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Piraten: Aufrecht in den Untergang

von , 8.1.14

Zu dem für die Piratenpartei ernüchternd ausgefallenen Ergebnis der Bundestagswahl sowie mehreren krachend verlorenen Landtagswahlen sind bereits zahlreiche mehr oder weniger treffende Analysen geschrieben worden. [2] Man könnte dieses Spiel nun weiterführen, und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass es auch nach den Wahlen im Jahr 2014 weitergeführt wird.

Die meisten Wahlanalysen gehen von der Grundfrage aus, aus welchen Gründen es der Partei bei der jeweiligen Wahl nicht gelungen ist, eine entsprechende Wählerschaft zu mobilisieren. Diese konformistische Herangehensweise ist zunächst durchaus angebracht, schließlich ist es Sinn und Zweck der Parteien, im vorgefundenen Parlamentarismus Einzug ins Parlament zu halten.

Gleichzeitig bleiben die Erkenntnisse einer auf die jeweilige Mobilisierungsfähigkeit gerichteten Sichtweise jedoch recht beschränkt: Der o. g. Sinn und Zweck der Parteiarbeit wird eben vorausgesetzt und anerkannt. Ausgeblendet wird dabei die Frage, wozu es überhaupt eine Partei wie die Piraten braucht, vor allem, wenn ihr Ziel wirklich nur die Teilnahme am parlamentarischen Prozess sein soll.

Die Frage sollte also vielmehr sein: Was wollen die Piraten überhaupt in den Parlamenten?

„Klarmachen zum Ändern“ ist ein älteres Motto, das sich die Partei irgendwann einmal gegeben hat. Der Anspruch, etwas anders machen zu wollen, ist wohl nach wie vor vorhanden. Wenn nun aber „geändert“ werden soll, so müssen sich die Piraten doch irgendwann einmal darüber klar werden, was sie denn nun wo ändern wollen. Hier ist eines der wirklichen inhaltlichen Defizite der Partei. Schlagworte wie „Transparenz“, „Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe“ oder „Digitale Gesellschaft“ sehen im Parteiprogramm vielleicht ganz gut aus und können als Zielvorstellung dienen.

Dass ein Parteiprogramm eher als unverbindliche Absichtserklärung gelten kann, lehrt die Erfahrung: Sozialdemokraten machen asoziale Gesetze, ehemals grüne Pazifisten sorgen für Kriegseinsätze, oder eine privatisierungskritische Linkspartei privatisiert, sobald sie in der Regierung sitzt. In einem Parteiprogramm können Absichtserklärungen und Wunschvorstellungen zusammengefasst werden. Das machen alle so.

Als Partei, die „ändern“ will, müssen sich die Piraten fragen: Lassen sich unsere Absichtserklärungen und Wunschvorstellungen überhaupt in einem parlamentarischen System verwirklichen, das so funktioniert, wie wir es in Deutschland vorfinden?

 

Auf dem Weg zur Postdemokratie

Seit einigen Jahren wird das hauptsächlich vom britischen Politologen Colin Crouch geprägte Konzept der Postdemokratie diskutiert.

Postdemokratie meint – verkürzt – ein politisches System, in dem zwar Wahlen abgehalten werden, welche sich allerdings nicht um tatsächliche Alternativen drehen. Vielmehr werden durch professionelle PR Themen gesetzt und dadurch ein politisches „Spektakel“ inszeniert, wobei die eigentlichen Entscheidungen von Regierung und wirtschaftlichen Eliten hinter verschlossenen Türen, wenn schon nicht getroffen, so doch in die Spur gebracht werden. [3]

Was öffentlich als Politik wahrgenommen wird, gleicht hierbei einer permanenten Marketing-Veranstaltung. Politische Kommunikation findet nicht mehr als Diskurs statt, sondern verkommt zum blubbernden Verkaufsgespräch. Erkennbar sei die Entwicklung der „westlichen Demokratien“ hin zu einer Postdemokratie auch in den ideologisch überholten gängigen Parteien, die ihrer Identität nach „mit den Konflikten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts verhaftet“ [4] seien. Den Wähler/innen kämen die Wahlkämpfe in diesem System wie „Werbefeldzüge von Firmen“ vor, und nicht wie ein „ernster Diskurs mit Bürgern“. [5]

