#Aktivismus

Parallelgesellschaft Politik

von , 25.7.13

Der Zustand, in dem sich Demokratien westlicher Prägung befinden, geht über die Problematik der Postdemokratie hinaus. Denn das eigentlich bestimmende Wesensmerkmal der westlichen Prägung ist nicht die Volkssouveränität, sondern die Rechtsstaatlichkeit. Und genau diese Rechtsstaatlichkeit wird aktuell in den westlichen Demokratien abgeschafft, die bilaterale Sicherheitsabkommen über die Interessen und Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger stellen.

Seit der deutsche Innenminister öffentlich “Supergrundrechte” postuliert, die jenseits des Grundgesetzes gelten, ist die Auflösung des Gesellschaftsvertrages offiziell. Wenn eine Regierung vor der Realität kapituliert, statt ihr politisch zu begegnen, dann weigert sich der Leviathan, die ihm obliegenden Pflichten zu erfüllen.

Das Problem ist allerdings keines der Regierung. Man kann mit Fug und Recht vom Systemversagen sprechen, weil es kein Korrektiv für die Politikerkaste gibt, die sich in der Entwicklung der Postdemokratie herausgebildet hat. Es gibt für den angeblichen Souverän, das Volk, keinerlei Handhabe, der Abschaffung des Rechtsstaats Einhalt zu gewähren. Dazu mangelt es nicht allein an politischen Alternativen, sondern auch an Dringlichkeit und Kommunikation.

Denn während die faktische Abschaffung des Rechtsstaats immense Wichtigkeit für Demokratietheoretikerinnen haben mag, bleibt die Alltagswirklichkeit der weitaus meisten Menschen davon völlig unberührt. So ist das mit den Systemen nämlich grundsätzlich: Am Ende interessiert die Leute nur der Output, der sie selbst betrifft.

Die Geschichte von demokratischen Revolutionen zeigt übrigens zuverlässig, dass Umstürze, die vom Volk ausgehen, einen hohen Leidensdruck voraussetzen. Die Leute müssen hungern, bevor sie bereit sind, für bessere politische Verhältnisse persönliche Risiken einzugehen. So lange das Leben halbwegs geordnet verläuft und Willkürherrschaft nicht das tägliche Leben bestimmt, besteht für die Mehrheit nicht genug Grund, sich zusätzlich zu den Mühen des Alltags auch noch als Aktivist oder Aktivistin zusätzliche Probleme aufzuhalsen.

Und wenn wir ehrlich sind, dann macht es für die Betroffenen womöglich keinen so großen Unterschied, ob Willkür in Russland, wie bei Nawalni, oder in Deutschland statt findet. Die Fälle Murat Kurnaz oder Gustl Mollath sind nicht unbedingt Ausweis einer Überlegenheit des Systems, und das sind nur die Fälle, die das zweifelhafte Glück der Öffentlichkeit erlangten.

Der Staat im Staate, der Zirkel der Geheimdienste, entzieht sich ja sogar der parlamentarischen Kontrolle, mit Zustimmung aller bislang an der Regierung beteiligten Parteien in Deutschland. Wie soll da das Volk überhaupt noch Einfluss auf ein sich solcherart abkapselndes System nehmen?

Die Demokratie westlicher Prägung ist nämlich nicht das Ende der Geschichte oder die beste aller Staatsformen.1 Schon gar nicht heutzutage, wo die Globalisierung in mancherlei Hinsicht das Prinzip des Staates an sich in Frage stellt. Für den Alltag stellt sich immer wieder nur die Frage, wie der Output des politischen Systems mein privates Leben beeinflusst.

Die Outputfixierung der Postdemokratie bedeutet deswegen auch, dass mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Deutschland ein rein theoretisches Problem ist.2 Sie wird im privaten Leben einfach kaum spürbar. Sie berührt nicht die Wahrnehmung der meisten Bürgerinnen und Bürger. Minderheiten ohne Elitenstatus von Reichtum oder Macht sind es, die Unrecht überproportional erfahren müssen. Diese Minderheiten finden in der Mehrheitsgesellschaft kein Gehör, wenn sie nicht gar diskriminiert werden, weil ihre Lebenswirklichkeit für die Mehrheitsgesellschaft fremd und unverständlich ist.

Das Private ist politisch. Aber die Politik hat sich vom Privaten abgekoppelt. Spannend wird diese Situation, wenn die politische Kaste den Alltag ihrer Bürger so sehr verkennt, dass ihre Politik unzumutbar wird. Wenn das private Leben von der Politik in spürbarer Form beeinträchtigt wird, weil die eigene Lebenswirklichkeit in der Parallelgesellschaft der Politik überhaupt nicht beachtet wird. Wenn sich ausreichend viele und lautstarke Gesellschaftsschichten zu wenig repräsentiert sehen und die kritische Schwelle erreicht wird, an der neue Mehrheiten danach verlangen, die alte Ordnung abzulösen. Postdemokratische Strukturen können ein solches Verlangen nicht kanalisieren.
 


 

  1. Jenseits von Legitimierungsfragen auf der Outputseite oder des Inputs bei Verlagerung von Hoheitlichkeit in Bündnisse (EU etc.) oder gar Konzerne ist da noch die logistische Frage, wie in nicht-homogenen Gesellschaften die Interessen der verschiedenen Teilhaber angemessen repräsentiert werden. Das Mehrheitsprinzip hilft da nicht weiter. Aus gutem Grund ist Minderheitenschutz in vielen modernen Demokratien gesetzlich festgeschrieben, ohne dass damit das Problem gelöst wäre. Fairness ist halt kein modernes, demokratisches Prinzip. Die Griechen haben früher wenigstens noch gelost.
  2. Rechtsstaatlichkeit ist historisch und praktisch die Grundlage der modernen Demokratie: Sie beschränkt erstmalig die absolute Macht des Souveräns. Aus undemokratischen Rechtsstaaten, wie konstitutionellen Monarchien oder Diktaturen, gingen in den vergangenen Jahrhunderten schließlich Demokratien hervor. Rein praktisch ist Verlässlichkeit außerdem ein immens hoher Wert für den Alltag. Selbst wenn die Gesetze ungerecht oder mir zuwider sind, kann ich mich wenigstens darauf einstellen, so lange die Rechtsprechung nicht auch noch willkürlich ist.

 
Crosspost von Herr Jochmann

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.