#Abwechslung

Rente mit 70? Warum nicht!

von , 13.8.10

In der Politik geht es häufig zu wie beim Skat. Fordert einer die Rente mit 68, steigert morgen garantiert einer auf 70. Und vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Thilo Sarrazin die Rente mit 85 ins Spiel bringt. Norbert Bolz könnte dann schreiben: Hat der alte Griesgram nicht Recht?

Hat er. Im Prinzip. Wenn man bereit ist, unser ganzes bisheriges Lebensmodell auf den Kopf zu stellen.

Vor allem die revolutionäre Gruppe der Alternsforscher ist überzeugt davon, dass die gute alte „Lebenslauf-Charta“ mit ihrer linearen Dreiteilung des Lebens in eine 25-jährige Lernphase, eine 40-jährige Arbeitsphase und eine 25-jährige Ruhephase nicht mehr zeitgemäß ist. Die jungen Alten, prophezeien sie, werden im Ruhestand keine Ruhe mehr geben, die alten Jungen werden in ihren Warteschleifen nicht länger warten wollen, und die Berufstätigen werden schlicht zusammenklappen.

Die seit 2004 im Forschungsverbund MaxnetAging vereinten Demographen, Psychologen, Anthropologen, Bildungsforscher, Kunsthistoriker, Hirnforscher und Juristen warnen deshalb eindringlich vor der weiteren Stilllegung der Älteren. Diese seien nur deshalb so passiv, kränklich und ‘unnütz’, weil das politische und ökonomische System sie dazu mache. Man schiebe sie ab, so wie man die Jungen im Wartestau eines ineffektiven Bildungssystems parke, bis sie die Lust an der eigenen Lebensgestaltung verlieren.

In der Lebensmitte dagegen führe die starre Dreiteilung zum Kollaps: Zwischen dem 30. und dem 45. Geburtstag müssten die Menschen die größte Arbeitsleistung vollbringen, Familie und Hausstand gründen, kleine Kinder versorgen und alte Eltern pflegen. Der Alternsforscher Paul Baltes erkannte in diesem „Lebensstau“, in der „Überfrachtung der mittleren Lebensphase durch Mehrfachbelastung“ den Hauptgrund für die „Fertilitätskrise“ der 20- bis 40-Jährigen.

Doch wie soll das Leben aus dieser Verdichtung befreit werden, wie soll man es entzerren? Die Alternsforscher, die in dieser Aufgabe die „neue soziale Frage“ erblicken, schlagen eine umfassende Reform der Gesellschaft vor:

  • Die Arbeits- und Lebenswelten müssten sich grundlegend ändern: Die so genannte Lebensarbeitszeit würde nicht mehr am Stück absolviert, sondern in zahlreiche Scheibchen zerteilt. Das Wort Karriere wäre gestrichen. Es gäbe Auszeiten für Kindererziehung, Elternpflege, Weiterbildung, Bürgerarbeit, Selbstfindung und Entspannung. Jobtauschbörsen würden die Einsicht in andere Arbeitsfelder vergrößern. Neue Leistungsmaßstäbe könnten helfen, die betriebliche Überbewertung 30-jähriger Singles und die Unterschätzung 55-jähriger Familienväter zu korrigieren. Eine andere Raumordnungs- und Kommunalpolitik würde Wohnen, Freizeit und Arbeit vernetzen und das Wegsperren der Alten und Jungen in Jugend- und Altenghettos mittels integrierter Wohnprojekte verhindern.
  • Auch die Bildungslandschaft müsste sich radikal ändern: Die gleichzeitige Ausbildung für mehrere Jobs, die Durchlässigkeit zwischen den Ausbildungssystemen, die Öffnung der Schulen und Universitäten für Interessierte jeden Alters sowie ständige Weiterbildungsmöglichkeiten wären Standard. Hinter dem gesamten Bildungssystem stünde der Leitgedanke, dass Entwicklung ein lebenslanger Prozess ist. Die gerontologische Erfahrung, dass Menschen besonders schnell abbauen, wenn sie sich im Ruhestand langweilen oder in monotonen Heimen untergebracht sind, wäre Allgemeinwissen. Die drohende Spaltung der Alten in eine winzige Minderheit von Kreativen, die dem Älterwerden ein Schnippchen schlagen, und eine übergroße Mehrheit, die vor dem Fernsehapparat dahinvegetiert, würde gestoppt, wenn Bildung zum Dreh- und Angelpunkt jeder Seniorenarbeit würde.
  • Auch die Vorstellung vom Ruhestand müsste sich radikal ändern: Kreativpausen wären für 20-Jährige so selbstverständlich wie für 50-Jährige. Erholungs- und Genussphasen wären so wichtig wie die Steinkühler-Verschnaufpause in der Metallindustrie. Freisemester für Studienreisen, Berufspraktika an Schulen und Theatern, Rentnerbands in der Dorfdisko – in jedem Alter würden Lernen, Arbeiten und Muße zu ganz neuen Erfahrungseinheiten verschmelzen. Das Renteneintrittsalter – ohnehin ein Auslaufmodell – wäre so variabel, dass jeder seinen Rückzug individuell gestalten könnte.

Amerikanische Alternsforscher bezeichnen diese neue Welt als age irrelevant society. Sie fordern eine Gesellschaft, in der das Alter für die Zuteilung von Lern-, Arbeits- und Ruhechancen keine Rolle mehr spielt.

Auch das Geschlecht würde dann keine Rolle mehr spielen. Männer müssten sich nur darauf einstellen, ihr „institutionalisiertes“ Lebenslauf-Modell zugunsten von „zerstückelten“, „fragmentierten“ Lebensläufen aufzugeben. Da Frauen dieses „prekäre“ Modell seit langem praktizieren, sehen viele Männer im geforderten Umbau der Gesellschaft eine unzumutbare „Verweiblichung“, die den Männern nur schaden werde. Aber „prekär“, „zerstückelt“ und „fragmentiert“ sind bloß die Abwehrvokabeln für Verhältnisse, die man genauso gut als „spannend“, „interessant“ und „abwechslungsreich“ bezeichnen könnte.

Natürlich müssten die existentiellen Unsicherheiten, die mit der Abkehr vom linearen Lebenslaufmodell verbunden sind, durch die Einführung einer staatlichen Grundsicherung (bzw. eines bedingungslosen Grundeinkommens oder Bürgergeldes) kompensiert werden. Denn permanente Übergangsphasen und Neustarts benötigen eine stabile finanzielle Grundlage (für die lange das männliche Lebenslaufmodell zuständig war).

So weit die Utopien der Alternsforscher.

Doch die öffentlichen Strukturen, die betrieblichen und politischen Rahmenbedingungen sind noch längst nicht so beschaffen, dass vielen Menschen der permanente Umstieg und Neuanfang ermöglicht werden könnte. Arbeiten mit 70, lernen mit 40 oder mit 80, ruhen mit 35 oder mit 50 sind noch immer „verrückte“ Ausnahmen.

Erfahrungsgemäß dauert es eine Generation, bis die Vorschläge der Wissenschaft politisch verankert sind – und eine weitere Generation, bis sie in der Wirklichkeit ankommen. Nur der massive Druck einer neuen sozialen Bewegung, sagen die Alternsforscher, könnte den gesellschaftlichen Umbau beschleunigen

Auszug aus dem Buch „Einsame Klasse. Warum Männer nicht altern“, dtv München, August 2010

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