Und ähnlich wie sog. Globalisierungskritiker/innen sieht Crouch auch die Entwicklungen, die mit der Globalisierung von Wirtschaft und Politik einhergehen:
 

„Die wichtigsten politischen bzw. wirtschaftlichen Prozesse finden auf einer Ebene statt, welche die nationale Demokratie nicht mehr erreichen kann. Immer mehr erkennen wir, dass die Bürgerrechte, die national verteidigt werden, gegen übernationale Gebilde auf verlorenem Posten stehen.“ [6]

 
Weiterhin sei ein Merkmal der Postdemokratie die Abwesenheit der Trennung von Politik und Wirtschaft, die zwar theoretisch proklamiert werde, im „aktuell existierenden Neoliberalismus“ [7] aber tatsächlich nicht bestehe, auch wenn dieser Befund von den Befürwortern des Status quo bestritten werde. [8]

Den postdemokratischen Parteien, die sich in einzelnen Programmpunkten vielleicht unterscheiden mögen, aber alle den o. g. Mechanismen folgen, bleibt es dabei überlassen, hin und wieder zu Wahlen aufzurufen. Die Bevölkerung spielt in diesem System eine eher passive Rolle. [9]

Tendenziell verhält es sich so auch mit der Institution des Parlaments: Wer glaubt, im Parlament würde mit Sachlichkeit und Argumenten gestritten, ist im besten Fall naiv. Und wer meint, ein Parlament in der vorgefundenen Form diene der Kontrolle der Regierung, hat nicht viel verstanden oder ist Politiklehrer/in.

Im Gegenteil: Das heutige Parlament – das ist eine Binsenweisheit – dient der scheinbaren demokratischen Legitimierung von Regierungspolitik. Der vorgebliche Kampf zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen ist ein symbolischer Akt, dessen Ausgang immer schon von vorneherein gewiss ist. Die bisherigen Oppositionsfraktionen begreifen sich hier auch eher als „Regierung im Wartestand“ denn als tatsächlich opponierende Akteure.

Die Arbeit im Parlament ist weitaus weniger attraktiv, als es von außen den Anschein haben mag. Sie ist auch weitaus weniger politisch. Sie besteht für eine Oppositionsfraktion vor allem darin, zu akzeptieren, dass lang erarbeitete Anträge oder sonstige Initiativen von den regierenden Fraktionen ohne Debatte vom Tisch gewischt werden.

Die Parlamentsarbeit besteht auch darin, ein feindseliges Umfeld auszuhalten, das in erster Linie von Parteiinteressen – und nicht von Parlamentsinteressen – geprägt ist. Sei es, dass Vertreter/innen von Regierungsfraktionen, die außer ihrem Parteibuch so gut wie keine Kompetenzen aufweisen können, abfällige Bemerkungen machen oder auch vor Verleumdungen nicht zurückschrecken. Oder sei es, dass Vertreter/innen von Oppositionsfraktionen zwar eine oppositionelle Gemeinsamkeit heucheln, in Wirklichkeit aber nur die Konkurrenz klein halten wollen und gerne auch mal einen ins offene Messer laufen lassen.

Das parlamentarische Klima ist eines, das von Parteien-Kaspereien, Falschheit und Intrigen geprägt ist und in dem man aufpassen muss, mit wem man über was spricht. Für Parteimenschen, die sich seit Jahrzehnten in diesem Bereich bewegen, oder solche, die über ihre Parteilaufbahn so konformistisch sozialisiert sind, dass sie als Parlamentsneulinge genau so hohl agieren wie die Alten, ist dieses Klima nichts Befremdliches.

Für Piraten, die einen, wenn auch diffusen, aber immerhin ehrlich gemeinten politischen Anspruch haben, ist dieses Klima mindestens unangenehm. Das ist wahrscheinlich schon so, seit es Parlamente gibt. Verstärkt wird die unpolitische, weil nicht kontrollierende, sondern nur noch den Status quo abnickende Ausrichtung des Parlaments durch die den o. g. Mechanismen folgenden postdemokratischen Parteien.

