisch. Dort hielt man die erwartbare Empörung für notwendig, hier für irreführend, wenn nicht schädlich. Ein Konsens wurde in der Debatte hernach nicht gefunden.
Daran ist nicht das Papier schuld, nicht die Kommentarflut zu den jeweiligen Texten im Netz (man lese die Foren auf sueddeutsche.de und zeit.de!, was da alles steht!, oh weh). Vielmehr ist dies ein weiteres Lehrbeispiel dafür, dass es keinen in Stein gemeißelten Kriterienkatalog gibt, an dem sich ablesen ließe, was und wo Qualität ist. Es entscheidet sich mit jedem einzelnen Text wieder neu. Mit jedem, überall. Nicht deshalb, weil ein Text, sagen wir, in der Zeit erscheint, ist es ein guter Text, nicht der Ort des Erscheinens entscheidet darüber, sondern der Text.
Das zum Beispiel hat sich in den Pressebüros der Theater noch nicht herumgesprochen; ich kenne keinen Pressespiegel, der nicht die positive Kritik aus der Zeit immer vor die aus der, zum Beispiel, Lausitzer Rundschau heftet. Die Markengläubigkeit ist enorm, das Lesevermögen gering ausgebildet.
Es gilt hier offenbar, was auch sonst gilt: Argumente allein überzeugen kaum. Man kann das beklagen – es ist beklagenswert! –, aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass alle Debatten, gerade im Theaterbetrieb, macht- und oft genug filzgesteuert sind. Das schadet, auf lange Sicht, allen Beteiligten.
Die derzeit wieder mit Heftigkeit geführte Diskussion über Anonymität im Netz hat damit durchaus zu tun: mit der Frage, wer warum sprechen darf und soll. Seit fünf Jahren gibt es nachtkritik.de auch deshalb, weil wir uns mit dieser Frage beschäftigen. Weil wir meinen, dass dies eine entscheidende Frage ist: Wer soll wann und warum über Theater sprechen dürfen? Und wie? Ja doch, diese Frage stellt sich auch ohne Internet, aber mit dem Netz wird sie unüberhörbar.
Die Sache mit der Form
Damit sind wir bei der Frage nach der Form. Tobi Müller, Theaterkritiker, Juror, hat jüngst beklagt (hier und hier), journalistisch hänge die Kritik im Netz noch immer am Tropf der alten Tante Zeitung. Auf nachtkritik.de zum Beispiel seien die meisten Texte so geschrieben, dass sie im Print erscheinen könnten. Stimmt. Fast alle nachtkritik-Autoren arbeiten auch für Tageszeitungen. Aber das ist nicht das Problem.
Kritik heißt hier wie dort, etwas unterscheiden, Differenzen erkennen und beschreiben können. Es heißt, Unterschiede zu erwarten, auch Unterschiede von der eigenen Erwartung, vom eigenen vermeintlichen Bescheidwissen. Das ist keine Frage des Publikationsortes, sondern der Haltung.
Die Kritik, sagt Tobi Müller, könne aber der Kunst keine Antworten mehr geben. Konnte sie es je? Sollte sie es können? Sie sollte ins Gespräch mit ihr kommen können. Sie kann das in vielerlei Weise, zum Beispiel auch “ungeschützter, offener, dialogischer, experimenteller” als bislang (Müller). Oder vorsichtiger, nüchterner, geschützter. So oder so will das Recht auf Irrtum erarbeitet sein, kann Kritik nur genannt werden, was mehr ist als Urteils- oder Wissensverkündigung.
Als nachtkritik.de startete, meinten wir, das Dialogische, das Experimentelle würde zunehmen in Texten, die über Nacht entstehen; wir hielten das für wünschenswert. Es nahm nicht zu. Denn nachtkritik.de ist ein Autorenprojekt. Es schreiben von Bremen bis Basel, von Greifswald bis Graz sehr verschiedene Kritiker sehr verschieden. Die Vielfalt ist größer als offline, das immerhin. Manche schreiben, wenn sie auf nachtkritik.de schreiben, vorsichtiger, weil sie wissen: Es gibt den Gegenverkehr, die Nachfragen und Gegenargumente; manche schreiben auch ungeschützter, im Wissen darum, der eigene Text ist nur eine erste Stimme.
