von Antje Schrupp, 9.8.12
Beim Frühstück las ich die taz von gestern [7.8.] und darin einen Artikel über familien- und ehebezogene Sozialleistungen. Für erstere gibt der Staat im Jahr 123 Milliarden, für letztere 73 Milliarden aus (überwiegend Ehegattensplitting). Das ganze System ist der helle Wahnsinn. Es gibt 152 verschiedene familienpolitische Leistungen, und kein Mensch weiß, wie dieser ganze Wust an Bestimmungen sich überhaupt auswirkt – ein entsprechendes Gutachten ist schon lange angekündigt, wird aber irgendwie nicht fertig.
Also: Es wird viel Geld unnütz verschleudert, während die meisten Familien doch selbst sehen müssen, wo sie bleiben. Das Ganze wäre für mich kein Thema, wenn es hierbei bloß um verschiedene Meinungen und Ansichten gehen würde, nach dem Motto: Die einen sind für Ehegattensplitting, andere dagegen, man tauscht Argumente aus, stimmt ab, und macht dann das, wofür die Mehrheit ist. Da würde ich mich gegebenenfalls zwar ärgern, wenn die Mehrheit es anders sieht als ich selber, aber das wäre kein prinzipielles Problem. Denn so ist das eben im Leben, dass nicht alle meiner Meinung sind.
Nein, der Artikel hat mich aufgeregt, weil das derzeitige System für Familienförderung eigentlich von niemandem befürwortet wird. Es handelt sich also gar nicht um eine politische Meinungsverschiedenheit. Alle Parteien und alle Beteiligten wissen, dass das familienpolitische Leistungskuddelmuddel Unfug ist und man dringend eine Schneise hinein schlagen und sich irgend ein halbwegs sinnvolles Modell ausdenken müsste.
Der Punkt ist: Das ist im Rahmen unserer politischen Verfahrensweisen offenbar unmöglich. Die taz zitiert einen Politiker mit den Worten: “Die gesamte Sozialpolitik ist politisch vermint. Wer sich da an einer falschen Stelle meldet, der verliert ‘ne Wahl.”
(Mal ganz abgesehen von der Frage, was so schlimm daran ist, eine Wahl zu verlieren, wenn sich herausstellt, dass die eigenen Ideen eben nicht mehrheitsfähig sind) …
… sieht man hier auch, wo das Problem ist. Das Problem ist die Art und Weise, wie über diese Dinge öffentlich verhandelt wird. Wir haben Politik in Form von Machtpositionen organisiert, um die Parteien konkurrieren, die sich entsprechend gegeneinander profilieren müssen. Sie haben kein Interesse daran, gemeinsam zu vernünftigen und sinnvollen Entscheidungen zu kommen, sondern vor allem daran, sich gegenseitig schlecht zu machen, die anderen zu diffamieren und in ein schlechtes Licht zu rücken.
Und wir haben den gesamten öffentlichen Bereich in Form des Lobbyismus organisiert, das heißt, sobald eine Politikerin oder ein Politiker einen Vorschlag zur Reform der familienpolitischen Sozialleistungen unterbreiten würde, meldeten sich die Verbände dieser und die Verbände jener zu Wort, und ihr Kriterium wäre NICHT, ob der Vorschlag von einem allgemeinen Standpunkt aus sinnvoll wäre, sondern einzig und allein, ob er ihnen und den Interessensgruppen, die sie repräsentieren, nützt (dann wären sie Feuer und Flamme dafür), oder ob er sie im Vergleich zu heute schlechter stellt (dann würden sie ihn als Untergang des Abendlandes verdammen).
Und schließlich haben wir auch noch die veröffentlichte Meinung der Bildzeitungen, Spiegels, HartaberFairs und all den Kram, die unter Berichterstattung verstehen würden, genau diese Lobbyismus-Ansichten und Politik-Schaukämpfe gegeneinander zu hetzen, für die eine oder andere Seite, entsprechend ihrer “Blattlinie”, Partei zu ergreifen und Stellung zu beziehen. Sie würden die Sachen aufbauschen, “pointieren”, und dabei hätten sie weder eine gute Lösung für das zugrunde liegende Problem im Sinn, noch nicht einmal die Unterstützung für diese oder jene Interessensgruppe, sondern allein ihre Quote und damit ihren kommerziellen Erfolg.
Parteipolitik, Lobbyismus und kommerzieller Journalismus sind das Dreigespann, das heute wirkliche Politik – im Sinne von: gemeinsam Regeln für das gute Zusammenleben aller zu finden – aktiv verhindert und unmöglich macht.
Die absurde Zersplitterung familienpolitischer Leistungen, die man nicht mehr eingefangen bekommt, ist natürlich nur ein Beispiel für dieses Versagen. Auch die Europapolitik funktioniert aus genau diesem Grund nicht, weil die Länder alle ihre Nationalismuskarte spielen (Deutschland vorneweg).
Auch dazu gab es ein Beispiel in der gestrigen taz. Ulrike Herrmann kritisiert in ihrem Artikel, wie die deutschen Parteien auf ein Interview von Mario Monti, dem italienischen Premierminister, im Spiegel reagiert haben – nämlich genau in der bekannt bekloppten Weise, die ich oben beschrieben habe.
Allerdings macht sie ihnen daraus einen moralischen Vorwurf, sie appelliert an die Verantwortlichen, doch bitte nicht nationalistisch zu sein. Ich glaube aber, dass es sich hier um ein grundsätzliches Problem handelt, um einen systemimmanenten Mechanismus, und nicht um ein Problem des Missbrauchs, persönlicher Eitelkeiten oder negativer Einzelfälle. Es sind nicht die einzelnen Politiker, Lobbyistinnen oder Journalistinnen schuld, wenn sie bei diesem Theater mitspielen.
Trotzdem hat aber der und die Einzelne durchaus Handlungsspielraum. Niemand ist gezwungen, sich so zu verhalten. Auch nicht innerhalb des Systems, denn “Macht und Politik sind nicht dasselbe”, und es ist möglich, auch innerhalb der gegebenen Strukturen nach einer anderen Logik zu spielen.
Allerdings: Man muss sich darüber bewusst sein, dass man dort nach einer anderen Logik spielt. Man muss bereit sein, das Risiko der Niederlage einzugehen – dafür kann man dann aber auch mehr gewinnen als Wahlen. Man kann gewinnen, dass endlich wieder Politik gemacht wird, in der Sinnhaftigkeit und Allgemeinwohl etwas bedeuten. Man kann diese wirkliche Politik aber nur zurückgewinnen, wenn man sich von der Logik der Macht (nicht von den Orten der Macht!) fernhält.
Ich werde das Thema weiter verfolgen. Auch Simone Weil ist dabei noch immer meine Lehrerin. Über ihr “Manifest zur Abschaffung der politischen Parteien” habe ich ja schon gebloggt. Sie hat sich aber auch ausführlich mit dem Thema Pressefreiheit beschäftigt (die sie für falsch hält) – ein heikles Thema, aber ich werde es demnächst mal angehen.
Crosspost von Aus Liebe zur Freiheit