 

Pathologie der Politik

Man kann nun gegen den Begriff der Postdemokratie einwenden, dass demokratische Systeme schon immer gewisse Funktionsstörungen aufwiesen bzw. es mit der proklamierten Demokratie oft nicht allzu weit her war.

Schon 1966 kritisierte Karl Jaspers die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik als ein System, in welchem per Grundgesetz „die Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum“ [10] beschränkt sei. Dies habe seine Ursache zum Beispiel darin, dass für die Bürgerinnen und Bürger lediglich von den Parteien vorgesetzte Listen und Personen zur Wahl stünden, dass also die Parteigremien die Grundrichtung des Wahlprozesses angeben, und nicht die Bevölkerung selbst. Um überhaupt Einfluss nehmen zu können, sei eine Parteimitgliedschaft notwendig. [11] Die tatsächlich von  der Bevölkerung ausgehende Wirkung sei „ungemein gering“. [12]

Etwas weniger abstrakt verhält es sich vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse rund um Geheimdienste und vorgeblich die Verfassung schützende Institutionen mit der ebenfalls schon Jahrzehnte alten Kritik am Prinzip der Geheimhaltung innerhalb demokratischer Systeme.

Carl J. Friedrich benannte die Geheimhaltung als eine Funktionsstörung, die der Demokratie grundsätzlich widerspreche. „[D]ieser Widerspruch lässt sich durch keine noch so subtilen Gegenargumente aufheben.“ [13]

Friedrich bezieht diese Kritik in erster Linie auf geheimdienstliche Politik. Mit welcher Inkompetenz Geheimdienste in Deutschland arbeiten, belegt deren weitläufiges Versagen in den Vorgängen um den NSU. Offiziell dokumentiert ist dies zum Beispiel im Bericht des Untersuchungsausschusses des Bundestages. Vom Versäumnis, die eigenen Quellen auf den NSU anzusetzen, über das Zurückhalten von Informationen zum vorgeblichen Schutz eben dieser Quellen, der Verstrickung von Verfassungsschutz-Quellen in die Führungsebene der Neonaziszene bis hin zu mehrfach vorgenommenen Aktenvernichtungen ist alles dabei. [14]

Wie mit solchen Institutionen die Verfassung „geschützt“ werden soll, ist unklar. Vielmehr sind die so genannten Verfassungsschutzämter als teilweise verselbständigte Bürokratien anzusehen, deren Selbstzweck ihre Selbsterhaltung ist, und die deshalb nicht müde werden, ihre eigene Wichtigkeit zu unterstreichen. Da es im Wesen von Geheimdiensten angelegt ist, sich der demokratischen, also öffentlichen, Kontrolle möglichst zu entziehen, kann dem immer wieder von den Ämtern vorgebrachten Scheinargument, man habe wichtige „Erkenntnisse“ über diese oder jene gefährliche Entwicklung zusammengetragen, nichts entgegengesetzt werden. Im Grunde genommen versuchen die Ämter sich lediglich durch die von ihnen selbst geschaffenen Angst-Szenarien zu legitimieren.

Die Frage ist dabei, ob diese Bürokratien überhaupt noch reformierbar sind, oder ob sie nicht einfach abgeschafft gehörten. Die Republik würde jedenfalls nicht sofort zusammenbrechen: Für die Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten sind ohnehin andere Behörden zuständig, und das Sammeln von autonomen Flugblättern und Zeitungsausschnitten über Linkspartei-Politiker besorgen zahlreiche politische Archive besser als duckmäuserische Beamte.

Wie dem auch sei: Solcherlei verselbständigte Apparate lassen sich von einem Parlament nicht kontrollieren, selbst wenn es ständige, selbstverständlich geheim tagende Ausschüsse einrichtet, oder beim jeweiligen Geheimdienstskandal einen Untersuchungsausschuss hinterher schiebt. [15] Dem Staat und seinen Institutionen hier bedingungslos zu vertrauen, ist nicht angebracht.

