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#rp10: Die unerfüllte Hoffnung auf eine neue ‘bürgerliche Öffentlichkeit’

von , 12.4.10

++ Diskussionsbeitrag anlässlich der re:publica ++ Eine ‘skeptische Einschätzung’ zum Erfolgen der digitalen Öffentlichkeit ++ Carta-Replik folgt ++

Zu Beginn der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts schreibt ein junger Soziologe in seiner Habilitationsschrift über die Funktion der Öffentlichkeit und ihren Wandel. Er greift weit in die Geschichte zurück, in die Zeit vor und während der Französischen Revolution. Dort sieht er die Geburtsstunde der neuzeitlichen Öffentlichkeit. Sie ist nicht höfisch, sondern bürgerlich. Und sie entsteht in den Städten – in diesen Zusammenballungen menschlichen Lebens, voller Schmutz und Lärm und Gestank, in denen sich Seuchen rasch ausbreiten.

Wer damals vom Land in die Stadt flieht, hat sein Leben verkürzt. Trotzdem kommen jährlich Tausende. Denn die Stadt bietet, was die Feudalstruktur auf dem Land nicht zulässt. Und in diesen Städten entsteht erstmals außerhalb des Adels bescheidener Wohlstand. Mit dem Wohlstand kommen Zeit und Sorge. Und so beginnen diese Handwerker und Geschäftsleute sich Gedanken zu machen: über die Zustände in der Stadt, über ihre Zukunft. Sie diskutieren die Probleme ihrer städtischen Gemeinschaft zuerst in den Zünften, aber schon bald bieten die Kaffee- und Teehäuser den Raum um sich zu treffen und auszutauschen, und über das zu sprechen, was die Städter gemeinsam betrifft, was los ist, wie es weitergehen kann.

Genau dann und genau dort entsteht Öffentlichkeit – das Ferment für die bürgerliche Revolution, der moderne Beginn von Freiheit und Demokratie. Es ist eine bürgerliche Öffentlichkeit. Aber sie gibt ein kurzes Gastspiel. Industrielle Revolution und Kapitalismus locken hunderttausende Menschen vom Land in die Stadt. Die Neuankömmlinge leben und arbeiten unter schrecklichen Bedingungen.Wenige von ihnen können lesen und schreiben, und sie haben keine Zeit und kein Geld, in den Cafés mit dem Bürgertum Öffentlichkeit zu üben.

Gleichzeitig verlagert sich die bürgerliche Diskussion von den Bürgern zu den Zeitungen und Journalen. In diesen Medien wird stellvertretend diskutiert – die ehemals bürgerliche Öffentlichkeit nunmehr vermittelt verhandelt. Aber der Marktkampf der Anbieter, so unseres Soziologen Diagnose, lässt die einstmals robuste bürgerliche Diskussion auch unter den Journalisten und zwischen den Medien verkümmern. Und so verschwindet bürgerliche wie vermittelte Öffentlichkeit, lässt den Mächtigen das Feld, kann ihre Funktion als Korrektiv der Macht nicht mehr erfüllen.

Habermas 1.0

Die einzige Möglichkeit, diese Öffentlichkeit wieder herzustellen, ist durch staatliche Regulierung, etwa durch eine Garantie von Pluralität der Medienlandschaft und Binnendemokratie in den Redaktionsräumen. Des jungen Soziologen Thesen gewannen rasch an Einfluss – nicht bloß als Analyse, sondern auch als medienpolitisches Desiderat. Es ist seine Zeit – Habermas 1.0. Vergangenes Jahr wurde er 80 – und kann von sich zu Recht sagen, nicht nur Philosophie, sondern auch die moderne Soziologie der Öffentlichkeit nachhaltig geprägt zu haben.

Aber neben Habermas’ Desiderat einer durch staatliche Regulierung re-demokratisierten Öffentlichkeit geht jedenfalls seit Anfang der 80er Jahre eine alternative Sicht der Dinge um. Ihre Vertreter meinen staatliche Regulierung von Medien, so wie es Habermas wünscht, vermeiden zu können, ohne Habermas zu widersprechen. Stattdessen bestehe die Lösung in Technologie – durch sogenannte „neue Medien” könne die bürgerliche Öffentlichkeit des vorrevolutionären Paris’ und des revolutionären Amerikas wiedergeboren werden – diesmal allerdings nicht unter Ausschluss des Proletariats, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger.

Die Vision ist eine elektronische Version der amerikanischen Town Hall Meetings, die ganz im Geiste der Schweizer Landsgemeinden die Menschen regelmäßig zu politischer Diskussion und Entscheidungsfindung vereint. Anfang der 80er Jahre verhieß man uns die Wiedergeburt der Demokratie – online durch Bildschirmtext. Zu Beginn der 90er Jahre war es der Information Superhighway – eine Verbindung von interaktivem Fernsehen und Breitbandkabelnetzen, und zehn Jahre später das Internet und Web 2.0.

Blogger wie Sie und ich

Aber neben der Wiedergeburt der Demokratie wird uns gerade durch Web 2.0 auch noch eine weitere gesellschaftliche Wohltat verheißen. Denn weil wir alle jetzt im Internet auch Inhalte zur Verfügung stellen können, würde damit jedes bestehende Meinungskartell übergroßer Medienunternehmen ebenso gebrochen wie eine staatliche Wand des Schweigens. Nicht die bekannten Print- und Fernsehmedien, sondern – so wird argumentiert – Blogger wie Sie und ich hätten die Skandale der vergangenen Jahre aufgedeckt: von Präsident Bushs Vergangenheit als betrunkener Autofahrer, der Bombardierung Grosnys durch Russland oder der bewussten Veränderung der Darstellung von Daten zur Erderwärmung durch britische Wissenschaftler.

