von Lorenz Lorenz-Meyer, 18.11.14
Das Wort „Kampagne“ hat einen negativen Beigeschmack. Nicht so sehr in der Werbung oder PR – dort zeigen wir Verständnis dafür, dass Kommunikationsziele in größeren, orchestrierten Projekten über längere Zeiträume verfolgt werden, das gehört dort zum Geschäft. Aber im Journalismus gelten Kampagnen als anrüchig. Redaktionen oder einzelne Journalisten, die Positionen beziehen und diese dann auch noch hartnäckig verfolgen, riskieren, auf diese Positionen reduziert zu werden und insgesamt an Reputation und Glaubwürdigkeit einzubüßen.
Ich habe bereits an anderer Stelle über die Frage nachgedacht, was eigentlich problematisch ist an einem engagierten, parteilichen Journalismus, und bin zu dem Schluss gekommen, dass das eigentlich bedrohte und schützenswerte Gut im Journalismus nicht die Unparteilichkeit ist, sondern die Unabhängigkeit des Urteils. Hier möchte ich nun dafür argumentieren, dass es Themenfelder gibt, in denen journalistische Kampagnen nicht nur akzeptabel, sondern sogar notwendig sind.
Nachrichtenfaktoren ergeben kein wirklich konsistentes System
Die empirische Nachrichtenwertforschung hat über die letzten ca. 100 Jahre Befunde darüber erhoben, welche Ereignisse es schaffen, in journalistische Medien zu gelangen. Auch wenn das immer wieder missverstanden wird: Diese Befunde sind nicht normativ angelegt. Das heißt: Sie geben nicht wieder, wie Journalisten Nachrichten auswählen sollten, sondern wie sie es de facto tun. In den ermittelten Nachrichtenfaktoren (Relevanz, Aktualität, Prominenz, Betroffenheit, Nähe,…) spiegelt sich einerseits wider, wie Redaktionen ihren journalistischen Auftrag verstehen, und andererseits, was sie von ihren Lesern, Nutzern, Zuschauern oder Zuhörern und deren Nutzungspräferenzen wissen.
Es überrascht also nicht, dass die Nachrichtenfaktoren kein wirklich konsistentes System ergeben. Denn nicht immer lassen sich journalistischer Auftrag und Publikumsnachfrage zur Deckung bringen. Dies ist besonders dann nicht der Fall, wenn Ereignisse, die als gesellschaftlich bedeutsam (Nachrichtenfaktor: Relevanz) eingeschätzt werden, komplex, strukturell und in ihren Konsequenzen langfristig und vermittelt sind. Ereignisse wie der Klimawandel, die Verselbständigung der Finanzmärkte, der Niedergang der Mittelschichten oder die Erosion der Bürgerrechte in den westlichen Gesellschaften lassen sich schlecht bebildern oder personalisieren, sie sind nicht tagesaktuell, weisen oft wenig spürbare Nähe zu den Konsumenten auf.
Wahrgenommene Relevanz und Aufmerksamkeit
Für kommerzielle, marktbasierte Medien ist die Verfolgung von Nachrichtenfaktoren wie Relevanz, die sich nicht automatisch in Konsumentennachfrage niederschlagen, ein Luxus. Es ist also kein böser Verlegerwille, sondern schlicht eine Gesetzlichkeit des Marktes, dass in harten Marktlagen ein Qualitätsjournalismus, der seinen Konsumenten etwas zumutet, kommerziell gesehen zum teuren Nischenprodukt wird. Doch auch in nicht-kommerziellen, beispielsweise öffentlich-rechtlichen Medien ist der Widerstand des Publikums gegenüber abstrakten, schwer vermittelbaren Problemlagen ein Riesenproblem. Denn ohne wechselseitige Aufmerksamkeit kann man nicht miteinander kommunizieren.
Wer daran festhält, dass Journalismus als ,vierte Gewalt‘ eine gesellschaftliche Aufgabe erfüllt, daran, dass relevante Themen auch dann in eine breite Öffentlichkeit gehören, wenn sie nicht ,knallen‘, der hat sich einer kniffligen Vermittlungsaufgabe zu stellen: Wie sorgen wir dafür, dass diese Themen die Aufmerksamkeit bekommen, die ihrer wahrgenommenen Relevanz entspricht?