Dennoch ist auch innerhalb der Piratenpartei die Haltung verbreitet, der Staat und seine Institutionen seien eine Ansammlung unpolitischer Behältnisse, die nur mit dem richtigen Inhalt gefüllt werden müssten. Das parteiintern oft gebrauchte geflügelte Wort vom Rechtsstaat und dessen unkritische Anrufung zeugen nicht nur von politischer Naivität. Darüber hinaus geht diese Sichtweise von der Prämisse aus, beim Staat handle es sich um eine neutrale Instanz, an deren Vertreter/innen man nur ausreichend stark appellieren müsste, um einen „Politikwechsel“ zu bewirken oder dem „Allgemeinwohl“ zu dienen.

Der Staat ist jedoch entgegen dieser Auffassung gerade nicht als neutral zu betrachten, sondern als „eine zentrale Instanz, um die bestehenden, herrschaftsförmigen gesellschaftlichen Verhältnisse abzusichern […]“. [16] Es kommt demnach zunächst nicht darauf an, wer oder welche Partei gerade an der Regierung ist, da im vorgefundenen System eben strukturelle Gegebenheiten herrschen, die zunächst geändert werden müssten, sollte sich daraus tatsächlich eine wahrnehmbare oder gar universelle politische Veränderung ergeben.

Ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen stünde einer Partei gut zu Gesicht, die sich die Bewahrung der Abwehrrechte der Bürger/innen gegen den Staat (Grundrechte) auf die Fahnen geschrieben hat und in der der Begriff „Bürgerrechte“ ebenfalls hoch gehandelt wird. Auch die Verfassungsgerichte sind zu diesen Institutionen zu rechnen, werden sie doch ausschließlich (partei-)politisch besetzt.

Macht sich die Piratenpartei ein unkritisches und staatsgläubiges Politikverständnis zu eigen, kann sie vielleicht vor den Augen der nichts als den Status quo akzeptierenden Akteure – wie zum Beispiel Politiker/innen anderer Parteien oder durchschnittliche Journalist/innen – bestehen und weiter im einen oder anderen Parlament Platz nehmen. Ihr Anspruch zum „Ändern“ ist damit jedoch nicht umzusetzen. Vielmehr würde sich die Partei durch ihr Aufgehen im postdemokratischen Parteiensystem selbst überflüssig machen – so sie ihren Anspruch wirklich ernst nimmt und es sich dabei nicht nur um ein Label eigener PR-Strategien handelt.

Wie also können und wollen Piraten in so einem Kontext wirken? Wollen sie sich anpassen, sich also auf den im Kern unpolitischen Parteien-Reigen einlassen, oder wollen sie versuchen, dieses System zu verändern? Das ist die Systemfrage, die sich die Piratenpartei stellen muss, wenn sie eine Berechtigung als wirklich neue Art von Partei haben will.
 

Schiffswrack, Foto: Georg Sedlmeir, CC BY-NC-ND

Schiffswrack, Foto: Georg Sedlmeir, CC BY-NC-ND

 

Wir sind subversiv

Diese Frage hat die Partei zum Teil schon selbst beantwortet – auch wenn die deutliche Negation des Status quo selbst manchen Parteiakteuren nicht klar zu sein scheint.

Denn die Piratenpartei ist in ihrer Ausrichtung zumindest in einigen Feldern durchaus subversiv: dann nämlich, wenn sie mehr oder weniger radikale Umverteilungsstrategien propagiert, wie sie es bspw. mit dem fahrscheinlosen ÖPNV [17] oder dem Einsatz für ein bedingungsloses Grundeinkommen [18] vollzieht. Gleiches gilt für die Forderung der Partei nach der „Transparenz aller staatlichen Prozesse“ [19], welche auch die Veröffentlichung von Verträgen zwischen öffentlichen Einrichtungen und privaten Firmen umfasst. [20]

Solch eine Forderung mag zunächst leicht über die Lippen gehen. Bedacht werden sollte hierbei aber, dass ihre tatsächliche Umsetzung einen frontalen Angriff auf bestimmte korruptive Zusammenhänge bedeuten kann. Man muss hier nicht gleich das Bild des mit Geldscheinen gefüllten schwarzen Koffers vor Augen haben. Es genügt, sich zu vergegenwärtigen, dass mit solchen Verträgen öffentlich-private Beutegemeinschaften etabliert werden können, die wohl politisch verwerflich und illegitim sind, deren Illegalität aber nur schwer nachgewiesen werden kann. [21]