Ohne die Blogger wären wir ignorant geblieben, aber durch das Web 2.0 hätten wir die Wahrheit ans Licht gebracht. Gerade durch das Web 2.0 könnten wir also nicht nur die verloren geglaubte Öffentlichkeit wieder herstellen, sondern uns auch schneller und besser an die Wahrheit herantasten, wenn wir es nur den Bürgerinnen und Bürgern überlassen, ihre Informationen auszutauschen und zu bewerten. Auch dafür gibt es einen schönen neuen Begriff: „die Weisheit der Vielen”. Sie ist der neue Gegenpol zur vermittelten Öffentlichkeit traditioneller Medien – und kommt in vielen Schattierungen und Schlagwörtern: crowd sourcing, prediction markets, peer production.

Die unerfüllte Hoffnung auf eine neue bürgerliche Öffenlichkeit

Aber diese Hoffnungen einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit online haben sich auch nach drei Jahrzehnten nicht erfüllt. Das hat zum einen ganz handfeste theoretische Gründe. Denn die Idee von der automatischen Weisheit der Vielen ist Unsinn. Schon vor mehr als 200 Jahren hat der Marquis de Condorcet nachgewiesen, dass mehrere Menschen gemeinsam nur dann näher an die faktische Wahrheit gelangen, wenn jeder einen über Zufallswissen hinausgehenden Informationstand hat. Das aber ist in der Realität selten der Fall.

Fasst man daher die Meinung vieler zusammen, so erhält man Überzeugung, aber nicht Weisheit. Die Produktion von Information, etwa durch Wikipedia, kann zwar die Ansichten von vielen wiedergeben und aggregieren, ist aber im Ergebnis nicht fundamental besser als die auf traditioneller Recherche beruhende Arbeit der Journalisten in den konventionellen Medien. Damit aber gelänge, selbst wenn wir die Beteiligung aller am Onlinediskurs erreichen könnten, nicht automatisch ein besseres Ergebnis dieses gemeinschaftlichen öffentlichen Diskurses.

Das mag für die Vertreter der Onlineöffentlichkeit bedauerlich sein, aber es vernichtet nicht ihren Elan, wenn schon nicht Wahrheit durch Diskurs, so doch das Gefühl der gesellschaftlichen Teilhabe durch Onlineöffentlichkeit zu erreichen. Wenn schon das Ergebnis der elektronischen Town Hall ernüchtert, dann mögen wir uns doch durch den Prozess des gemeinsamen Diskutierens und Entscheidens eingebunden fühlen, so wie einst die Pariser in ihren Kaffeehäusern. Dann hätten wir wenigstens bürgerliche Öffentlichkeit wiedergefunden.

Die Medienkonzentration der Blogs

Der Web 2.0 Experte Clay Shirky hat die Popularität und Wichtigkeit von Blogs untersucht. Davon gibt es weltweit etwa 200 Millionen. Würde die Diskussion in den Blogs tatsächlich bürgerlich im Habermas’schen Sinn ablaufen, dann wären die meisten dieser Blogs gleich wichtig, hätten ähnliche Bedeutung und Wertigkeit, und würden ihren Autoren ähnliche Möglichkeiten geben, wahrgenommen zu werden. Aber genau das ist nicht der Fall.

Vielmehr zieht eine ganz kleine Anzahl an Blogs die meiste Aufmerksamkeit auf sich, während die allermeisten Blogs kaum oder gar nicht gelesen werden. Wir haben es also auch bei den Blogs – obwohl hier keine großen kommerziellen Medienunternehmen dahinterstehen – mit einer geradezu unglaublichen Medienkonzentration zu tun, in der ganz wenige angeben, was wie online gesellschaftlich diskutiert wird. Im Gegensatz zur Hoffnung eines Gutteils der Web 2.0-Gemeinde, verschwinden die Informationsintermediäre nicht.

Auch ohne Springer ein Informationsoligopol

Im Gegenteil: Die Geschichte von Instapundit und DailyKos, von Wikipedia und Slashdot zeigt eindrücklich, dass diesen Intermediären auch im Bereich der neuen Medien eine bestimmende Rolle als Informationsfilter und -quelle, aber auch als Meinungsplattform zukommt. Online hat sich also ganz ohne den Axel-Springer-Verlag ein Informationsoligopol etabliert.

Eine relativ überschaubare Zahl an Informationsintermediären sind zentraler Bestandteil nicht nur der alten, sondern auch der neuen Medienlandschaft. Der Grund dafür ist freilich ein fundamental anderer. Bei den alten Medien war es die Knappheit von Ressourcen, die dazu zwang: Die hohen Investitionskosten einer maßgeschneiderten Verteilinfrastruktur und die Endlichkeit der verfügbaren Frequenzen.

Im Internet hat sich dies verlagert: Knapp sind nun nicht mehr Frequenzen, sondern die Aufmerksamkeit der menschlichen Rezipienten. Es geht daher auch regulativ um ein anderes öffentliches Gut. Damit aber hat sich die Hoffnung, wir könnten als Alternative zu Habermas die bürgerliche Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts durch Internet und neue Medien wieder erfinden – aber diesmal für alle –, als (bisher jedenfalls) falsch erwiesen.

Dieser Text ist die erste Hälfte eines Vortrags, den Viktor Mayer-Schönberger am 10. März in Berlin beim DLM-Symposium „www.fern-sehen.com – Die Aufgaben des Rundfunks im Wandel der Öffentlichkeit“ gehalten hat. Carta dankt der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.

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