#Finanzkrise

Rückkehr des Politischen?

von , 12.12.08

Dieser Text ist die Langfassung des Beitrags “Der Neoliberalismus wird uns erhalten bleiben – als Technik des Selbst”.

Es war zweifellos eine der ersten und auffälligsten Folgen der globalen Finanzkrise: dass binnen weniger Wochen etwas plötzlich wieder als öffentlich diskutierbar galt, was dies im Grunde zehn, zwanzig Jahre lang nicht mehr war: “Konjunkturprogramme”. Und so sollte es bis zum heutigen Tag bleiben. Dass immer mehr neoliberale Denkverbote fallen und immer mehr neoliberale Grundsätze künftig nichts mehr gelten werden, scheint unter den nachhaltigen Folgen der Krise zu den wenigen zu zählen, die man heute mit einiger Sicherheit prognostizieren kann. Entsprechend werden inzwischen auch schon überall die Totenglocken geläutet, und häufen sich die Nachrufe. Auch ein Ökonomie-Nobelpreisträger antwortete so gerade in einem Artikel zur Finanzkrise auf dessen Titelfrage “Das Ende des Neoliberalismus?” mit einem klaren “Ja”.

Noch eindringlicher sind außerdem vielleicht die Formen, in denen dieser Erdrutsch sich in den Medien abbildet. Und vor allem die eigentümlich emblematischen Momente, die dabei immer wieder herausspringen. Wie am Abend des 11. November – als man in der ARD plötzlich “Das Kapital” in die Kamera gehalten fand. Von Sandra Maischberger. Zum Auftakt einer Talk-Sendung unter dem launigen Titel: “Marx hatte recht! Gebt uns den Sozialismus zurück”. Hier hält man sich gewissermaßen nicht lange mit Totenwachen auf. Hier wird die klaffende Lücke sofort wieder gefüllt, folgt sogleich die Wiederauferstehung Totgesagter (Während das Video der Sendung auf der “Menschen-bei-Maischberger»-Website läuft, steht das Wort gleich nochmals ganz fett gedruckt darüber: Hier wird das Thema der Sendung nun in die Frage gefasst “Brauchen wir mehr Sozialismus?”).

Da denkt man dann schon mal schnell, dass es ja eigentlich wirklich ziemlich heftige Erschütterungs- und Schockwellen sind, die da gerade offenbar so durch die Hirne, ‘den Diskurs’ und die gesellschaftliche Gesamtstatik rumpeln (und meint es buchstäblich knirschen zu hören). Kommen wir jetzt also vielleicht tatsächlich – wenigstens – wieder zurück zum status quo ante (also so 1970-er Jahre sagen wir mal)? Wird bald wieder selbstverständlich sein, dass das schöne, immer fettere Mehrprodukt, das die Weltgesellschaft Jahr für Jahr erwirtschaftet, vom Markt letztlich immer ganz ungeschickt, unsinnig und ungerecht verteilt wird? Und dass demokratische Staaten mit frei gewählten Parlamenten darum erst mal schon ein ganz vernünftiges Mittel darstellen (so lange es keine bessere Idee gibt), da sehr umfassend nachzuregulieren und umzuverteilen – und z.B. auch einen möglichst fetten Teil vom Kuchen für so feine Sachen wie Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur abzuzweigen (oder zu deren Förderung auch mal kräftig Schulden zu machen)? Werden alle prominenten öffentlichen Debatten sich bald wieder allein darum drehen, wie der Staat das alles noch ein bisschen geschickter anpacken kann, in welche Richtung der Wohlfahrtsstaat weiter (bzw. erst mal wieder) auszubauen, und welche Industriezweige (etwa im Dienste des Umweltschutzes) staatlicherseits massiv zu fördern wären? Ist mit dem ganzen Neoliberalismus also nun wirklich richtig Schluss? Kommt die neoliberale Epoche nun endlich auf den Müllhaufen der Geschichte, auf den sie gehört (den für besonders heftig strahlenden Abfall)?

Versteht man unter ‘Neoliberalismus’ einfach eine ‘Wirtschaftsideologie’, die mal mehr Einfluss hat, und dann auch mal wieder weniger (und vielleicht irgendwann dann eben auch gar keinen mehr), so scheinen die Chancen dafür zur Zeit zunächst tatsächlich nicht so schlecht zu stehen. Nach zwanzig, dreißig neoliberalen Jahren (nicht wenige haben in ihrem Leben gar nichts anderes erlebt) liegt es allerdings nahe, dass es sich hier um etwas dann doch noch ein bisschen Komplizierteres handeln dürfte.

