#Grundversorgung

Papier: Das Internet ist am ehesten Rundfunk

von , 31.8.10

Herr Papier, warum kann der klassische Rundfunkbegriff, wie ihn auch das Bundesverfassungsgericht definiert hat, auf die Online-Welt noch angewendet werden?

Hans-Jürgen Papier: Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, war der technische Fortschritt noch nicht absehbar. Das gilt nicht nur für den Bereich des Rundfunks, sondern auch etwa für die elektronische Datenverarbeitung. Dennoch hat sich in den letzten 60 Jahren gezeigt, dass das Grundgesetz und insbesondere die Grundrechte so formuliert sind, dass dem technischen Fortschritt Rechnung getragen werden kann.

So ist etwa auch das im Volksmund „Computergrundrecht“ genannte Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme kein neues Grundrecht, sondern eine den technologischen Entwicklungen und den neuen Bedrohungen angepasste Interpretation des schon lange zuvor anerkannten allgemeinen Grundrechts auf Schutz der Persönlichkeit, das aus der Menschenwürde in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 1 Abs.1 und Art. 2 Abs. 1 GG) abgeleitet wird.

Für die Online-Welt heißt dies, dass man sich fragen muss, welchem Grundrecht sie zuzuordnen ist, und meines Erachtens ist wegen der drahtlosen Form der Übertragung das Grundrecht der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG hier am ehesten einschlägig. Das bedeutet allerdings nicht, dass alles, was das Bundesverfassungsgericht bisher zur Rundfunkfreiheit gesagt hat, auch auf die Online-Medien übertragbar ist, die Urteile betreffen immer nur bestimmte Sachverhalte.

Ist die medienrechtlich die Trennung zwischen Rundfunk und Presse in der Online-Welt noch sinnvoll, wo die Grenzen doch anscheinend verschwinden?

Die Konvergenz der Medien ist sicherlich ein Trend, den auch das Recht berücksichtigen muss. Nicht umsonst gibt es für Telemedien spezielle gesetzliche Regelungen und es gelten nicht einfach die Pressegesetze der Länder oder die Regeln im Rundfunkstaatsvertrag über Rundfunk im klassischen Sinne. Auf der Ebene des einfachen Gesetzes ist diese Vorgehensweise angesichts der verschwindenden Grenzen sicherlich sinnvoll und nach meinem Dafürhalten auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Hans-Jürgen Papier: "Es besteht keine Identität zwischen dem, was verfassungsrechtlich Rundfunk ist, und dem, was die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten anbieten dürfen." (Foto: Church of emacs, cc by-sa)

Im Grundgesetz gibt es aber in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nach wie vor die Unterscheidung zwischen Presse und Rundfunk. Daher muss man sich entscheiden, ob man die neuen Online-Medien zum einen oder anderen Bereich zählt, es sei denn, man wollte sie einem anderen Grundrecht, etwa der Meinungs- oder Berufsfreiheit unterstellen, was wiederum der Bedeutung der Medien nicht gerecht würde.

Ist nicht Ihre Auffassung, nur die unveränderte Wiedergabe von gedruckten Zeitschriften und Zeitungen im Internet sei erfasst, zu eng? Müsste man den Begriff „presseähnlich“ nicht an den Gestaltungsmerkmalen von Zeitungen und Zeitschriften orientieren, wie Text/Bildkombinationen, die eine Spaltensetzung kennen, zudem unterschiedlich gestaltete Überschriften und unterschiedliche Satzgrößen?

Meine Ausführungen gehen auf diese Punkte ein. Allerdings wird man auf den Gesamteindruck der Printmedien mit Text und Standbildern im klassischen Aussehen abstellen müssen. Einzelne Elemente, wie etwa die unterschiedlichen Satzgrößen oder der überwiegende Textanteil, können nicht ausreichen, um Presseähnlichkeit zu begründen.

Schon internettypische Merkmale wie umfassende Verlinkungen mit anderen Artikeln, interaktive Elemente wie Kommentarfunktionen zu Artikeln, Abstimmungsboxen und erst recht Multimedia-Elemente zerstören allerdings diesen Gesamteindruck – so sieht keine Zeitung aus. Wie weit man auch im Einzelfall den Begriff der Presseähnlichkeit versteht, nicht alles, was Presseunternehmen heutzutage online anbieten oder betreiben, kann Maßstab für die Presseähnlichkeit sein, sondern es geht um den Vergleich mit dem klassischen Presseprodukt.

Ob angesichts dieses Befunds die Presseähnlichkeit ein sinnvolles Abgrenzungskriterium ist, erscheint allerdings fraglich.

Die Zeitungsverleger kritisieren unter anderem, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Angebote auch mobil verbreitet. Woraus ergibt sich die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Angeboten auf allen digitalen Verbreitungswegen auch verbreitet werden darf ?

Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Verfassungs wegen eine Bestands- und Entwicklungsgarantie zukommt, zuletzt in seiner Rundfunkgebührenentscheidung aus dem Jahre 2007. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber vorsorgen muss, dass die dafür erforderlichen technischen, organisatorischen, personellen und finanziellen Vorbedingungen bestehen.

Da das Programmangebot auch für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen offen bleiben muss, der Auftrag also dynamisch an die Funktion des Rundfunks gebunden ist, darf der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht auf den gegenwärtigen, tradierten Entwicklungsstand in programmlicher, finanzieller und technischer Hinsicht beschränkt werden.

Angesichts der heutigen Bedeutung digitaler Medien und der vielfach auch mobil stattfindenden Information weiter Teile der Bevölkerung müssen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk grundsätzlich auch die digitalen Verbreitungswege offen stehen.