Dies wiederum macht die Forderung nach dem öffentlichen Zugang zu solchen Vertragswerken zu einer im Grunde genommen eher unangenehmen Sache für die jeweilige Regierung sowie die Oppositionsparteien, die sich als Regierung im Wartestand begreifen, genauso wie die Forderung nach Transparenz bei Unternehmen im Eigentum der öffentlichen Hand. Als kleines Beispiel mag hier der Antrag der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin gelten, mit dem durchgesetzt werden sollte, dass der Aufsichtsrat der für den Bau des Flughafens BER zuständigen Flughafengesellschaft öffentlich tagen soll. Der Antrag wurde von SPD, CDU, Grünen und Die Linke abgelehnt. [22]

Nicht anders verhält es sich mit dem in den Verlautbarungen der Partei immer wieder propagierten Whistleblowerschutz. Die Partei begreift Whistleblower bislang als „wichtiges Korrektiv in jeder freien und demokratischen Gesellschaft“, zu dessen Schutz entsprechende gesetzliche Maßnahmen gefordert werden. [23]

Diese Einschätzung als „Korrektiv“ geht in mancherlei Hinsicht nicht weit genug. Es gibt Bereiche, in denen Whistleblowing keinen korrigierenden, sondern einen subversiven Akt darstellt. Dann nämlich, wenn die Machenschaften von Machtkartellen, korrupten Zusammenhängen, Geheimdiensten oder repressiven Bürokratien ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden und es zu einem gesellschaftlichen Diskurs über die jeweilige Legitimität solcher Machenschaften kommt. Es kann dann zwar sein, dass ein Zustand „korrigiert“ wird. Gleichzeitig kann Whistleblowing –  zum Beispiel im Fall geheimdienstlicher Arbeit – jedoch ein Angriff auf bestehende Ordnungen sein.

 

Wir sind Outsider

Es wäre an der Zeit, die teilweise subversive Ausrichtung der Partei lauter und deutlicher als bisher öffentlich zu kommunizieren. Die Angst, es könnten potenzielle Wähler/innen dadurch verschreckt werden, mag in bestimmten Fällen gerechtfertigt sein.

Jedoch: Wir sind keine „Volkspartei“, die allen gefallen muss. Wir sind Outsider, die erfahrungsgemäß für über 90 Prozent der Wählerschaft nicht wählbar sind. Wir müssen uns für die Negation des Status quo nicht vor seinen Verteidigern rechtfertigen. Diese Deutlichkeit muss bei uns selbst anfangen: Wir haben auch innerhalb der Partei nach wie vor mit reaktionären Kräften zu kämpfen, die neuerdings sogar den innerparteilichen „Krieg“ ausgerufen haben.

Dabei bewegt sich der Großteil der Argumentation solcher Akteure, so sie über 140 Zeichen hinauskommt, auf einem staatsgläubigen und mitunter autoritären kleinbürgerlichen Niveau. Ein tatsächlicher politischer Diskurs ist von dieser kleinen, aber lauten Minderheit nicht gewollt, dazu ist sie intellektuell gar nicht in der Lage. Man müsste sich auch mit solchem Gejaule nicht weiter befassen, deutete es nicht auf ein manifestes Problem der Partei hin, welches ihre Festigung stört und ihre inhaltliche Entwicklung aufhält.

Dieses Problem resultiert wohl aus dem Missverständnis, man müsse als Partei, die selbst Nicht-Mitglieder zum Mitmachen einlädt [24], auch solche Akteure tolerieren, die echte oder vermeintliche Parteigrundsätze je nach Bedarf oder privatem Gusto auslegen und so versuchen, die Partei als Spielwiese zu missbrauchen. Genauso, wie die Partei in ihrer Programmatik den Status quo zumindest teilweise ablehnt, sollte sie in der Lage sein, solchen reaktionären Kräften konsequent die Tür zu weisen.