Wenn wir vor dieser Aufgabe sofort kapitulieren, richten wir uns von vornherein im journalistischen Mittelmaß ein. Denn wirklich guter Journalismus schafft es nicht nur, Geschichten so zu erzählen, dass auch unauffällige Details zum entscheidenden Angelpunkt werden können. Er ist darüber hinaus auch in der Lage, sein Publikum über längere Strecken zu binden, mitzunehmen und auf Weitergehendes vorzubereiten – zu ,primen‘, wie der medienpsychologische Jargon es nennt. Mit Geduld und Zielstrebigkeit ist es so möglich, Themen aufzubauen und im Bewusstsein der Rezipienten zu verankern.
Bemühungen um Relevanzvermittlung bleiben meist ad hoc und kurzatmig
Natürlich wird dies in den Redaktionen auch immer wieder versucht. Wann immer eine neue Studie über abschmelzende Eiskappen erscheint oder die Regierungschefs sich zu einem weiteren Klimagipfel treffen, zieht man wieder den einsamen Eisbär aus der Bilderschublade, permutiert erneut die einschlägigen Schlagworte. Und immer wieder versucht man auch, einen neuen, noch nicht erschöpften Dreh zu finden: diesmal eine Geschichte über eine Inuit-Familie statt der zuvor erzählten Geschichte über die arktische Tierwelt. Und so lange Edward Snowden in Moskau im Exil ist, hat auch der Kampf gegen staatliche Beschnüffelung ein sympathisches Gesicht – auch wenn es nicht unser Gesicht ist, und wir das Thema so weiterhin bequem vor uns her schieben können.
So bleiben all diese journalistischen Bemühungen um Relevanzvermittlung leider meist ad hoc und kurzatmig, es gibt keinen Zusammenhang, keine Dramaturgie, keinen Plan, die Brücke zur Erlebniswelt des Publikums wird nicht geschlagen. Bei den Rezipienten entsteht unterm Strich der Eindruck des Stillstands und der Redundanz – ein Eindruck, der allein den Impuls erzeugt, bei diesem und beim nächsten Mal abzuschalten, auszusteigen, weiterzuklicken.
Hier kommt der Begriff der Kampagne ins Spiel. Kampagnen sind langfristige, orchestrierte Maßnahmen, die ein anspruchsvolles Kommunikationsziel verfolgen. Und genau daran fehlt es: Wie die Werbung oder die PR, muss der Journalismus es lernen, stärkere Botschaften zu entwickeln (und seien es zunächst einmal Relevanzbotschaften) und diese im Sinne von Kampagnen nachdrücklich und nachhaltig zu kommunizieren. Das Publikum wird sich dem nicht widersetzen, wenn die Botschaften argumentativ glaubhaft aufgebaut und spannend vermittelt werden, im Gegenteil: Es will gefesselt werden. (Wie so etwas funktionieren kann, kann man gerade am immensen Erfolg der US-amerikanischen True Crime-Podcastserie „Serial“ beobachten, in der dem Publikum neben einem 15 Jahre alten Kriminalfall zugleich ein Einblick in die Stärken und Schwächen der US-amerikanischen Kriminaljustiz vermittelt wird.)
Transmediale und dialogische Dramaturgie
Eine längerfristig angelegte redaktionelle Strategie zwingt dabei die Journalisten zu gründlicherer, zugleich breiterer und tieferer Recherche. Es bringt sie dazu, sich intensiv nicht nur mit der Sache zu beschäftigen, die es zu vermitteln gilt, sondern auch mit den Lebenswelten des angesprochenen Publikums. Denn Ziel muss es sein, diese beiden Pole mit Hilfe eines Geflechts gut erzählter Geschichten einander anzunähern und letztlich zusammenzuführen. Die Nähe, die das Publikum motivieren wird, dauerhaft näher hinzuschauen, muss erst einmal glaubwürdig nachgewiesen werden.
Es gilt also, Themen wie die oben genannten (Klimawandel, Verselbständigung der Finanzmärkte, Niedergang der Mittelschichten, Erosion der Bürgerrechte) jeweils in eine Vielzahl anschaulicher Facetten aufzulösen und diese durch eine geschickte Dramaturgie wiederum zu einem potentiellen Gesamtbild zusammenzufügen, das dem Publikum die Tragweite der geschilderten Entwicklungen vermittelt. Diese Dramaturgie ist idealer Weise transmedial und dialogisch angelegt, sie ist in ihrer Ausrichtung nicht defätistisch, sondern an Lösungen orientiert.
So liefert das Verfahren letztlich nicht nur einen Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung, es schafft auch eine Basis für den gesellschaftlichen Diskurs. Kampagnenjournalismus dieser Art ist weder einseitig noch manipulativ. Er ist ein konstruktiver Beitrag zu einer informierten Öffentlichkeit, die wiederum Voraussetzung für eine offene Gesellschaft und eine funktionierende Demokratie ist.