Man müsste also offenbar zunächst mal fragen, was man unter ‘Neoliberalismus’ so alles verstehen könnte (und sinnvollerweise verstehen sollte) – und wie das alles dann eventuell auch noch untereinander zusammenhängt. Bevor man überhaupt – sinnvoll – fragen kann, wie viel Zukunft das alles noch hat (oder nicht hat), und welchen Unterschied die aktuelle Krise dabei tatsächlich machen könnte.

Zweierlei ‘Neoliberalismen’ (der des Fernsehens und der nach Foucault) – und wie sie zusammenhängen

Da gibt es, wie angedeutet, offenbar zunächst einmal den ‘Neoliberalismus’ der alltäglichen politischen Auseinandersetzung – jenen Neoliberalismus anders gesagt, gegen den die PDS (und mitunter auch die SPD) angeblich antritt, und der auch in Polit-Talkrunden und Sonntagsreden (und Feuilletons) immer wieder gerne angeklagt wird. Jener Neoliberalismus also, mit dem eigentlich nicht viel mehr gemeint ist als ‘Marktradikalismus‘: die Verteufelung des Staates als ‘Marktteilnehmer’, der totale Bannstrahl über staatliche Subventionen und Investitionen, die Behandlung von Staatsverschuldung (insbesondere für Konjunkturprogramme, das sog. ‘deficit spending’) als Teufelszeug. Sowie die andere, aggressivere, offensivere und vielleicht noch offensichtlichere Seite dieses ‘Marktradikalismus’: die nachdrückliche Forderung nach einem möglichst kompletten Rückbau des Sozialstaates, und (sozusagen stattdessen) nach allseitiger und umfassender ‘Privatisierung’. Nach einer Übertragung letztlich aller öffentlichen und kulturellen Aufgaben aus staatlicher in ‘private Hände’ also zum Einen: nach ihrer möglichst ausschließlichen Erfüllung durch ‘private Träger’, unter ‘betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten’ und unter Verwendung privater Spenden und ‘Sponsoren-Gelder’ (statt unter Verwendung von Steuer-Geldern). Zum Anderen, zugleich, und in der Konsequenz, geht es damit aber außerdem immer auch um eine ‘Privatisierung’ der gesamten persönlichen Daseinsvorsorge und aller persönlichen Lebensrisiken: Die Lösung aller entsprechenden Fragen und Probleme soll ganz an den Einzelnen ‘zurück delegiert’ werden. Er soll alles selbst planen, für alle Eventualitäten selbst vorsorgen, und seine Lebensführung entsprechend anpassen. (Und dies, während zugleich ‘moderate Lohnabschlüsse’ oder gar ‘Lohnverzicht’ gepredigt werden sowie eine eher wirtschafts- als konsumentenfreundliche Steuerpolitik).

In diesem Sinne – als ‘polit-ökonomisches Programm’; als Sammelsurium von Forderungen nach einer Ent-Politisierung der Gesellschaft, des Staates und der Politik; und als Grundlage für entsprechendes Regierungshandeln, entsprechende politische Entscheidungen, entsprechende Gesetzgebung – ist Neoliberalismus nun offenbar tatsächlich einfach von politischen Stimmungen abhängig, kommt er und geht er mit wechselnden Mehrheitsverhältnissen, nimmt sein Einfluss je nach Lage mal ab, mal zu. Und scheint sein Einfluss in Folge der globalen Krise aktuell tatsächlich (erst einmal) allgemein erheblich zurück gegangen zu sein – wie nicht zuletzt auch schon die nach der Bankenkrise sogleich deutlich besseren Umfrageergebnisse für Obama zeigten.

