#Alltagstheorien

Ringen um Verständnis

von , 14.8.12

Wer im Internet über alltäglichen Sexismus, Rassismus, Homophobie und andere Arten der Diskriminierung schreibt — zum Beispiel über die sexistische Werbung eines Musikversandhauses oder einer Fluglinie, über spärlich gekleidete Elfen mit Barbie-Körpern in Überraschungseiern für Mädchen, über rassistische Stereotype im beliebtesten Kinderbuch der Welt, über Frauen stereotypisierende Werbung in einer feministischen Zeitrschift, über Radiosendungen über Sexismus, zu denen nur Männer eingeladen werden, usw. –, braucht auf zwei Dinge nicht lange zu warten: Menschen, die feststellen, dass das Beschriebene völlig irrelevant ist und ganz und gar nichts mit „echter“ Diskriminierung zu tun hat, und Menschen, die sich empört gegen den vermeintlichen Versuch wehren, ihnen Verhaltensvorschriften zu machen, wo sie doch ganz genau wissen, dass ihr Verhalten keinesfalls diskriminierend sein kann (falls es Diskriminierung in unserer modernen Gesellschaft überhaupt noch gibt).

Da weder die Feststellung noch die Empörung normalerweise mit Argumenten unterfüttert wird, und da Erklärungs- und Diskussionsversuchen meist mit einer stumpfen Wiederholung der Feststellungen und der Empörung begegnet wird, steigt mit jedem Mal die Verlockung, diese Menschen als unverbesserliche Dummköpfe oder bösartige Trolle abzuschreiben, ihre Kommentare zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten, und sich auch sonst nicht mehr auf Gespräche mit ihnen einzulassen.

Allerdings sind diese Menschen — und zwar ganz unabhängig davon, ob sie tatsächlich Trolle oder Dummköpfe sind — Teil des Systems, in dem die Diskriminierung stattfindet, und dieses System wird sich nicht verändern lassen, solange eine Mehrheit (oder auch nur eine große Minderheit) die Diskriminierung nicht sieht und folglich nicht für real hält.

Wir müssen uns deshalb fragen, wo die Ursachen für den Mangel an Verstehen liegen.

Mit dieser Frage beschäftigen sich auch die Soziologinnen Sherryl Kleinman und Martha Copp (2009), die ähnliche Probleme nicht von Blogkommentator/innen, sondern aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit Studierenden kennen, und die aus deren Reaktionen vier unbewusste und tief verwurzelte Alltagstheorien abgeleitet haben, die das Verstehen von Ungleichheit und Diskriminierung erschweren:

1.) Schaden ist direkt und unmittelbar. Menschen gehen davon aus, dass die schädlichen Konsequenzen einer Handlung sofort eintreten und klar sichtbar sind und dass schädliches Verhalten klar von nicht-schädlichem Verhalten unterschieden werden kann.

2.) Schädliches Verhalten hat psychologische Ursachen. Menschen gehen davon aus, dass die Ursachen für schädliches Verhalten in der Psyche von Individuen zu suchen sind — etwa in bösen Absichten oder in psychologischen Störungen.

3.) Schaden entsteht nur durch absichtsvolles Handeln. Menschen gehen davon aus, dass nur solche Handlungen schädlich sein können, die darauf ausgerichtet sind, jemandem zu schaden, oder die dies bewusst in Kauf nehmen. Verhaltensweisen, die Spaß machen oder Freude bereiten sollen, können dagegen nicht schädlich sein

4.) Schaden kann immer einzelnen Individuen zugeordnet werden. Meschen gehen von einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus, bei dem jeder Schaden auf eine bestimmte Handlung eines Einzelnen zurückgeht.

Aus diesen Alltagstheorien folgen gewisse Vorstellungen darüber, welche Verhaltensweisen schädlich sein können, und welche nicht.

Aus 1.) folgt die Vorstellung, dass Verhaltensweisen ohne sofortige und sichtbare Schäden überhaupt keinen Schaden verursachen. Dass sich hunderte kleiner, nicht sichtbarer Schäden anhäufen und in der Summe zu großen Schäden führen, wird damit ausgeblendet.

Aus 2.) und 3.) folgt, dass wohlmeinende und psychologisch unauffällige Menschen keinen Schaden anrichten können und dass gutgemeintes Verhalten keine negativen Konsequenzen hat.

Aus 4.) folgt, dass es keine strukturellen Ursachen für gesellschaftliche Schäden geben kann.

