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Rasender Stillstand · Anmerkungen zur gegenwärtigen Malaise der Medienrepublik

von , 28.7.13

„Von Medien-Jägern und Politik-Gejagten“ – so hat die Friedrich-Ebert-Stiftung ihre diesjährige MedienSommerAkademie genannt. Das klingt nach Drama, nach Triumph und Niederlage, nach Kampf bis zur letzten Patrone. Mit Kurt Tucholsky will man da fragen: „Ham Se’s nich ne Numma kleena?“ Und dennoch: ganz falsch ist das Bild nicht. Auf ein Wort von Gerhard Schröder zurückgreifend, könnte man fragen, wer im Verhältnis von Politik und Medien und vor allem im politisch-medialen Betrieb der Bundeshauptstadt eigentlich Koch und wer Kellner ist.

In der alten Bonner Republik war diese Frage einfach zu beantworten: die Politik, idealerweise die Regierung, gab die Themen vor, die politischen Parteien repräsentierten die verschiedenen Lesarten und Deutungen, die Medien ordneten sich in ihrer Kommentierung in das so vorgegebene Meinungsspektrum ein.

Heute ist das zweifellos anders. Die allgegenwärtige Medialisierung hat auch das Machtgefüge zwischen Politik und Medien neu geordnet – und dies klar zugunsten der Letzteren. Ein neuer Schub der Medialisierung hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Gewichte verschoben. Das hat mit der besonderen Stellung der Medien in der Gesellschaft zu tun. Denn die Medien haben in der Demokratie eine ganz besondere, geradezu einmalige Funktion: sie beobachten die anderen gesellschaftlichen Teilbereiche und informieren diese so über sich selbst.

Um dies erfolgreich tun zu können, muss das Mediensystem sehr offen für die Funktionsweise anderer Systeme sein, an diese schnell Anschluss gewinnen können und die dortigen Gepflogenheiten verstehen lernen. Ein Wirtschaftsjournalist muss Bilanzen lesen können, ein Medizinjournalist etwas vom menschlichen Körper verstehen. Gleichzeitig aber verteidigt dieses so offen gestaltete Mediensystem seine eigene Funktionslogik geradezu radikal, in dem es alles nur nach einem Kriterium bewertet: ob es zur Veröffentlichung relevant ist oder nicht. Das Mediensystem bewahrt also im Umgang mit anderen Gesellschaftsbereichen seine Eigenständigkeit durch Beharren auf seinem eigenen Funktionscode. Das aber bedeutet: Die Medien unterwerfen jene Bereiche, die sie beobachten, in ihren Urteilen ihrer eigenen Funktionslogik.

Seit den 1980er-Jahren geriet die Politik – teils selbstverschuldet und eigennützig kalkuliert, teils einfach überrollt von der geballten Macht der Medien nach der Einführung des dualen Rundfunks und der damit verbundenen Vervielfältigung der Medienkanäle – mehr und mehr in den Sog von Medienerwartungen, ohne sich diesen widersetzen zu können.

Unter diesen Umständen liegt es nahe, dass der erhöhte Einfluss der Medien oft die Verlockung der direkten politischen Intervention am Horizont aufscheinen lässt. Journalisten – oder zumindest solche, die nah an den Schaltstellen der Politik einflussreiche Positionen bekleiden –, sind heutzutage immer öfter nicht nur Kommentatoren der Politik, sondern selbst vielfach politische Akteure, die in Talkshows auftreten, Kampagnen choreografieren und ihren Einfluss für private oder politische Belange geltend machen.

Hier kommen dann tatsächlich auch die Jäger ins Spiel. Der langjährige Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann beschrieb vor ein paar Jahren in der Zeitschrift Cicero eine Szene in einem Berliner Hauptstadtbüro:
 

„Ein erfahrener Auslandskorrespondent, der seinen Bürochef um Genehmigung für ein Politiker-Porträt bat, erfuhr von dem herablassend, dass die Zeiten, in denen Reporter Politiker begleiteten, um sie beobachten, verstehen und beschreiben zu können, nun wirklich vorbei seien. ‚Ach’, sagte der Berlin-Neuling, ‚und was machen wir jetzt?’ Antwort: ‚Wir jagen sie.’“[1]

 
Man muss jetzt gar nicht auf Niklas Luhmanns berühmtes Diktum zurückgreifen, dass alles, „was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, (…) wir durch die Massenmedien“[2] wissen, um zu verstehen, dass die Medien in unserer Gesellschaft mittlerweile eine Rolle spielen, die über die bloße Moderation des gesellschaftlichen Zeitgesprächs weit hinausgeht.