Mit den Konsequenzen aus dem Punkt ‘Privatisierung’ kommt man nun aber zugleich auch schon zum ‘Neoliberalismus’ im zweiten Sinne – dessen Einfluss nicht so einfach an die Fieberkurven der öffentlichen Meinung angeschlossen ist. Zu der Bedeutung also, die der Neoliberalismus-Begriff vor allem im Anschluss an die Studien von Michel Foucault zu neuzeitlicher ‘Gouvernementalität’ erhalten hat (zu den Metamorphosen mithin, so könnte man vereinfacht sagen, denen die ‘Techniken des Regierens großer Bevölkerungen’ seit dem Beginn moderner Staatlichkeit unterliegen; und die sich immer wieder zu relativ geschlossenen ‘Dispositiven’, also Komplexen von ineinander-greifenden Techniken verdichten – wie zuletzt etwa, bis zum Ende des wohlfahrtsstaatlichen ‘Paradigmas’, in Gestalt disziplinargesellschaftlicher Regierungstechniken).

Entsprechend hat Foucault in diesem Zusammenhang zwar auch jene unmittelbar staatlich-gesetzlichen Maßnahmen behandelt, die im Zuge des ‘Marktradikalismus’ getroffen werden – und die die Gesamtbevölkerung als abstrakte, anonyme Größe behandeln und betreffen. Er fügte dem nun aber auch noch eine Untersuchung der weniger offensichtlichen Rückseite sozusagen der neoliberalen Gouvernemantalität hinzu – jener Mikropolitiken, so könnte man auch sagen, die ‘Neoliberalismus’ erst zu einem (relativ) stabilen Herrschaftstypus gemacht haben.

Und demnach handelt es sich bei ‘Neoliberalismus’ dann eben auch nicht (nochmals unterstrichen: nicht) einfach um eine ‘Wirtschaftsideologie’. Und dies vor allem, weil die Lage, in die der neoliberale Staat die Einzelnen nötigt, bei diesen eine ungeheure neue Produktivität erzwingt und freisetzt. Die Abrüstung der öffentlichen Sicherungs- und Disziplinarsysteme wird gewissermaßen durch eine Aufrüstung des Einzelnen kompensiert. Diese geht teils auf die Kreativität der Einzelnen selbst zurück, teils darauf, dass ihre neue Hilfsbedürftigkeit auch zusehends als neuer Markt entdeckt wird. Das Ergebnis ist dann jedenfalls eine ungeheure Vielfalt neuartiger Praktiken und ‘Selbsttechniken’, die nun den Alltag des Einzelnen durchziehen – und nun (anstelle staatlicher Sicherungssysteme; aber auch anstelle obrigkeitsstaatlicher und öffentlich-rechtlicher Vorselektion des ‘Wahren’ und ‘Guten’ etwa) versprechen, ihn sicher durchs Leben zu bringen, alle lauernden Untiefen clever umschiffen, und alle Probleme letztlich glücklich bewältigen zu können.

Um diese Vielfalt hier wenigstens andeuten zu können, seien einige Stichworte aus der heute vielfach verzweigten Forschung zu ‘neoliberaler Gouvernemantalität’ genannt, die exemplarisch gleich auf eine Mehrzahl entsprechender Einzelpraktiken verweisen. So gehört demnach nicht zuletzt auch die Vielfalt heutiger Angebote zur ‘selbstbestimmten’ Mediennutzung hier hin, all die Möglichkeiten also, bei der Wahrnehmung des verfügbaren Angebots selbst selektiv tätig zu werden, beziehungsweise im Hinblick auf die Selektion selbst eine erhebliche Produktivität zu entwickeln (das Angebot zahlloser Sparten-Fernsehkanäle zu prüfen, einige zu abonnieren, andere nicht; die Möglichkeiten, alles rasch ‘herunterzuladen’, endlose Archive anzulegen, DVDs zu sammeln – und zu entscheiden, wann man was, in welcher Reihenfolge und mit welchen Prioritäten, ‘durchsieht’ usw.). Und hinzu fügen ließe sich in diesem Sinne dann auch noch die Möglichkeit zur regelmäßigen Auswertung individuell zusammengestellter, direkt auf das eigene ‘Nutzerprofil’ abgestimmter Datenmengen etwa (die Inskription in E-Mail-Listen und Newsgroups; die Abonnierung von Newslettern und Buch-, Musik-, Film-, Ausstellungs-Empfehlungen usw.). Und schließlich ließe sich der offenbar zunehmend selbstverständliche Rückgriff auf ein wachsendes Angebot von Psycho- und (Selbst-)Motivationstechniken nennen – die die ‘Arbeit an sich’ in ‘Highspeed’ zu phantastischen Erfolgen zu führen versprechen (auch wenn solche ‘Techniken’ wohl vor allem eine beständige Arbeit am Glauben an sie nötig machen – wie heute insbesondere die Fernseh-Casting-Shows bezeugen: Nicht nur sind hier alle beständig vor allem mit dieser Arbeit ‘am Glauben’ beschäftigt; dass dieser Glaube ständig erneuert und ‘gefüttert’ sein will, dürfte auch ihren eigentlichen gesellschaftlichen Existenzgrund abgeben).

