#Debatte

Robert Misik: »Das Alte wegräumen und das Neue etablieren«

Es sind keine hoffnungsvollen, sondern dystopische Themen, die derzeit überall verhandelt werden: Weltuntergang, Automatisierung, Robotisierung, Cyborgisierung, Ende des Menschen. Wen will man damit in Schwung setzen?

von , 13.6.22

Die Epoche der Moderne ist geprägt von rasantem Wandel. Revolutionäre Veränderungen in Malerei, bildender Kunst und Literatur waren dabei eng verwoben mit den tiefgreifenden Umwälzungen in Politik und Gesellschaft – und durchzogen vom Gefühl des Aufbruchs und der Erneuerung, sagt Robert Misik, dessen neues Buch »Das große Beginnergefühl« gerade erschienen ist. 

Frage: »Das große Beginnergefühl« – ist eine Kulturgeschichte der Moderne, die du stets in Verbindung mit politischen Entwicklungen und Ideen beschreibst. Was ist dieses Beginnergefühl und was verstehst du unter der Moderne? 

Robert Misik: Die Moderne ist relativ klar eingrenzbar. In der Philosophie und der politischen Ideengeschichte würde man etwa mit der Zeit der französischen Aufklärung und der Französischen Revolution beginnen, in Literatur, bildender Kunst und Architektur beginnt sie jeweils später. Wichtiger ist: Was zeichnet die Moderne aus? Zunächst die Säkularisierung, das Zurückdrängen der Religion und insgesamt ein Weltlich-Werden des Denkens, des Handelns und der Künste. Dazu gehört auch der Glaube an technischen Fortschritt und gesellschaftliche Modernisierung. Und in den Künsten kommt die Entwicklung von neuen Stilen, von neuen Formensprachen und Sprachformen hinzu, die die Wahrnehmung revolutionieren. Das alles zusammen würde ich als Moderne definieren. Und damit wird auch klar, warum das Beginnergefühl dazu gehört: Das Alte wegräumen und das Neue etablieren. Das war immer dabei, egal, ob das eher sukzessiv-reformerisch oder umwälzend-revolutionär gedacht wurde. 

Ist uns dieses Gefühl von Erneuerung und Aufbruch im Angesicht der multiplen Katastrophen der Gegenwart erschlafft und abhanden gekommen? 

Die Frage ist doch, ob die multiplen Katastrophen daran schuld sind, denn katastrophenfrei war die Geschichte der Moderne ja sicherlich nicht. Im Gegenteil: Katastrophen wie der erste Weltkrieg wirkten als Brandbeschleuniger. Die Katastrophe des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs hat große Fragezeichen am anthropologischen Optimismus hinterlassen, aber sie hat die Moderne nicht abbrechen lassen. Ich wollte den gemeinsamen Glutkern von revolutionären Ideen und radikaler Kunst herausarbeiten. Ich wollte erzählen, wie die radikalen Ideen der Moderne und die tiefgreifenden gesellschaftlichen und technologischen Umwälzungen, die zunächst keine eigene Intention hatten, aufeinander eingewirkt haben. Man kann das eine nie ohne das andere erzählen. 

Du schilderst die Moderne ausdrücklich als eine Geschichte linker Ideen. Ist der rasante Wandel der letzten 200 Jahre nicht vielmehr eine genuin liberale Geschichte?

Zunächst ist der Individualismus, wie er im Bild des Künstlers und Bohemiens zum Ausdruck kommt, eng verwandt mit dem Freiheitsversprechen der frühen Sozialisten, die ja nicht nur ökonomisch gedacht haben, sondern auch die Befreiung und Freisetzung der Talente aller Menschen zum Ziel hatten. Und man kann auch eine Linie vom Beginnerpathos des modernen Individualismus und der künstlerischen Revolutionen zu liberalen Ideen wie etwa Schumpeters schöpferischer Zerstörung ziehen. Aber das ist für mich kein Einspruch gegen meine These. Immerhin betrachtete sich ein erheblicher Teil der großen Künstler:innen der Moderne selbst als links. Andere, wie Honoré de Balzac, Gustave Flaubert oder später auch Thomas Bernhard, die ich als »Wutkonservative« bezeichnen würde, haben bissige Gesellschaftskritik produziert und eine Sprache und Wahrnehmungsformen gefunden, die später von linker Gesellschaftskritik aufgegriffen wurden. Ein Beispiel ist Balzac, der fantastisch beschrieben hat, wie Geld Individuen zurichtet und alle Beziehungen und Verhältnisse auf die Ökonomie reduziert. Er selbst war ein konservativer, bürgerlicher Monarchist, aber er hat dennoch eine linke Kritik der Gesellschaft seiner Zeit geschrieben. 

Du sprichst von einem rebellischen, subversiven Kern der Moderne. Wenn wir an den Sturm auf das Kapitol oder an manche Querdenker-Demo denken, scheint Subversion heute eher nach rechts gewandert zu sein. 