Die Abläufe sind jedoch immer identisch: Alles wird von der Redaktion redigiert, nichts erscheint einfach so. Aber es wird eben über Nacht geschrieben. Den Leser einer Kritik interessiert das nicht, warum auch, zumal alle Texte im offenen Archiv bleiben. Dass Texte schlechter sind, weil sie nächtens geschrieben werden, glauben ohnehin nur die, die glauben, dass automatisch besser wird, was lange währt. Das kann allerdings nur glauben, wer auch glaubt, dass Kritik nicht nur genau in den Beschreibungen und Argumenten sein sollte, sondern auch abschließend im Urteil.
Diesen Glauben hat nachtkritik.de, siehe oben, aufgegeben. Dennoch könnten die Texte offener, dialogischer, vielfältiger sein. Aber nicht, weil die Kritik im Netz steht, sondern weil das Theater vielfältig ist – dass man über alles in der immergleichen Weise und mit der immergleichen Vormeinung schreibt, steht generell unter dem Verdacht der Holzköpfigkeit.
Die Sache mit den Kommentaren
Jetzt zum heikelsten Thema: den Kommentaren. Hat nachtkritik.de die Schleusen für den Shitstorm geöffnet? Braucht es das überhaupt, Kommentare? Es braucht sie, wenn man die Leser nicht als Abfüllbehälter für Texte, sondern als Gegenüber, potentiellen Gesprächsteilnehmer betrachtet. Wenn man sie nicht als Schüler sieht, die zu unterrichten sind. Wenn man glaubt, von allen etwas lernen zu können.
Ich habe zwei Beobachtungen gemacht. Erstens: Dass Journalismus nicht mehr nur bedeutet, der vermeintliche Fachmensch X teilt dem Leser Y mit, wie er Z zu bewerten hat, dass also die festgeschriebenen Kompetenzhierarchien schwinden, erlebt die Medienöffentlichkeit als Schock. Die Hierarchien müssen sehr zementiert, die Angst vor dem Leser (oder die Verachtung gar?) muss groß sein; das ist wahrscheinlich mehr als die Angst vor Machtverlust, es ist die Angst davor, der Hochstapelei oder Irrelevanz überführt zu werden.
Auch hier gilt eben: Ein Urteil überzeugt nicht einfach deshalb, weil es aus einer bestimmten Hierarchie heraus, von einem bestimmten Ort aus gesprochen wird; es kann nur aus sich selbst heraus überzeugen. Das ist es, was das Vorhandensein von Kommentaren, die Öffnung für den Gegenverkehr im Journalismus idealerweise bedeutet. Dass mehr und andere am Argumente-Tausch beteiligt sein sollen, müssen daher alle als Skandalon erfahren, die stärker auf Hierarchien statt auf Argumente vertrauen.
Es gibt – unter einem Teil der Leserschaft – wohl vor allem deshalb eine geradezu neurotische Fixierung auf die Kommentare bei nachtkritik.de, weil sie von diesem Skandalgeruch umgeben sind: Sie stellen überkommene Deutungsstrategien in Frage. Dass die in den Threads geäußerten Meinungen dabei zuweilen eins zu eins für die Meinung der Redaktion von nachtkritik.de gehalten wird, lässt sich noch in der Abteilung Absurdes abbuchen. Dass aber ausgerechnet in Theaterkreisen derart viele dem Volk am liebsten das Maul zusperren wollen, um am Hofe unter sich bleiben zu können – das ist verräterisch.
Das mit der Anonymität
Die Aufregung um die Kommentare hat ja damit zu tun, dass in ihnen keineswegs immer, aber auch so gesprochen wird, als säße man in der Kantine, oder ärger, am Küchentisch. Wir haben deshalb von Anfang an jeden Kommentar gelesen und im Zweifelsfall, in Fällen der Beleidigung, bloßen Gerüchtemacherei, Verleumdung oder Unterstellung, nicht veröffentlicht, und über die Jahre die Veröffentlichungsschwelle angehoben, anheben müssen. Wir betreiben klassisches Gate-Keeping. Ohne geht es nicht, ohne verlöre sich das Gespräch allzu oft entweder in Geplauder oder Geschimpfe. Jeder Dialog muss gestaltet werden, auch dieser.
