von Marie Wachinger and Fabian Voß, 15.7.15
Warum entscheiden sich Menschen überhaupt noch, Mitglied einer Partei zu werden? Viel von dem Mehrwert, der früher mit einer Parteimitgliedschaft einherging, fällt heute weg. So ist zum Beispiel der Informationsvorsprung in Zeiten des Internets nicht mehr gegeben und auch die (meist männlich dominierte) Stammtischrunde im Ortsverein ist für viele potentielle Kandidatinnen und Kandidaten nicht mehr interessant. Ganz zu schweigen von ideologischen Anreizen oder milieuspezifischen Determinanten für einen Parteibeitritt. Entsprechend wenige Menschen treten heute in Parteien ein – und noch weniger bleiben nach den ersten Monaten als Mitglied engagiert dabei.
Zeitgleich kann von einer generellen Verdrossenheit der Gesellschaft gegenüber politischen Themen keine Rede sein, wie zumindest temporär aufflammende Debatten online und offline, sowie Proteste wie Stuttgart 21 beweisen. Außerdem zeigen Statistiken wie der Freiwilligensurvey, dass mehr als ein Drittel der BürgerInnen ein zivilgesellschaftliches Ehrenamt ausüben. NGOs, Vereine und Organisationen sind dafür beliebt – vielen gelingt es, auf eine Weise attraktiv zu sein, von der Parteien nur träumen.
Das Problem liegt an der Art des Engagements, das Parteien nicht bieten können: In NGOs ist Engagement zu einem bestimmten Thema möglich, für das man sich gerade interessiert. Flexible Formen und Intensitäten des Mitwirkens sind normal, es besteht im besten Falle das Gefühl, etwas bewirken zu können oder zumindest Teil einer sinnvollen Gemeinschaft zu sein. Ob man Mitglied ist oder nicht, ist in den meisten NGOs eher zweitrangig. Dies ist in Zeiten der Individualisierung und Mobilität ein nicht zu unterschätzender Unterschied. Viele Menschen möchten sich heute schlichtweg nicht mehr langfristig an etwas binden. Sei es, weil ihnen die Identifikation fehlt, sie eine Mitgliedschaft als einengende Verpflichtung betrachten oder durch vermehrte Umzüge einfach keine Zeit finden, an wöchentlich terminierten Ortsvereinssitzungen teilzunehmen. Kurz: Einer Partei fehlt es im Vergleich zur NGO an Flexibilität.
Die gute Nachricht: Vom Erfolg der NGOs in den vergangenen Jahren können die Parteien lernen. Es geht für die Zukunftsfähigkeit der Parteien derzeit nicht primär um die Frage des „ob“, sondern um die Frage des „wie“, was politisches Engagement betrifft. Das Signal an Parteien lautet: Bietet den potenziellen Engagierten etwas, anstatt still und heimlich auf sie zu warten.
Wer Zeit und Arbeit in etwas steckt, erwartet dafür etwas. Seien es Ämter, ein Gefühl der Zugehörigkeit, inhaltliche Diskussionsrunden oder einfach die Erfahrung, etwas Sinnvolles zu tun. Möchte eine Partei Nichtmitglieder einbeziehen, muss sie sich deshalb fragen, wie sie Anreize schaffen kann, die typischerweise nur Mitgliedern garantiert sind. Dabei geht es um einen Balanceakt: Gesteht die Partei den Nichtmitgliedern zu viele formale Privilegien zu, kann dies Irritationen beim normalen Mitglied hervorrufen. Dieses würde im schlimmsten Falle den Sinn seiner Mitgliedschaft in Frage stellen. Gesteht eine Partei den Nicht-Mitgliedern jedoch zu wenige formale Privilegien und zu wenig Selbstwirksamkeitserfahrung zu, kann sie sich den Aufwand gleich sparen und sie weiterhin den NGOs überlassen.
Offene Bürgerrunden und Sitzungen oder Formate wie ein konstruktiverer Bürgerdialog der Bundesregierung müssen auch auf kommunaler Ebene stattfinden und intensiviert werden: Mitwirkung von Nichtmitgliedern an Programmen, Redebeiträge oder auch die Diskussion über (Mit-)Abstimmungsrechte sind hier nur einige Ansatzpunkte. Aber bitte ohne große Show.