Doch was sind eigentlich die originären Funktionen der Medien? Das Grundgesetz gibt hierfür immerhin Anhaltspunkte: Die Aufgaben der Medien in der Demokratie sind Information, Interessensartikulation sowie Kritik und Kontrolle. An erster Stelle steht die Information der Bürgerinnen und Bürger, das Berichten über aktuelle Geschehnisse und Vorhaben. Die zweite Aufgabe ist es, allen wichtigen Gruppen und Interessen in der Gesellschaft Gelegenheit zur Stellungnahme, zur Mitwirkung am Diskurs zu geben.

Journalisten organisieren und moderieren also das Selbstgespräch der Gesellschaft, die Medien stellen den Resonanzboden für die demokratische Öffentlichkeit bereit. Dies ist die Artikulationsfunktion: möglichst allen, von den Migranten bis zur Großindustrie, zu einer Stimme zu verhelfen, damit sie und ihre Bedürfnisse auch gehört werden.

Die dritte Aufgabe der Journalistinnen und Journalisten ist die Kritik und Kontrollfunktion, das Aufdecken von Missständen, der ständige kritische Blick auf das Handeln der Mächtigen. Dies ist die Funktion der Presse als viel beschriebener „vierter Gewalt“. Doch kommt sie dieser Aufgabe wirklich nach? Oder präsentieren die Medien eine eigene, nach einer selektiven Aufmerksamkeitslogik gestaltete Welt, in denen Nichtigkeiten zum Skandal erhoben werden und echte Skandale unbemerkt passieren? Maßen sich die Medien nicht die Macht an, so zu handeln, als ob sie nicht nur Beobachter, sondern auch Akteure aus eigenem Recht wären?
 

„Einem ehemaligen Chefredakteur der Berliner Zeitung wird ein Bonmot zugeschrieben, das leider Wahlspruch eines ganzen Berufsstandes sein könnte. ‚Die Presse ist ja die vierte Gewalt’, soll der Mann gesagt haben, ‚aber was sind noch mal die anderen drei?’“[3]

 
Die Frage ist, was ein solches Selbstverständnis des Journalismus und ein daraus abgeleitetes Medienhandeln für unser demokratisches Gemeinwesen und die Konstruktion unserer Öffentlichkeit bedeutet. Meine These ist: Ob Brüderle- oder Beschneidungs-Debatte, Pinot-grigio-Diskussion oder vermeintliche Ost-Anbiederung des SPD-Kanzlerkandidaten, ob die faulen Griechen, die dummen Banker oder die Frage, ob Stefan Raab beim Kanzler-Duell moderieren darf – immer seltener decken sich die Themen der politisch-medialen Entrüstungsspirale mit den drängendsten Fragen, die die Öffentlichkeit zu klären hätte. Die Medienlogik überlagert so die demokratische Diskurslogik, Erregungsfaktoren werden zunehmend wichtiger als gesellschaftliche Regelungsbedürfnisse, der Diskurs irrlichtert immer nervöser von Aufreger zu Aufreger.

Mediale Kopfgeldjägerei ist dabei längst eingepreist. Man denke nur an die Treibjagden auf Guido Westerwelle, Philipp Rösler, und jetzt Thomas de Maizière und Peer Steinbrück.

 

Von Skandalen und Schweigekartellen

Doch worüber reden wir eigentlich? Und was lassen wir aus? Dass die Amerikaner in Europa flächendeckend abhören, wissen wir spätestens seit der Diskussion um das Echelon-System vor 15 Jahren. 2011 veröffentlichte WikiLeaks die so genannten Stratfor-Mails, welche die im großen Stil angelegte Zusammenarbeit öffentlicher und privater US-Geheimdienste beim flächendeckenden Sammeln von E-Mails enthüllten. Und nun tun wir angesichts der Snwoden-Enthüllungen so, als sei dies alles völlig neu und einmalig?

Gerade die massierte und professionell kampagnenhaft betriebene Enthüllung von Missständen, wo wie in der Seifenoper jeden Tag ein bisschen nachgelegt wird, um die Suppe am Köcheln zu halten, ist eines der prägnantesten Kennzeichen der neuen Medienkultur. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird so über einen möglichst langen Zeitraum gestreckt, das eigene Medium so lange wie möglich ins Schlaglicht der Öffentlichkeit gerückt. Leider erweist sich so mancher spektakuläre Scoop nur als laue Pseudo-Enthüllung.