Eine andere Variante der Versuche, anhand solcher Beispiele zum entscheidenden Punkt durchzudringen, bilden Bemühungen, Jürgen Links ‘Normalismus’-Theorie entsprechend zu aktualisieren. Demnach ginge es im Neoliberalismus nun nicht mehr um eine ‘von außen eingetrichterte Normalität’ sozusagen, sondern um die Nötigung zur Selbst-Normalisierung und ‘Selbst-Einregulierung’. Außerdem könnte man im Anschluss dann sagen: Im Neoliberalismus wird nicht nur die Spannbreite des ‘Normalen’ größer, es wird zudem sogar leichter, auch noch davon abzuweichen – zugleich aber wird dies auf neue Weise riskant: Bewegt man sich bewusst (oder auch nur ‘aus Versehen’) weit weg vom Mehrheitsfähigen und ‘Marktgängigen’, so handelt man nun (vor allem ökonomisch) ganz ‘auf eigenes Risiko’ und ‘eigene Rechnung’, und muss alle Folgen also auch selbst und ganz allein tragen.

In all dem deutet sich nun jedenfalls auch schon an, was nach Foucault als zentraler Effekt der ‘neoliberalen Epoche’ zu verstehen wäre: dass diesen neuen Praktiken und Selbsttechniken schließlich auch noch eine neue Form von ‘Subjektivität’ (von subjektiven ‘Selbstverhältnissen’ und ‘Selbstverständnissen’) entspringt – die im Gebrauch dieser Praktiken zugleich fortlaufend reproduziert und bestätigt wird. So lange, bis diese neue ‘Subjektivitäts-Form’ sich selbst schließlich ganz natürlich erscheint. Irgendwann erscheinen der neoliberale Staat und die neoliberale Wirtschaft, mit anderen Worten, dann auch einfach nur noch wie der passende und der allernatürlichste Rahmen, ja geradezu als der idealste aller nur denkbaren Lebensräume für diese ‘neuen Individuen’ und ‘Subjektivitäten’ – die sich selbst nun als grenzenlos flexibel entwerfen, und ihr Leben als zu managendes Risiko.

Die ursprünglichen Zusammenhänge hätten sich demnach also sozusagen unterwegs umgekehrt. Irgendwann war es soweit (in Deutschland vielleicht so um das Jahr 2000): Irgendwann war es nicht mehr einfach so, dass der staatlich-ökonomische Komplex des Neoliberalismus als funktionslogisch notwendiges Anhängsel auch noch das ganze mikropolitische Selbstregierungs-Klimbim drumrum mitführte. Dieses ganze Klimbim hatte nun vielmehr – und vor allem – ein ganz erhebliches Eigenleben entwickelt. Der Neoliberalismus hat sich am Ende sozusagen seine eigene ‘Kultur’ erschaffen und ist seither nun vor allem hier produktiv und höchst lebendig: als kulturell-mediale Alltagspraxis, als ‘postmoderne’ Lebensweise, als neuartige Lebensform. Und das heißt vor allem: Er hat insgesamt erheblich an Schwerkraft gewonnen, ist zu etwas sehr Trägem geworden, ist zu einer Art neuer Tradition geronnen, und hat sich so zugleich auch zu einem geradezu epochalen Syndrom verdichtet – aus dem man darum nun auch nicht mehr so ohne Weiteres ‘aussteigen’, das man nicht mehr so einfach abstreifen, nicht mehr von heute auf morgen abschütteln, wegwerfen, entsorgen (und gegen etwas anderes austauschen) kann.