Das könnte man als den Fluch des Erfolgs der Moderne bezeichnen. Wir haben heute weitreichende Akzeptanz, dass jede und jeder sein Leben nach seinen Vorstellungen gestalten kann und insofern wurde ein Teil dessen, was früher rebellisch war, zu einer allgemeinen Haltung in der Gesellschaft. Man könnte aber auch sagen, die Linke, und gerade auch die künstlerische Linke, ist bequem geworden, hat sich auf die Verteidigung des Bestehenden verlegt und keine positive Botschaft mehr anzubieten. Es ist ein großer Unterschied, ob Skandale und Missstände mit dem Geist der Veränderbarkeit benannt werden – oder ob die Zukunft ohnehin als Katastrophe gesehen wird, die nicht abgewendet werden kann. Heute scheint mir das Radikale in der Kunst eher dystopisch zu sein. 

Der Individualismus der Moderne scheint in einer Zeit, in der Selbstverwirklichung und Non-Konformismus zum Massenphänomen geworden sind, im Mainstream angekommen zu sein. 

Ich glaube, das Postulat der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung und der daraus folgenden sozialen Atomisierung sind mittlerweile als Pathologie der Gesellschaft erkannt. Die Frage ist, was daraus folgt. In manchen Bereichen der Kunst ist die Antwort auf das geniale Künstlersubjekt bereits ein neuer Kollektivismus, Kollektive leiten große Events in der Kunstwelt. Auch, wenn das vielfach nicht funktioniert, weil spätestens die Kunstkritiker:innen dann doch Namen wollen, zeigt es, dass ein Bewusstsein da ist und eine Suche nach neuen Formen des Arbeitens und Lebens begonnen hat. 

Im Buch ist auch die Rede vom Verschwinden von Gegenkulturen und Gegenöffentlichkeiten, die das Gefühl von Aufbruch erst ermöglichen. Wie siehst du in diesem Zusammenhang auf queere Diskurse und Communities und wie auf Bewegungen wie Fridays for Future? Gibt es da kein Beginnergefühl?

Da würde ich eher von politischem Aktivismus im engeren Sinn sprechen. Wenn es etwa um Themen wie die Überwindung der binären Geschlechterordnung geht, dann gibt es in den jeweiligen Communities sicher eine Art Beginnergefühl. Aber gibt es das in der Kunst? Natürlich wirken diese Debatten auf die Kunst zurück, aber es sind keine hoffnungsvollen, sondern dystopische Themen, die derzeit überall verhandelt werden: Weltuntergang, Automatisierung, Robotisierung, Cyborgisierung, Ende des Menschen. Wen will man damit in Schwung setzen? Ohne Hoffnung und ohne positive Erzählungen erreicht man die Menschen letztlich nicht. 

Wo bleibt dann die Kritik an der Gegenwart? 

Wir brauchen natürlich Kritik. Aber wir müssen auch die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« in unserer Realität sehen, wie das früher hieß. Wir haben auf der einen Seite katastrophische Entwicklungen, vor allem wenn es um das Klima geht. Aber auf der anderen Seite leben wir in weiten Teilen der Welt und vor allem in den westlichen Gesellschaften nicht mehr in den Verhältnissen der frühen Industrialisierung, da hat gerade auch die Linke viel erreicht. Wenn man sich aber die verbreitete Kritik am Neoliberalismus und am Abbau des Sozialstaats anschaut, dann wird da oft so getan, als würden die Menschen in Massen verelendet durch die Straßen ziehen und in Mülleimern nach Essen suchen. Und das ist, bei aller notwendigen Kritik, zum Glück nicht der Fall. 

Das Beginnergefühl dieser Moderne ist ein fast ausschließlich europäisches oder auch euroatlantisches Gefühl. 

Ja, aber mich interessiert die Frage, die unter dem Begriff der kulturellen Aneignung diskutiert wird, also wer was wann von wem übernommen hat, nicht so sehr. Es gab immer wechselseitige Beeinflussungen, Picasso wäre nicht denkbar ohne Anleihen aus Afrika, die amerikanische Kultur mit ihren vielen Einflüssen ist ein Produkt des Hybriden, wo die vielen Feedbackschleifen irgendwann kaum mehr nachvollziehbar sind. 

Wie steht es um die Zukunft des anthropologischen Optimismus?

Wenn man findet, dass der Mensch böse und zu empathischem Handeln nicht befähigt ist, dann wird man rechts, dann braucht man einen autoritären Staat, der die Bestie Mensch in Schach hält. Eine Linke ohne anthropologischen Optimismus kann es also nicht geben. Zugleich ist der Mensch bei aller individuellen Freiheit nicht unabhängig, weder von Institutionen noch von Technologien. Wir brauchen also Instrumente, die individuelle Entscheidungen vieler zu kollektiven Entscheidungen werden lassen. Gegenwärtig wird das oft erschwert durch eine enorme Gereiztheit, die demokratische Entscheidungen erschwert. Das macht mir große Sorgen. 



»Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution«
Suhrkamp Verlag, 284 Seiten, 18 Euro

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