Die in den letzten Jahren beobachtbare, beinahe epidemische Zunahme von Skandalen ist eines der markantesten Kennzeichen hoch beschleunigter Mediengesellschaften. Das Wort scándalon bezeichnete übrigens ursprünglich das Stellhölzchen einer Tierfalle. Wird dieses berührt, schnappt die Falle zu, und man sitzt ausgestellt im Käfig – zum Gespött des Publikums.

Der Skandal, das öffentliche Zurschaustellen von Fehltritten einflussreicher Personen, hat dabei durchaus wichtige Funktionen für die Moral und politische Kultur einer Gesellschaft. An ihm justiert eine Gemeinschaft ihre ethischen Maßstäbe, Normen und Grenzen neu. Und je größer die Aufregung ist, die ein Skandal verursacht, desto klarer zeichnen sich alte oder neue Tabus, verwischte oder frisch entstandene Scheidelinien ab. Der Grad der Skandalisierbarkeit bestimmter Ereignisse lässt entsprechend Rückschlüsse auf den Erregungsgrad einer Gesellschaft, ihre Tabus und ihre politische Kultur zu.

Ein Skandal ist allerdings nicht einfach da, er muss öffentlich gemacht und durch massierte Berichterstattung popularisiert werden, um Wirkungsmacht zu entfalten. In seiner narrativen Struktur ist er dabei eine relativ simple Angelegenheit: Ein typischer Skandal hat eine klare Teilung von gut und böse und erzählt von Mächtigen, die alle ihre Privilegien skrupellos ausnutzen. Er verfügt idealerweise über einen David, der unerschrocken gegen Goliath antritt, und endet normalerweise mit der öffentlichen Vernichtung des Skandal-Auslösenden, dessen Sturz von so weit oben wie möglich erfolgen sollte.
 

„Diese schlichte und von jedermann auf Anhieb zu verstehende Dramaturgie des Skandals, verbunden mit dem hohen Erregungspotenzial, macht ihren Reiz für Publikum wie Medien aus – und für Letztere zu einem viel versprechenden Geschäft“,

 
schreiben Jens Bergmann und Bernhard Pörksen in ihrem Buch über Skandale.“[4]

Die Intensität eines Skandals leitet sich weniger von der Höhe des Schadens, den er anrichtet, sondern mehr vom Grad der moralischen Verfehlung ab, die eine Person begangen hat. Eine wesentliche Rolle spielt auch die mediale Erzählbarkeit des Skandals – wird er zu kompliziert und verwickelt, versteht ihn das Publikum nicht mehr. Der Skandal braucht deswegen eine einfache und griffige Formel, die ihn auf den Punkt bringt.

Die große Gefahr für Medien besteht bei der Anprangerung von Skandalen allerdings darin, dass sie ihre Beobachterrolle aufgeben und selbst Partei werden. Das macht sie unvorsichtig und angreifbar. Damit das Publikum weiß, dass es empört sein muss, liefern die skandalisierenden Medien die Handlungsimperative gleich mit: Da wird in seriösen Medien am Schluss der Skandalenthüllung gefolgert, dass der Rücktritt nun unausweichlich sei. Bild und andere Boulevardmedien sprechen die Skandalverantwortlichen sogar direkt an: „Bild fordert: Minister XY, treten Sie zurück.“

Gefährlich wird dies vor allem dann, wenn der Skandal gar kein wirklicher Skandal ist. Gerade in den letzten Jahren häufen sich, angetrieben von der Boulevardisierung, die Fälle von Pseudo-Skandalisierungen. Der heute selbst vielfach skandalerprobte Peer Steinbrück notierte vor ein paar Jahren erstaunt,
 

„wie in der medialen Vermarktung einerseits Nebensächlichkeiten aufgeladen und andererseits Probleme erheblichen Kalibers, offen angesprochen und gegen den Strich der Sozialverträglichkeit gebürstet, einem Mechanismus der Skandalisierung ausgesetzt werden. Das gilt in einer Breite, die unsere Zukunftsfähigkeit beeinträchtigt. Das erstaunliche Phänomen dieser medialen Ausbeutung der Politik ist, dass dieselben Medien, die über einen Mangel an politischen Führungsqualitäten, über politischen Opportunismus und profillose Politiker klagen, jeden Ausreißer, jede Tabuverletzung und jede parteipolitische Abweichung bestrafen.”[5]

 
Zu Steinbrück gleich mehr.