Die Krise und die neoliberale Lebensform

Was bedeutet dies alles nun für die Frage nach einem möglichen Ende des Neoliberalismus? Angesichts der kommenden, womöglich größten Weltwirtschaftskrise seit der der 1920er Jahre ist im Anschluss daran zunächst das Offensichtlichste festzuhalten: Sie trifft auf eine ganz andere Ausgangslage als diese letzte große Depression – die in den USA in den ‘New Deal’ mündete, im Nachkriegseuropa ganz wesentlich den Aufbau des ‘Wohlfahrtsstaates’, und international den von ‘ordoliberalen’ Rahmungen und massiven Regulierungen nicht nur der Geldmärkte motivierte.

Vor allem aber bedeutet es, dass ein ‘wirkliches Ende’ des Neoliberalismus offenbar voraussetzen würde, dass (auch) die neoliberale Lebensform deutlich enttäuscht – sie also deutlich fühlbar und unübersehbar unattraktiv würde. Dagegen scheint sie sich nun aber schon sozusagen selbst-immanent immunisiert zu haben: Wenn man mit ihr nicht glücklich ist, nicht zum Zuge kommt, liegt es ihrer Logik nach ja stets an einem selbst, muss man irgend etwas falsch machen, noch irgendeine Optimierungsmöglichkeit übersehen haben (und diese Lebensform also nur noch um so intensiver leben).

Angesichts der aktuellen Krise, könnte man meinen, müsste aber nun doch auch noch die und der Letzte kapieren, dass das alleine nicht reichen wird – und es doch an ziemlich deutlich anderen Sachen liegt, wenn es nicht so richtig rund läuft (für die Gesellschaft insgesamt wie für einen selbst). Doch selbst das eben könnte auch noch ganz anders ausgehen. Irgendwie nämlich schien es ja vielmehr so, als habe der Neoliberalismus – umgekehrt – gerade kurz vor den Finanzmarkt-Horrormeldungen deutliche Symptome von Unattraktivität gezeigt: die Zustimmung zu linken Parteien wuchs auffällig; der Sozialabbau schien dann doch langsam allen zu weit zu gehen; Bildung und Kultur schienen die neoliberalen Rosskuren dann doch allzu schlecht zu bekommen; und die Gewerkschaften begannen gerade wieder, doch noch einmal deutlich mehr vom Kuchen zu fordern.

Zugespitzt gesagt: Nach der Finanzkrise – in der auf sie folgenden Rezession – dürften all die altbekannten neoliberalen alltagspraktischen Beschwörungsformeln nun eigentlich allererst wieder eine Chance auf Gehör erhalten (dass die Bäume nun einmal nicht in den Himmel wachsen, und sich jeder Einzelne ‘in so einer Situation’ darum dann eben auch einmal besonders anstrengen müsse usw.). Im Zuge der weltweiten Rezession könnte die neoliberale Lebensweise sogar (überhaupt) erst wieder einen Sinn erhalten: als ein (scheinbar) probates Mittel, um für sich selbst noch Schlimmeres abzuwenden.

Die (neue) Attraktivität der neoliberalen Lebensform: Politischer statt ökonomischer Sinn?

In jedem Fall aber kommt so in den Blick, dass die Zukunft des Neoliberalismus heute vielleicht eigentlich zu allerletzt von der – aktuellen, vordergründigen – Attraktivität und Überzeugungskraft ‘marktradikaler Positionen’ abhängt. Dass also über sie vielmehr ganz andere Umstände und Faktoren entscheiden dürften. Und dies nicht zuletzt, sondern vielleicht vor allem, weil – wie die obige Darstellung verdeutlichen sollte – Neoliberalismus offenkundig auch vielfältig verquickt und verzahnt ist mit der Attraktivität von (sowie mit dem heute erreichten, wertvollen Maß an) Individualismus und Selbstbestimmung, kultureller Vielfalt und Meinungspluralismus. Denn darum erscheint ein Unattraktivwerden der neoliberalen Lebensweise ‘als Ganzer’ heute dann offenbar nicht nur unwahrscheinlich – sondern auch gar nicht wünschenswert.