Darüber hinaus gilt: Es ist Zeit für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Parteiorganisation, der nicht wartet, dass Menschen von außen sich in die Organisation durch Anpassung integrieren. Wichtiger ist, dass Parteien die Bedürfnisse der Externen erkennen und die eigenen Strukturen für die Integration von Nichtmitgliedern öffnen.
Die Anreize für das Engagement für Nichtmitglieder müssen dabei „harter“ Natur sein. Wer sich ideologisch oder emotional einer Partei nahe fühlt und obendrein in ihr aktiv sein möchte, tritt ohnehin ein. Wer allerdings in einem ehrenamtlichen Engagement temporär und partiell für seine persönlichen oder politischen Ziele aktiv werden möchte, ohne vom Hause aus oder emotional einer Partei nahezustehen, sollte auch ohne Parteimitgliedschaft seinen Beitrag leisten können.
Eine Überlegung, in der diese Gedanken Anklang finden, wären temporäre Stadtteilprojekte, die
- von Parteien ausgeschrieben werden und vom einem modernen politischen Projektmanagement durchgeführt werden
- durch klar verteilte Rollen und eine zuverlässige Planung mit organisierter Kommunikation zwischen den Aktiven für Prozesssicherheit sorgen
- mit Hilfe eines Online-Angebots beworben werden, in dem übersichtlich und einfach einzelne Aktivitäten beschrieben und der Bedarf an Engagement skizziert wird.
Parteien wären für Stadtteilinitiativen der erste Ansprechpartner und würden so zwischen Stadtverwaltung und Bürgern eine vermittelnde Funktion einnehmen.
Anzudenken wären im Hinblick auf konkrete Anreize außerdem:
- zeitlich begrenzte und einkommensabhängige Engagement-Stipendien für engagierte Bürger, die zumindest zum Teil von der Partei getragen werden. Durch dieses Mittel könnte auch Menschen der Weg in die Politik geebnet werden, die ihr aufgrund ihrer sozialen Lage oder einer hohen Alltagsbelastung sonst fern bleiben würden.
- Zertifikate für Workshops, Seminare oder einfach für die aktive Teilnahme an einem Projekt, die Freiwillige für Praxismodule im Studium oder für die nächste Bewerbung nutzen können. Politische Stiftungen arbeiten in ihren Seminaren bereits mit solchen Mitteln. Deswegen wäre es nur pragmatisch und fair, wenn auch Parteien Engagement auf diese Art und Weise honorieren würden.
- Netzwerkveranstaltungen für Nichtmitglieder: Parteien könnten strategische Dialoge mit politischen Funktionären, Unternehmern oder Mitarbeitern von NGOs anbieten und Menschen auf kommunaler Ebene ins Gespräch kommen lassen. Sie stellen so nützliche Kontakte her, die sonst nur Mitgliedern vorbehalten sind.
Dieser Ausschnitt ist nur ein Bruchteil der Möglichkeiten, die eine Partei hat, um sich nicht nur als zeitgemäße Organisation attraktiver zu machen, sondern um in einer hoch individualisierten Lebens- und Arbeitswelt überlebensfähig zu sein. Die Notwendigkeit der Anpassung an die Bedürfnisse der potenziellen Engagierten ist entsprechend groß und muss nun von mutigen Reformern vorangetrieben werden. Es ist vor allem auch ein Versuch, den Weg zurück in eine Gesellschaft zu finden, die dabei ist, den Parteien den Rücken zuzukehren.
Dieser Beitrag ist der siebte Teil der Reihe „Agenda 2030 – Parteien auf der Suche nach Zukunft“, die Carta in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum durchführt. Autoren des Berliner Think Tanks diskutieren regelmäßig Thesen und Ideen zur Veränderung der politischen Parteien in Deutschland.
Alle bisherigen Beiträge des Dossiers finden Sie hier.
Ausgangspunkt ist das Projekt „Legitimation und Selbstwirksamkeit: Zukunftsimpulse für die Parteiendemokratie“, ein Gemeinschaftsprojekt der Heinrich-Böll-Stiftung, der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Progressiven Zentrums. Das Projekt sucht nach Ansätzen, wie Parteien auch in Zukunft ein relevantes Organ der politischen Meinungs- und Willensbildung sein können. Die gemeinsamen Diskussionen im Rahmen des Projekts, insbesondere innerhalb der Projektgruppe von acht Visiting Fellows, ist eine wichtige Grundlage des hier veröffentlichten Textes.
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