 

Horse-Race-Berichterstattung

Vor nicht all zu langer Zeit waren die heute auch die Skandalisierungspraxis seriöser Medien prägenden und dem Politischen so gar nicht zuträglichen, rein am Oberflächlichen und Visualisierbaren orientierten Aufmerksamkeitsfaktoren vor allem für die Berichterstattung des Privatfernsehens und die Boulevardpresse handlungsleitend. Seit einigen Jahren werden sie auch für seriöse Medien bestimmend.

Dies führt vielfach zu einem Qualitätsverlust der politischen Berichterstattung, da immer weniger der politische Nachrichten- und immer mehr der mediale Unterhaltungswert in den Mittelpunkt rückt. Der Schwerpunkt der Berichterstattung, auch in der seriösen Presse, verschiebt sich von den politisch verhandelten Inhalten hin zur Bewertung der Politikinszenierung. Typisch für diese Form des Journalismus ist das Verteilen von Haltungsnoten: Minister X macht in Krise XY eine souveräne Figur, Minister Z dagegen versagt total. Wir erleben das gerade mit unserem Verteidigungsminister.

Zudem werden strategisch-taktische, primär an Machterwerb und -erhalt ausgerichtete Fragen immer prominenter verhandelt: welche Parteizentrale sich wie aufstellt, welche Themen unter welchem Politiker nach vorn gebracht werden sollen, und was sich welche Partei davon angeblich erhofft. Dies entspricht der allgemeinen Unterstellung, dass es Politikern ausschließlich um Macht geht. Eine hoch personalisierte, rein an Machtarithmetik orientierte Berichterstattung überlagert so mehr und mehr die Erklärung von Fachthemen. „Politik der Politik“ hat Olaf Scholz dies genannt.

Gerade bei der Begleitung von Wahlkämpfen wird die so genannte Horse-Race-Berichterstattung zur stereotypen, in allen Medien exzessiv betriebenen Stilform. Dort wird, in der Regel gestützt auf die neuesten demoskopischen Daten, darüber berichtet, welche Partei gerade vorne liegt, und welchen kommunikativen Strategien sie dies zu verdanken hat. Was in den Programmen der Parteien steht, warum diese die Macht anstreben und wie sich ihre Spitzenkandidaten zu einzelnen Themen positionieren, findet dagegen kaum Erwähnung.

Oft nehmen die Medien in Wahlkämpfen eine gelangweilte Haltung der Pseudo-Unbeteiligtheit ein und geben beim Schaulaufen der Spitzenkandidaten den Schiedsrichter. Dabei erhöhen sie freilich kontinuierlich den Aktionsdruck, der auf der Politik lastet: Erst drängen sie Politiker zum Handeln, dann lehnen sie sich zurück und schauen zu, wie diese sich abstrampeln. Das Ergebnis wird oft als fauler Kompromiss, Durchwurstelei oder symbolischer Aktionismus diskreditiert – ganz so, als ob die Medien damit nie etwas zu tun gehabt hätten.

Diese ständigen medialen Aktionsattacken führen zu einer Veränderung des Politischen, die über die von vielen belächelte Konditionierung der Politiker auf die berühmten 30-Sekunden-Statements weit hinausgeht. Sie verändert nämlich mit der zunehmenden Beschleunigung der Mediengesellschaft nicht nur die Zeit, die Politik zur Verfügung hat, um sich in den Medien zu repräsentieren, sondern sie deformiert das gesamte Zeitgefüge, das die Politik zur Lösung von Problemen zur Verfügung hat. Die Atemlosigkeit der beschleunigten Medien wird zum Maßstab des politischen Prozesses.

Doch auch eine Gegenbewegung ist zu beobachten: Die Politik zieht sich von den allgegenwärtigen Medien zurück, verlagert ihr Kerngeschäft in Arkanzirkel und Hinterzimmer, die vor Medienberichterstattung sicher sind. Wirklich wichtige Entscheidungen – etwa Gerhard Schröders Entschluss zu Neuwahlen im Mai 2005 – werden lange im kleinsten Kreis vorbereitet und dann zu einem genau definierten Zeitpunkt handstreichartig öffentlich gemacht. Man will mit dieser Taktik um jeden Preis verhindern, dass Entscheidungen in den Medien wochenlang zerredet werden.