Auf der anderen Seite aber macht dies nun zugleich auch deutlich, in welchem anderen Sinne die Krise derzeit offenbar dann doch noch für eine buchstäbliche Ent-Täuschung (auch) der neoliberalen Lebensweise sorgt. Der ökonomische Bann, in dem die ganze entfesselte individuelle und kulturelle Produktivität all die letzten Jahre stand, scheint sich plötzlich als genau das zu erweisen: als fauler Zauber. Der einzige Sinn, den der Neoliberalismus dem allem gab, und der einzige Ertrag, den er für das alles sicher versprach, ist nun eindeutig im Eimer: Statt zu einer stetigen Prosperität zu führen, die wenigstens ‘in the long run’ irgendwie allen nützt (wie Keynes das neoliberale Versprechen schon aller nationalökonomischen Klassiker zusammenfasste), scheint nun unübersehbar, dass die neoliberale Lebensweise (ökonomisch) zu nicht mehr als einer Abfolge kurzer überhitzter Haussen taugt, die Wenige reich macht – und dies so oft und so lang, bis das ‘Gesamtsystem’ dann um so heftiger abstürzt.

Und so bleibt da dann plötzlich etwas ganz ‘nackt’ zurück, finden sich die ‘Sekundäreffekte’ des Neoliberalismus auf einmal ganz alleine wieder, und ganz auf sich selbst ‘zurück geworfen’ (und werden in den Medien hypertroph): Für einen kurzen historischen Moment scheint die ‘kulturhistorische Hälfte’ des Neoliberalismus sich nun fragen zu können, welchen Sinn sie denn vielleicht ‘sonst noch’ haben könnte (ja ihren ‘eigentlichen’ politischen Sinn und Zweck zu ahnen und zurück zu fordern) – bevor dies in der Rezession dann sehr schnell und sehr bald hinter der Sorge zurück treten dürfte, ob (und wie) diese ‘kulturellen Sekundärleistungen’ sich unter diesen Bedingungen überhaupt noch werden erhalten lassen.

Letztlich jedenfalls könnte man die zentralen Attraktionen der neoliberalen Lebensform – das erreichte Maß individueller Selbstbestimmung sowie die, deshalb, entfesselte medial-kulturelle Vielfalt und Produktivität – auch in einer einzigen ‘kulturhistorischen Leistung’ zusammenfassen: dass mit ihr alle Restbestände konservativer Anthropologie endgültig hinweg gefegt, eingedampft und eingestampft wurden; und sie stattdessen den Triumph eines gemeinsamen Traditionsbestands von Linken und Liberalen herbei geführt hat.

Besonders anschaulich wird dies am Beispiel des Widerstreits zweier dafür ausgesprochen sinnbildlicher Antipoden: an der ‘Paarung’ Adorno-Gehlen sozusagen, sowie an einer bestimmten zwischen diesen beiden ausgetragenen ‘Partie‘ gewissermaßen. Wobei Adorno hier natürlich für die liberale und linke Tradition gleichsam ‘in den Ring stieg’, und Arnold Gehlen für das ‘konservative Menschenbild’.

1965 kam es, genauer gesagt, auch einmal zu einer direkten verbalen Auseinandersetzung, zu einem im Radio übertragenen Gespräch zwischen den beiden. Und an dessen Ende dann entspann sich der folgende Wortwechsel – in dem es (von heute her gesehen) auf einmal unversehens so scheint, als vertrete Gehlen hier eigentlich die Partei des Sozialstaats, und Adorno die der neoliberalen Lebensweise:

Gehlen: Herr Adorno, Sie sehen hier natürlich wieder das Problem der Mündigkeit. Glauben Sie wirklich, dass man die Belastung mit Grundsatzproblematik, mit Reflexionsaufwand, mit tief nachwirkenden Lebensirrtümern, die wir durchgemacht haben, weil wir versucht haben uns freizuschwimmen, dass man die allen Menschen zumuten sollte? Das würde ich ganz gerne wissen.

Adorno: Darauf kann ich nur ganz einfach sagen: Ja! (…) ich würde sagen, dass die Menschen so lange, wie man sie entlastet und ihnen nicht die ganze Verantwortung und Selbstbestimmung zumutet, dass so lange auch ihr Wohlbefinden und ihr Glück in dieser Welt ein Schein ist.

Gehlen: Da sind wir nun genau an dem Punkt, (…) wo ich sagen würde, alles, was man vom Menschen von je weiß und formulieren kann, würde dahin weisen, dass Ihr Standpunkt ein anthropologisch-utopischer, wenn auch großzügiger, ja großartiger ist…

Und bevor Gehlen ganz am Ende schließlich feststellte, dass der Dissens ja nun wohl so klar zu Tage läge, dass das Gespräch sozusagen an sein natürliches Ende gekommen sei, sollte Adorno unter anderem auch noch (unter unvermeidlicher Hintanstellung des Pronomens) anführen, dass “die Schwierigkeiten, wegen der die Menschen nach Ihrer Theorie zu Entlastungen drängen … die Not, die die Menschen zu diesen Entlastungen treibt, gerade die Belastung ist, die von den Institutionen (…) ihnen angetan wird”. Der Neoliberale würde sagen: Der Sozialstaat schafft erst die Unmündigkeit, die er dann endlos, und immer wieder ausgleichen muss.