Diese Alltagstheorien stören die Diskussion von Ungleichheit, Diskriminierung und sozial schädlichem Verhalten in zweifacher Weise.

Erstens machen sie es denen, die sich dieser Alltagstheorien nicht ausreichend bewusst sind, schwer, Diskriminierung und schädliches Verhalten überhaupt als solches zu erkennen. Nur bewusst verletzendes Verhalten Einzelner mit sofort sichtbaren negativen Konsequenzen wird dann als schädlich akzeptiert — also z.B. frauen- oder fremdenfeindliche oder homophobe Beleidigungen oder Gewalttaten. Gut gemeintes Verhalten (Frauen die Tür aufhalten), geschlechtsspezifische Normen (Make-Up, bestimmte Farben und Kleidungsstile), „scherzhaft“ oder „neutral gemeinte“ Verwendungen rassistischer, sexistischer oder homophober Sprache, „geschlechtsspezifisches“ Spielzeug, unrealistische Körperbilder und stereotype Rollenverteilungen in Werbung und Medien usw. werden nicht als Problem erkannt, da sie meist nicht in böser Absicht geschehen, da sie sich in bestehende gesellschaftliche Strukturen einfügen und nicht einzelnen, gestörten Individuen zugeschrieben werden können, da sie scheinbar keine unmittelbar sichtbaren Schäden anrichten.

Zweitens machen sie es denen, die sich dieser Alltagstheorien nicht ausreichend bewusst sind, schwer, angemessen mit ihrem eigenen Anteil an diskriminierendem Verhalten und diskriminierenden Strukturen umzugehen. Das eigene schädliche Verhalten wird nicht erkannt (ich kann nichts falsch gemacht haben, wenn ich keine böse Absicht hatte), der Hinweise auf struktruelle Ungerechtigkeiten und vor allem auf strukturelle Privilegien wird als persönliche Schuldzuweisung verstanden (da Schaden ja immer Individuen zugeordnet wird).

Bei unseren Diskussionen von Alltagsdiskriminierung sollten wir deshalb darauf achten, diese Alltagstheorien explizit einzubeziehen und deutlich zu machen, dass eine rosa Barbie-Elfe in pornographischer Pose allein, oder eine einzelne Anzeige, in der mit rosa Handtaschenklischees für Smartphonetarife geworben wird, kein Mädchen in die Magersucht treiben und keine Frau dazu bringen wird, sich selbst nur an ihrem Potenzial als Sexobjekt zu messen oder auf eine anspruchsvolle Karriere zu verzichten. Dass ein einzelnes Kinderbuch, in dem ein schwedischer Trunkenbold und seine narzisstische Tochter über ein dunkelhäutiges Südseevolk herrschen, die jungen Leser/innen nicht zu Rassist/innen machen wird. Dass eine einzelne Radiosendung, in der Männer für Frauen sprechen, den Zuhörenden nicht den Eindruck vermitteln wird, dass Frauen nichts Relevantes zu sagen hätten.

Dass diese Dinge aber im Zusammenspiel mit Hunderten ähnlicher Erfahrungen daran mitwirken, dass sexistische, rassistische und andere diskriminierende Strukturen aufgebaut und fixiert werden. Und zwar unabhängig davon, ob das beabsichtigt oder auch nur fahrlässig in Kauf genommen wird, und unabhängig davon, ob der Schaden, den diese Strukturen anrichten, in jedem Fall sofort erkennbar ist.

Außerdem müssen wir darüber nachdenken, welche weiteren Alltagstheorien möglicherweise das Verständnis diskriminierender Strukturen behindern. Eine solche Theorie scheint mir z.B. zu sein, dass nur offensichtliche Vorteile als Privilegien betrachtet werden, nicht aber die Abwesenheit von Nachteilen (siehe dazu auch John Scalzis wirklich guten Blogbeitrag).

Welche weiteren Alltagstheorien fallen Ihnen/euch ein?

 
KLEINMAN, Sherryl und Martha Copp (2009). Denying social harm: Students’ resistance to lessons about inequality. Teaching Sociology, 37(3), 283–293. [Link (Abo/Paywall)]

 
Crosspost vom Sprachlog
 
Carta schließt sich Anatol Stefanowitschs Hinweis an:

Wir möchten hier Alltagstheorien diskutieren, und sonst nichts. Kommentare, die mit dieser Frage nichts zu tun haben, und Kommentare, die auch nur Anflüge von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beinhalten, werden gelöscht.
 

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