Letztlich entstehen so zwei Ebenen der Politik: eine Entscheidungs-Ebene, die eng mit dem poli-tisch-administrativen System verknüpft ist, und eine Verkaufs-Ebene, auf der die Politik ein Amalgamat mit den Medien eingeht, bei der es um die Kommunizierbarkeit – man könnte auch sagen, Verkäuflichkeit – politischer Maßnahmen entlang der dominierenden Medienregeln geht.

 

Anziehung und Abstoßung

Bisher haben wir uns auf den eher abstrakten Ebenen des neu justierten Machtverhältnisses von Politik und Journalismus bewegt. Doch wie sieht es auf der personalen Ebene des Umgangs von Politikern und Journalisten aus?

Die folgende Beobachtung ist schon beinahe ein Gemeinplatz: In der Berliner Republik ist bald nach dem Regierungsumzug 1998 ein politisch-medialer Komplex entstanden, in dem Politiker, ihre Zuarbeiter, Journalisten, PR-Leute und Lobbyisten wie in einem geschlossenen Biotop leben. Seine Mitglieder gehören soziografisch alle zur Mittelschicht, leben in den gleichen Vierteln, haben ähnliche Interessen, besuchen dieselben Restaurants und Partys, lesen dieselben Bücher und vertreten Werte, die insgesamt nur einen relativ schmalen Ausschnitt der Gesellschaft repräsentieren. Immer öfter bildet sich diese Lebenswelt direkt in der Medienberichterstattung ab, wenn etwa leidenschaftlich um den Charakter des Prenzlauer Bergs als Wohnquartier gestritten wird, Integrations- und Beschulungsfragen verhandelt werden oder Bebauungspläne zur Diskussion stehen.

Prägend für den Umgang der beiden Gruppen miteinander ist das, was Niklas Luhmann „Beobachtungen zweiter Ordnung“ genannt hat: Die Politik beobachtet in den Medien, ob sie aus ihrer Beobachtung der Gesellschaft die richtigen Schlüsse gezogen hat. Bekommt sie in den Medien Zustimmung für ihre Handlungen, lag sie offenbar richtig, bekommt sie Schelte, lag sie falsch.

Die Medien sind also neben Wahlen und Umfrageergebnissen der primäre Resonanzboden für die Selbstüberprüfung politischen Handelns. Das gleiche gilt für die Medien: Wenn deren publizistische Einlassungen zu politischen Debatten oder Korrekturen politischer Vorhaben führen, wenn sie gar von Politikern zitiert und als Beispiel angeführt werden, wissen die Medienmacher, dass sie ihre kommunikativen Interventionen richtig gesetzt haben. Deswegen beobachten die Medien unablässig die Politik dabei, wie diese die Medien beobachtet.

Ein typisches Beispiel hierfür ist die Flut im Sommer 2013, bei der sich für viele Spitzenpolitiker das Dilemma stellte, in die betroffenen Gebiete zu fahren, auch wenn man da nichts zu tun hatte, oder zu Hause zu bleiben. Beides war mit den Medien-Erwartungen nicht vereinbar. Auch wenn manchen Politikern wie Christian Ude oder Peer Steinbrück klar war, dass Gummistiefel-Tourismus wenig bringt, mussten sie sich dafür rechtfertigen, dies auch zu sagen. Nicht hingehen wäre ehrlicher gewesen, wurde aber in den Medien noch schlimmer zerrissen, als hinzugehen und freundlich bemüht durch den Matsch zu stapfen. Dann konnten sich die Medien wenigstens über die „entleerte Symbolpolitik“ der politischen Krisentouristen auslassen.

 

Anmerkungen zu Steinbrück

Dieses Dilemma gilt übrigens ganz grundsätzlich für Steinbrück und seinen Wahlkampf: Sein „Klartext“, die andere Sprache, die er anschlägt, hat ihn aus Sicht der Medien zum idealen Kandidaten gemacht. Entsprechend wurde er – vor allem von den Hamburger – Medien hochgeschrieben. Doch derselbe Klartext, die Verweigerung, in den gestanzten Formeln der Macht zu sprechen, ist es, wegen denen Steinbrück nun von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen gejagt wird. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass er es seinen Fallenstellern sehr einfach macht.