Zur ‘historischen Legitimität’ der neoliberalen Lebensweise

Bislang freilich kann man die neoliberale Lebensform natürlich nicht wirklich als ‘legitime Erbin’ Adornos verstehen – und die Chancen dafür, dies nun im Handumdrehen zu ändern, sind natürlich auch nicht überwältigend groß. So wie man der neoliberalen Epoche bislang außerdem im Grunde überhaupt jede ‘historische Legitimität’ absprechen müsste – jedenfalls wenn man sich etwa Hans Blumenbergs anspruchsvollem Verständnis davon anschließt. (Dieser hatte – in “Die Legitimität der Neuzeit” – einmal zu zeigen versucht, dass ‘die Moderne’ in ihren Versuchen, technisch-wissenschaftliche und funktionale Lösungen für alle menschlichen und gesellschaftlichen Probleme zu finden, eine Epoche ‘aus eigenem Recht’ ist; gegen Theorien wie die von Max Weber und Carl Schmitt, wonach die Neuzeit in letztlich allem einfach nur als eine ‘säkularisierte christliche Welt’ zu verstehen wäre, als ein ‘illegitimer Abkömmling’ einer anderen Epoche also.)

Die neoliberale Epoche ist nicht nur keine Epoche ‘aus eigenem Recht’. Sie hat die Kritik an institutioneller Bevormundung nicht nur den Traditionen einer anderen Epoche entnommen (um nicht zu sagen: geklaut) – ebenso wie auch die vorgebliche Förderung von ‘Selbstverantwortung’, ‘Eigeninitiative’ und ‘Selbstbestimmung’. Sie hat dann vor allem auch noch den Sinn und die Stoßrichtung all dessen vollends verdreht. Zielte die liberale und linke Kritik ‘konservativer Anthropologie’ auf die Einsicht, dass Menschen sehr wohl höchst anpassungsfähig und selbstständig sind, wenn es darum geht, eine echte Verbesserung persönlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse zu erreichen – so sollen ‘die Menschen’ im Neoliberalismus nun auch aus reinem Selbstzweck sozusagen flexibel und selbstständig sein wollen: einfach um sich selbst (und anderen) zu beweisen, dass sie es sind. Die Frage, ob das ihnen selbst oder irgendwem (oder irgendwas) sonst wirklich etwas bringt, wird dagegen nun auf ewig verschoben. Es gibt im Neoliberalismus keine Antwort mehr darauf (außer der ökonomischen ‘in the long run’ – die nun so überdeutlich in die hinterletzte Tonne gehört).

Diese abgründige Sinnlosigkeit führt nun zugleich auch zum entscheidenden Zug der neoliberalen Epoche. Das Fehlen jedes überzeugenden, glaubwürdigen, überprüfbaren Ziels und Zwecks des Ganzen sorgt für einen unermesslichen Bedarf nach Ersatz für solchen rationalen Sinn. Und er findet sich (wo nicht, im Einzelfall, in Form wirklich überzeugend großer Haufen von Geld – oder im biographischen Glück, sich eine erhebliche Distanz zur neoliberalen Lebensweise schaffen und erhalten zu können) in Angst. Angst vor Altersarmut, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Angst vor ‘Kürzung der Sozialleistungen’, Angst davor, den nächsten nötigen Karriereschritt nicht zu schaffen usw. usf.

Vor allem aber kann eben auch nur Angst offenbar dazu anhalten, die neoliberale Lebensweise auch dann noch fortzusetzen, wenn deren Übernahme nichts weiter mehr verspricht als das, was eigentlich ohnehin selbstverständlich sein sollte: dass man seine Würde und seine Bürgerrechte nicht verliert. Nur noch die Angst, dass scheinbar ‘mangelndes Bemühen’ sie am Ende alle Rechte und Ansprüche kosten könnte (und sie jeder Würde berauben würde), lässt so heute offenbar viele ‘Leiharbeiter’ beispielsweise ihr gesamtes Leben auch dann noch (wie hochbezahlte Manager) um mehrere Jobs herum organisieren, die nicht mehr einbringen als die Sicherung des Existenzminimums, wenn die Hoffnung so einmal eine ‘Festanstellung’ zu finden, sich längst als unrealistisch herausgestellt hat.