Aber muss er mit anonymen Beteiligten geführt werden? Das ist die Standarderwiderung. Wie oft, wurde mir häufig erzählt, säßen da Schauspieler deprimiert in der Kantine, weil jemand in den Kommentaren geschrieben habe: kein guter Schauspieler. Und was ist besser oder anders, könnte man fragen, wenn ich unter meinem Namen schreibe: kein guter Schauspieler. Dann stehe eben ein Name drunter, dann wisse man schon Bescheid: der Pilz wieder. Es ist sehr leicht und geschieht sehr schnell, dass überhört wird, was man sagt, wenn es einem Namen zugeordnet werden kann. Das ist hilfreich, weil es die Verantwortlichkeiten klärt (tja, der Pilz wieder); das ist es nicht unbedingt, wenn zur Sache gesprochen werden will.
Ohne die gesamte Debatte zur Anonymität im Netz hier aufrollen zu können – vielleicht hilft schon die Erinnerung daran, dass anonyme Autorenschaft keine Erfindung des Internets ist. Luther oder Kleist zum Beispiel: berühmte Anonyme der Vor-Digitale, die ohne Namensnennung ihre Argumente vortrugen, weil das, was sie zu sagen hatten, nicht an ihrem Namen hängen sollte. Und weil sie es namentlich nicht hätten sagen können oder dürfen. Das ist die Chance der Anonymität: dass das Argument zählen möge, dass man nicht fürchten muss, für seine Meinung bestraft zu werden. Das ist natürlich auch die Gefahr: dass wahl- und rücksichtslos aus der Hecke geschossen wird. Wir haben uns für den Mittelweg entschieden: Anonymität soll möglich sein, aber in moderiertem, möglichst liberal gehandhabtem Rahmen.
Und das mit der Kunst
Zur zweiten Beobachtung in diesem Zusammenhang: Sie hat mit Kunst zu tun, also mit dem Kerngeschäft des Theaters. Es geht, letztlich, im Gespräch über Theater um diese eine Frage: Kunst oder nicht? Die Wahrheit hat hierbei keinen festen Wohnsitz, sie lässt sich nicht feststellen, festschreiben, sondern nur gemeinsam sprechend, schreibend, zuhörend herausfinden. Ob etwas Kunst, ob es gut, gelungen ist, ist Sache des gemeinsamen Gesprächs. Die besten, sachdienlichen Threads auf nachtkritik.de, es gibt viele, handeln genau davon.
Dass die Wahrheit in Kunstfragen keinen festen Wohnsitz hat – das ist, meine ich, im Grunde eine Selbstverständlichkeit, die nur für Markenfromme oder Hochsitzinhaber nicht gelten mag. Es ist die Grundmaxime von nachtkritik.de. Sie gilt für Kritiker wie für Leser. Kennerschaft ist eine Voraussetzung für die Befähigung zur Kritik, aber keine hinreichende. Das bloße Auskennen ist genauso wenig ein Kennzeichen von Qualität wie das schiere Haben einer Meinung. Man muss begründen können. Zum Begründungsgeschäft gehört allerdings auch das Hören auf Einwände, sonst ist man im autistischen Selbstgespräch.
Kurz nachdem nachtkritik.de online gegangen war, schrieb damals ein Kollege der Main-Spitze: “Liebe Kollegen: Ihr übt also noch.” So ist es, wir üben noch, auch im Jahre fünf. Wir glauben allerdings, dass des Übens kein Ende ist. Das immerhin haben Theater, Kritik und Journalismus gemeinsam: Wo das Üben aufhört, wird’s öd. Am Ende droht der Tod aus Langeweile oder Irrelevanz.
nachtkritik.de wurde im Mai 2007 von den Theaterkritikern Petra Kohse, Esther Slevogt, Nikolaus Merck und Dirk Pilz sowie dem Bildenden Künstler Konrad von Homeyer gegründet.