Der Fall Steinbrück zeigt: Die Kumpanei von Politik und Medien ist stets eine prekäre. Denn bei aller habituellen und sozio-kulturellen Nähe gibt es auch handfeste Interessensunterschiede: Die Politik hat ein Interesse daran, die Medien für ihre Zwecke gefügig zu machen und Störungen in ihrem Handlungsmodus möglichst zu unterbinden. Sie strebt nach Ruhe. Die Medien haben umgekehrt ein Interesse daran, Politik zu sensationalisieren, um ihre eigene Reichweite zu steigern. Sie wollen den ganzen Laden aufmischen.

Während Politik auf Entscheidungen, also das Lösen von Problemen, aus ist, sind Medien mit der Problemerzeugung durch Thematisierung von Missständen, Skandalen, etc. beschäftigt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Geschäftsmodell der Medien auf das Erzeugen von Interesse und Aufmerksamkeit ausgerichtet ist, während sich alle Energie der Politik auf Machtgewinn oder Machterhalt durch erfolgreiche Problemlösung ausrichtet.

Die Schwierigkeit der Politik mit den Medien ist deswegen, dass diese ständig neue Probleme erzeugen, welche oft die administrative Verdaulichkeit des politischen Systems überfordern. „Jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf treiben“, nennen die Politiker dieses Phänomen. Und unrecht haben sie damit nicht: Wenn die Medien in der einen Woche gegen Kampfhunde und in der anderen gegen die NPD mobil machen, können sie sich schon in der dritten Woche ganz anderen Themen zuwenden. Die Politik aber hat zwei neue Arbeitspakete verordnet bekommen, die sich – wie bei den Kampfhunden wegen des deutschen Föderalismus, oder beim NPD-Verbot aufgrund der hohen verfassungsrechtlichen Hürden eines Parteienverbots – über Jahre hinziehen können.

Scheitert dann, wie beim ersten NPD-Verbot, ein solches politisches Projekt, gilt die Problemlösungsfähigkeit der Politik als beschädigt, und die Medien prangern dies lautstark an. Dass man die Politik in ein von Anfang an wenig aussichtsreiches Unterfangen getrieben hat, findet natürlich keine Erwähnung. Der Chefredakteur des Berliner Tagesspiegels, Stephan-Andreas Casdorff, bemerkte in einer Phoenix-Runde einmal selbstkritisch, die Medien seien
 

„mitverantwortlich für unberechenbare Schritte von Politikern: Wir fordern ja ständig Aktionismus und warten gar nicht mehr ab, bis etwas wirkt.“[6]

 
Unter der oberflächlichen Vertrautheit der Gartenfeste und Stammtische ist so längst eine Kultur des Beobachtens und Belauerns entstanden. Jürgen Leinemann befand im Jahr 2005 über das Verhältnis der Politiker zu seiner Zunft: „Nein, sie trauen uns nicht wirklich mehr, glaube ich.“[7] Und hätten sie denn nicht Gründe genug dafür?

 

Die Politik versagt

Die Politik hat nach wie vor kein Mittel gefunden, um den massiven Ansprüchen der Medien ein eigenes, generisches Bild des Politischen entgegenzusetzen. Denn die Politik ist auf die Medien stärker angewiesen als umgekehrt, weil sie den Zugang zur Öffentlichkeit unabdingbar braucht.

Die Arbeitsteilung sieht heutzutage oft so aus, dass die Medien die Probleme liefern und die Politik die Lösungen. Um überhaupt Zugang zu den Bürgerinnen und Bürgern zu finden, imitiert die Politik die Aufmerksamkeitsregeln der Medien – oft um den Preis der Selbstaufgabe. Umgekehrt gilt, dass die Medien die Bandbreite des Politischen nur unzureichend erfassen, sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht in der Lage sind, die Prozesslogik der Politik adäquat abzubilden Das eigentlich Politische bleibt für sie oft unsichtbar. Diesen Effekt macht sich die Politik zunutze, um die Medien an der Oberfläche mit den von ihnen verlangten Inszenierungen zu bedienen, aber im Hinterzimmer ihren ureigenen Code, ihr eigenes Programm weiter zu verfolgen.

Dies ist eine gefährliche Strategie. Eigentlich müsste es Aufgabe der Politiker sein, Bollwerke gegen die Überformung des Politischen zu errichten. Sie müsste dafür Sorge tragen, dass politische Positionen nicht gänzlich hinter der Personalisierung verschwinden, und dass der Meinungsstreit unter möglichst breiter Beteiligung aller Teile der Gesellschaft geführt wird. Doch statt für die Verteidigung eines politischen Diskursraums zu kämpfen, der diesen Namen auch verdient, passt die Politik sich an. Statt sich also der allgemeinen Erregungsflut entgegenzustemmen und für die Versachlichung der Diskussion zu werben, versucht sie immer häufiger, sich an die Spitze der Welle zu setzen.