Wir sollten mit unserer Outsider-Rolle nicht hadern oder an ihr verzweifeln. Wir sollten sie akzeptieren und zelebrieren. Immerhin gehen – um doch noch eine Wahlanalyse ins Spiel zu bringen – die ersten größeren Wahlerfolge der Piraten auch auf ihren Ruf als „Anti-Parteien-Partei“ zurück. [25]

Wir können in absehbarer Zeit vielleicht nicht an diese ersten und unvorhergesehenen Erfolge anknüpfen. Wir können aber den Versuch unternehmen, uns in der nächsten Zeit besser aufzustellen und auch den Mut zu haben, bestimmte systemische Gegebenheiten offensiv in Frage zu stellen. So, wie es der Titel des Bundestagswahlprogramms „Wir stellen das mal infrage“ versprach. Sowohl in der Parteiarbeit als auch in der Parlamentsarbeit kann dies durch eine gute Mischung aus Professionalität und Frechheit gelingen.

Das ist leicht gesagt, bedeutet aber eine Menge Arbeit für die kommenden Jahre: Wer ein System „hacken“ will, muss es erst einmal verstehen, und wer politische Abläufe „ändern“ möchte, kommt auch hier nicht darum herum, sich eingehender mit ihren Funktionsweisen zu beschäftigen. So etwas braucht Zeit und bereitet wahrscheinlich über einige Strecken keinen Spaß.

 

Die Lethargie stören

Folgt man Crouch, so ist die Entwicklung zur Postdemokratie zwar nicht aufzuhalten, aber immerhin  abzuändern. Und so können wir unsere Ideen und Instrumente, wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen oder das Liquid Feedback, auch begreifen: Als mögliche Stellschrauben, deren Installation das System verändern würde. Das Grundeinkommen gäbe den Menschen eine zwangs- und angstfreie Existenzsicherung, das Liquid Feedback ermöglichte es allen, an allen Entscheidungen teilzuhaben.

Beides wären radikale Einschnitte in die bestehenden Verhältnisse. Das Problem ist, dass sich solche Einschnitte im Parlament vielleicht propagieren lassen – mehr aber auch nicht. Um solche Einschnitte tatsächlich herbeiführen zu können, ist ein gesellschaftlicher Konflikt notwendig, den man nicht mit ein paar braven Anträgen angepasster Parlamentarier/innen herbeiführt. Wir müssen weiter bis zum zivilen Ungehorsam gehen. Nur weil sich Grüne und Linke mittlerweile oft zu fein sind, den Tritt ans Schienbein der Herrschenden zu wagen, heißt dies nicht, dass dieser Tritt etwas Unfeines wäre.

Den Parlamentarier/innen unter den Piraten bliebe es überlassen, die tatsächlichen Macht-Mechanismen, die Arkan-Politik und parteipolitischen Absurditäten des Parlaments für die Öffentlichkeit sichtbar werden zu lassen. Das wäre eine neue Form der Transparenz, die weiter gehen muss als die samtpfötige Forderung, man möge doch bitte seine Einkünfte als Parlamentarier/in im Internet veröffentlichen.

Wer so ein Projekt angeht, die oder der kann sich in diesem parlamentarischen System nur als unbeliebter Outsider begreifen. Den verschämten Kompromiss zu suchen, nicht um einer Verbesserung, sondern um des kleineren Übels willen, ändert weder System noch Politik – nur uns. Wenn nun die These richtig ist, dass sich die „westlichen“ Demokratien auf dem Weg zur Postdemokratie befinden, dann kann es keine Option sein, sich als ändern wollende Partei diesem postdemokratischen System anzugleichen und als eine Art kleineres Übel den Status quo allein durch eigene Beteiligung zu legitimieren.

Wir müssen nicht allen gefallen, es allen recht machen oder für alle etwas anzubieten haben. Im Gegenteil: Wir können guten Gewissens die postdemokratische Lethargie stören. Wir sollten dies tun, so lange es uns möglich ist – inner- und außerparlamentarisch.