Und wenn alle, die heute unter unwürdigsten Bedingungen und zu niedrigsten Löhnen sich dennoch (wie hochbezahlte Manager) ‘abstrampeln’, selbst immer wieder sagen, dass sie es für ihr ‘Selbstwertgefühl‘ tun, so heißt das im Umkehrschluss eben letztlich auch nichts anderes als dies: dass sie Angst haben, sonst nichts mehr wert zu sein.

Im Hinblick auf die gerade erst beginnende globale Depression macht dies alles – und darum nur wurde es hier auch so detailliert ausgeführt – offenbar klar, weshalb sie im Sinne der neoliberalen Lebensform letztlich dann leider auch so förderlich und produktiv wirken dürfte: In ihrem Gefolge dürfte die Angst bald erst recht wieder kommen, noch mehr Menschen noch unmittelbarer betreffen, und an noch mehr Stellen noch mehr verzweifelte Aktivität freisetzen.

Bleibt eine kleine Chance, ein kurzer historischer Zeitraum…

Man könnte dies nun natürlich, wie schon angedeutet, auch noch einmal umgekehrt wenden. Wenn im nächsten Jahr die ersten Wellen von Massenentlassungen einsetzen werden – und bis dahin keinerlei Hoffnung da ist, trotzdem nicht in kompletter Unsicherheit, und in völliger Sinn- und Wertlosigkeit zu versinken – wird das ‘Stillhalten’ bei Tarifauseinandersetzungen wohl wieder der Normalfall werden, wird die Politik im Umgang mit Arbeitslosen wohl nochmals vermehrt (und nochmals sinnloser) auf ‘Fordern’ setzen, und werden nicht zuletzt wohl auch viele andere Ratschläge von neoliberalen Ökonomen wieder sehr gefragt sein.

Bis dahin aber bleibt nun immerhin noch etwas Zeit. Zeit, die Politik wieder zu entdecken, und öffentlich für konkrete politische Maßnahmen zu streiten, die dann (diesmal) zumindest eine andere Form der ‘Krisenbewältigung’ möglich erscheinen lassen – oder sogar die Chance auf Dauer stellen, der neoliberalen Lebensform noch einen politischen Sinn ‘nachzureichen’ (beziehungsweise dem in ihr ‘dialektisch eingeschlossenen’ politischen Potential eine dauerhafte Chance verschaffen, doch noch wirksam zu werden).

Und auch, wenn dies nur sehr unvollständig gelingen sollte – die absehbaren Alternativen lassen es auf jeden Fall lohnenswert erscheinen. Wo die sehr deutliche Ahnung, dass jetzt einiges sehr schnell und ein für ein langes Mal sich ändern müsste, politisch-öffentlich gar keine Resonanz findet, könnte sie sich sonst bald (wie derzeit in Griechenland) schnell auch andernorts nur noch zornig und blindwütig äußern. Oder ihre Entladung sich, wie in Deutschland gerne, für den völlig falschen Zeitpunkt aufheben: Statt zu der Lage entsprechenden Entscheidungen zu kommen, könnte man es hier sonst in den nächsten Monaten allzu leicht ganz bei das jeweilige Klientel zufrieden stellenden Wahlversprechen belassen – und könnte sich sonst also, danach (wenn>> eh schon alles zu spät ist), dann auch nur noch hilflose Aggression einstellen.

Eine gekürzte Fassung des Textes findet sich hier.

Literatur

Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007.

Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1988.

Michael Cuntz: Extrem normal – der überholte Normalismus (Link – Ehrenberg – Houellebecq), in: Christina Bartz, Marcus Krause (Hg.): Spektakel der Normalisierung, München 2007.

Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität, 2 Bde., Frankfurt/M. 2004.

Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006.

Markus Stauff: ‘Das neue Fernsehen’. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005.

Das Adorno/Gehlen-Gespräch findet sich ausführlich wiedergegeben in:

Friedemann Grenz: Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt/M. 1974 (S. 249ff.).

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