Die Lösung von Sachproblemen gerät dabei zunehmend in den Hintergrund, denn medialisierte Politik ist immer verkürzte Politik, mit einem besonderen Fokus auf das Symbolische an der Spitze, nicht mit Blick auf die Veränderung in der Fläche. Die Medien sind mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der persönlichen Beobachtung, der unmittelbaren Präsenz am Ort des Geschehens und der Konzentration auf die politischen Eliten nicht in der Lage, die Bandbreite des Politischen, das sich an vielen Orten gleichzeitig abspielen kann und kein eindeutiges Raum-Zeit-Personen-Kontinuum hat, hinreichend zu erfassen.

Und weil Journalisten zu dieser Ebene der Politikherstellung keinen Zugang finden, da sie gar nicht in der Lage sind, die Fülle der aktuellen Politikprojekte flächendeckend zu beobachten, auszuleuchten und zueinander in Beziehung zu setzen, fischen sie weiter an der Oberfläche, gehen munter auf O-Ton-Jagd und versuchen unbeirrt, aus drei nicht zusammenhängenden Sachthemen auf Teufel komm raus ein personales Konfliktthema zu basteln. Auch für die tieferen weltanschaulichen Fundamente der Parteien interessiert sich ein Großteil der Medien in der Regel nicht. Und weil sie diese ignorieren, ist Politik für sie fast immer nur Schlagabtausch an der Oberfläche, kurzfristiges Taktieren, der schnelle Hieb auf den Gegner.

 

Versuch eines Blicks nach vorn

Aus Perspektive der demokratiepolitisch angeleiteten Medienkritik ist die Frage entscheidend, wie sich das Politische und das Mediale im 21. Jahrhundert zueinander verhalten werden.

Natürlich bedrängen die Medien mit ihren bunten Bildern, ihren Verflachungen und Personalisierungen die Demokratie. Doch gleich von deren Ende zu fabulieren, wäre grotesk übertrieben. Das Politische ist noch da. „Es muss oft nur erst ein dickes Schutzschild aus oberflächlich modischen Scheindebatten durchbrochen werden, um den Kern wieder sichtbar zu machen.“

Pragmatismus ist angesagt. Die verfügbaren Räume, in denen das Politische noch unabhängig von Quoten- und Machterhaltungsimperativen fortbesteht, müssen sorgsam gehegt und verteidigt werden. Die Deformation des Politischen durch eine omnipräsente Medienlogik, die alles auf personalen Konflikt und dramatisches Geschehen reduziert, lässt sich nur durch Schutzräume zurückdrehen, in denen diese Medienlogik nicht den Diskurs dominiert.

Die Journalistin Carolin Emcke hat in ihrer Eröffnungsrede zur Jahrestagung 2010 des Netzwerks Recherche wundervoll beschrieben, wie ein Beitrag des Journalismus zu einem weniger vermachteten und taktisch ausgerichtetem Diskurs aussehen könnte:
 

„Wenn ich also [..] sagen darf, was für einen Journalismus es braucht für diese Welt, dann würde ich mir folgendes wünschen: Einen Journalismus, der misstrauisch ist und zweifelnd daherkommt, nicht besserwisserisch, sondern fragend, ich würde mir Geschichten wünschen, die ambivalent und offen sind, nicht eindeutig und geschlossen und ich würde mir Journalisten wünschen, die leidenschaftlich und nachdenklich zugleich sind, die sich einlassen auf die Wirklichkeit jenseits des Hauptstadtbüros, die teilnehmend, nicht distanziert beobachten, dichte Beschreibungen von Gegenden liefern und den Blick für die feinen Unterschiede behalten, ich würde mir einen Journalismus wünschen, der alle Genres des Internets entdeckt und bespielt, der sich die Räume dort erobert, wo es nötig ist, und sie sein lässt, wo es möglich ist, ich wünsche mir einen Journalismus, der nicht der Wirklichkeit hinterherhetzt, sondern sie kritisch hinterfragt, und, wie hat Henry Kissinger jüngst in einem Interview mit Newsweek gesagt: ‚You have to know the difference between what is urgent and what is important.’“

 
All dieses Potenzial trägt der Journalismus durchaus in sich. Er ist selbst immer noch ein Hoffnungsträger der politischen Emanzipation und der kommunikativen Vernunft. Es wäre gar nicht so schwer für ihn, auch unter den existierenden Medienbedingungen wieder dorthin zurückzufinden, wo er einst gestartet ist: als Moderator gesellschaftlicher Diskurse.