Uns bleiben ohnehin nur zwei Möglichkeiten: Entweder verbiegen wir uns in diesem postdemokratischen System dermaßen stark, dass wir nicht mehr subversiv, sondern systemstabilisierend wirken – dann bleibt von der Piratenpartei nur ein Abziehbild der anderen Parteien übrig. Oder wir bleiben subversive Outsider. Dann werden wir verlacht und bekämpft und müssen uns bewusst sein, dass wir diesen Konflikt früher oder später durch Assimilation oder Niedergang verlieren werden. Wir sollten die zweite der genannten Möglichkeiten wählen. Wenn wir schon untergehen, dann wollen wir dies aufrechten Ganges tun.
 


 

  1. Dieser Text ist eine aktualisierte und erweiterte Form meines Textes „Die Piraten müssen die Systemfrage stellen“, den ich Anfang 2013 geschrieben habe, und der vor dem Hintergrund der damals noch bestehenden Hoffnung eines Einzugs der Partei in den Bundestag entstand. Der ursprüngliche Text ist hier zu finden: http://www.ugarte-chacon.com/resources/Die+Systemfrage.pdf
  2. Eine ausführliche und in weiten Teilen treffende Analyse der strukturellen Probleme der Piratenpartei hat Pavel Mayer formuliert: http://pavelmayer.de/politik/doppelt-so-uberflussig-wie-die-fdp/
  3. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008, S. 10
  4. Ders., Postdemokratie und das Überleben des Neoliberalismus trotz der Krise. In: Jürgen Nordmann/Katrin Hirte/Walter Otto Ötsch (Hrsg.), Demokratie! Welche Demokratie? Postdemokratie kritisch hinterfragt, Marburg 2012, S. 16
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. Ebd. S. 19
  9. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008, S. 10
  10. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik, München 1966, S. 130
  11. Ebd.
  12. Ebd. S. 131
  13. Carl J. Friedrich, Pathologie der Politik. Die Funktionen der Missstände: Gewalt, Verrat, Korruption, Geheimhaltung, Propaganda, Frankfurt/M. 1973, S. 145
  14. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/14600, S. 856ff
  15. Dies gilt übrigens auch für sog. öffentliche Unternehmen, deren Öffentlichkeit sich darauf beschränkt, dass Vertreter der öffentlichen Hand in den Aufsichtsgremien positioniert werden.
  16. Ulrich Brand, Der Staat als soziales Verhältnis. In: Bettinas Lösch/Andreas Thimmel (Hrsg.), Kritische politische Bildung, Schwalbach 2010, S. 146
  17. Vgl. Piratenpartei Deutschland, Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013, Berlin 2013, S. 63
  18. Vgl. ebd. S. 75 u. Piratenpartei Deutschland, Grundsatzprogramm, Berlin 2013, S. 67 u. 69
  19. Piratenpartei Deutschland, Grundsatzprogramm, Berlin 2013, S. 23
  20. Ebd. S. 25
  21. Die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe 1999 ist ein solch beispielhafter Fall: In einem bis 2011 geheim gehaltenen Vertragswerk war u. a. eine garantierte Rendite für die privaten „Partner“ festgeschrieben. Erst ein von einer Bürgerinitiative angestrengter Volksentscheid und dessen Begleitkampagne führten zur Skandalisierung des Vertragswerks, dessen Erfüllung keine der seit 1999 in Berlin regierenden Parteien (SPD, CDU, Die Linke) bis dahin ernsthaft in Frage gestellt hatte. Vgl. bspw. Mathias Behnis, Kein Grund zum Feiern. Die folgenreiche Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe im Oktober 1999. Eine Bilanz. In: junge Welt v. 29.10.2009
  22. Abgeordnetenhaus von Berlin, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/1289
  23. Grundsatzprogramm S. 59
  24. https://www.piratenpartei.de/mitmachen/
  25. Vgl. Saskia Richter, Paradoxie gesellschaftlicher Revolutionen. Wie Grüne und Piraten den Zeitgeist verloren. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 48-49/2013, S. 28-33

 
Dr. Benedict Ugarte Chacón arbeitet bei der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin und ist Referent für den Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des Debakels um den Flughafen Berlin-Brandenburg (BER). Mit freundlicher Genehmigung von Peira – Gesellschaft für politisches Wagnis

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