Er müsste sich dafür nur dazu entschließen, eine normative Begründung für seine eigene Positionierung zu entwickeln, statt einfach nur „irgendwie dabei sein“ zu wollen. Hierzu einige Handreichungen aus Perspektive des Medienkritikers für den praktischen Journalismus:
 

1. Nie zynisch werden

So traurig und fantasielos auch bestimmte Manöver der Politik wirken mögen: der gelangweilte Zynismus, mit dem die Medien oft unisono feststellen, dass ja alles schon einmal da war, diskreditiert nicht nur die Politik, sondern auch die Medien selbst, weil er offenlegt, dass es am Ende in der journalistischen Diskussion eben doch nur Sensationen geht.
 

2. Weniger „Politik der Politik“

Also weniger schreiben und senden über Parteistrategien, Konkurrenzkämpfe und taktische Manöver – wobei all das auch zum Journalismus gehört –, und hin zur Tiefe der Inhalte. Wie funktioniert das Konzept der Bürgerversicherung genau? Was sind die Effekte der Föderalismusreform? Wie unterscheiden sich die familienpolitischen Konzeptionen der Parteien?
 

3. Weniger Stereotypisierung

Also nicht immer nach Schablonen suchen, sondern versuchen, Dinge und Menschen so zu begreifen, wie sie sind. Bei Talkshow-Einladungen zum Beispiel, in der auch die Publikums-Einspieler nach naiven Rollenzuweisungen wie „der Empörte“, „der Verweigerer“, „der Fan“ besetzt werden.
 

4. Weniger Sendungsbewusstsein

Und eine klarere Trennung von Meinung und Information. Nicht immer schon alles bewerten, bevor man dem Publikum überhaupt den Sachverhalt erklärt hat.
 

5. Die eigene Weltsicht öffnen

Nur routiniert Gemachtes findet heute immer weniger Interesse. Reich beschenken kann uns die Entdeckung des Besonderen im Alltäglichen: So gibt es kaum einen intelligenten Journalismus der Lebenslust jenseits von dröger Landleben-Romantik inklusive Strickanleitungen und idiotisch getexteten Lifestyle-Beilagen. Es gibt auch keinen Journalismus der letzten Stunde, also einer emphatischen Auseinandersetzung mit Krankheit, Armut und Tod.
 

6.

Gebraucht wird mit Sicherheit ein neuer Balanceakt von Enthüllung und Orientierung in den Medien. Die Causa Christian Wulff war hier eindeutig ein Umkehrpunkt, der in seiner Tragweite erst voll reflektiert werden muss.

Im Kern geht es darum, dass wir den Zusammenhang zwischen demokratischer Diskursqualität und der guten Ausgestaltung des Gemeinwesens wieder ins Bewusstsein heben müssen. Zur fairen und solidarischen Regelung unserer gemeinsamen Belange unter Einbeziehung aller brauchen wir den Journalismus heute dringender denn je, denn von ihm wird eben jene Arena bereitgestellt, in der mit Argumenten um die beste Lösung gerungen werden muss. Deswegen haben wir auch als Gesellschaft ein Problem, wenn der Journalismus konsequent an seiner eigenen Irrelevant-Werdung arbeitet, weil ihm die klaren Parameter der Orientierung verloren gegangen sind, während das Internet seine ökonomische Basis untergräbt. Auch deswegen ist es Zeit zum Umdenken.

 


 
[1] Jürgen Leinemann: „Wir jagen sie“; in: Cicero. Magazin für politische Kultur Nr. 7/2005 vom 30.6.2005
[2] Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden 1996 (2. Aufl.), S. 9
[3] Susanne Gaschke: Das Volk sind wir; in: Die Zeit Nr. 40 vom 24.9.2009
[4] Jens Bergmann u. Bernhard Pörksen: Einleitung. Die Macht öffentlicher Empörung; in: Dies. (Hg.): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung, Köln 2009, S. 13-33, hier S. 18.
[5] Peer Steinbrück: Unterm Strich, Hamburg 2010, S. 380f.
[6] epd‑Medien, 40/41, 25.5.2005
[7] Jürgen Leinemann: „Wir jagen sie“; in: Cicero. Magazin für politische Kultur Nr. 7/2005 vom 30.6.2005

 

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