Ist es dann verfassungsrechtlich legitim, wenn der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag Beschränkungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Online-Bereich vornimmt?

Die Frage ist nach dem vorher Gesagten durchaus berechtigt. Es besteht aber keine Identität zwischen dem, was verfassungsrechtlich Rundfunk ist, und dem, was die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten anbieten dürfen. Der Gesetzgeber hat eine gewisse Einschätzungsprärogative in der Frage, was genau der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist. Bei dieser Konkretisierung darf er durchaus auch Grenzen vorsehen.

Sind die Telemedienangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die dritte Säule des Grundversorgungsauftrages?

Angesichts der überragenden Bedeutung, die die digitalen Informationsquellen heute – gerade auch bei jüngeren Leuten – haben, würde ich die Betätigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem Bereich auf jeden Fall grundsätzlich zum Grundversorgungsauftrag zählen.

Sie schlagen vor, „als zusätzliches Kriterium für das Vorliegen von Rundfunk im verfassungsrechtlichen Sinne – ähnlich wie bei der Pressefreiheit – die Wahrnehmung einer besonderen, über die bloße Meinungsäußerung hinausgehende Aufgabe im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zu verlangen.“ Warum?

Ansonsten würde der verfassungsrechtliche Rundfunkbegriff ausufern. Es ist eben nicht so, wie schon in der Presse zu lesen war, dass jede Internetseite Rundfunk ist. Genauso ist ja auch nicht jedes gedruckte Blatt Papier Presse, wie auch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat. Damit die besonderen „Massenkommunikationsgrundrechte“ des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG einschlägig sind, muss zu der formalen Vervielfältigungsform auch eine die einzelne Meinungsäußerung übersteigende Bedeutung für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung hinzutreten.

Sehen Sie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der digitalen Welt eine besondere Aufgabe, die nur er erfüllen kann?

Im Internet besteht eine Vielfalt von Informationsquellen, die so unüberschaubar ist, dass daraus ein neues Bedürfnis des Bürgers nach Orientierung erwächst. Gerade hier kann der Empfänger oft nicht erkennen, welche Berichte neutral sind und welche nicht. Auch Zeitungen, Zeitschriften und andere Medien machen in gewisser Weise Politik. Insbesondere im Hinblick auf werbefinanzierte Angebote besteht zudem ein Risiko, dass die redaktionelle Unabhängigkeit unter der Absicht leidet, möglichst hohe „Klickraten“ zu erzielen.

Der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter erhält in dieser Situation einen neuen Schwerpunkt: Ihre Aufgabe ist es nicht mehr nur, überhaupt ein Programm, das der Meinungsbildung in der Demokratie dient, in einer objektiven, binnenpluralen Form zu übertragen, sondern gerade die Informationsquelle zu sein, die kraft institutioneller Absicherung in besonderem Maße Gewähr für Objektivität und Binnenpluralität bietet und die weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe noch den Anzeigen- und Werbekunden ausgeliefert ist.

Die Besonderheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht nicht nur darin, überhaupt die Vielfalt der gesellschaftlichen Meinungen zu präsentieren, sondern auch darin, sie konzentriert zu präsentieren; der Bürger, dem nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, muss sie nicht selbst zusammensuchen. Wesentliches Kriterium ist daher, dass der Bürger darauf vertrauen kann, dass ihm in den Angeboten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter ein objektiver und nicht tendentiöser Überblick über das Meinungsspektrum präsentiert wird.

Ihr Gutachten kommt zu dem Ergenis, dass verfassungsrechtlich „Internetangebote, bei denen Texte, Bilder, Töne etc. als Datei vorliegen und über ein Netz abrufbar sind, grundsätzlich als Rundfunk zu qualifizieren“ seien. Hat das nicht entscheidende rundfunkrechtliche Konsequenzen zur Bewertung von Online-Angeboten der Presse und auch für Fragen der Regulierung dieser Angebote?

Sie sprechen damit einen auch schon in der Presse diskutierten Aspekt an, nämlich ob in letzter Konsequenz die Online-Angebote der Presse einer Rundfunkregulierung unterliegen müssten. Das ist allerdings klar abzulehnen. Mit der verfassungsrechtlichen Einordnung als Rundfunk ist nichts darüber gesagt, wie Online-Angebote weiter zu behandeln sind.

Deshalb spreche ich auch von „Rundfunk im weiteren Sinne“. Die Rundfunkfreiheit kann demnach im Bereich der Online-Medien genau wie die Pressefreiheit als individuelles Freiheitsrecht jedermanns wirken, das nur aus besonderen Gründen eingeschränkt werden darf. Wie genau man Online-Angebote reguliert, ist eine Frage, die der Gesetzgeber beantworten muss. Klar ist dabei aber, dass es etwa für eine Lizenzpflicht privater Presseunternehmen keine verfassungsrechtliche Grundlage gibt.

Kann man Ihr Gutachten auch so verstehen, dass in der digitalen Welt das Rundfunkrecht sozusagen das bestimmende Medienrecht ist?

Auf verfassungsrechtlicher Ebene ist dies sicherlich zutreffend, da eben das Grundgesetz keine überzeugende alternative Zuordnungsmöglichkeit bietet. Das heißt aber nicht, dass das Rundfunkrecht, wie man es herkömmlich kennt, jetzt auch für die digitale Welt bestimmend ist. Es bleibt in seiner Anwendbarkeit auf den Bereich des klassischen Rundfunks beschränkt, für die Online-Medien gilt dagegen spezifisches Telemedienrecht.

Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk existiert eine Bestands- und Entwicklungsgarantie. Ist im Interesse der Demokratie eine solche Garantie verfassungsrechtlich auch für die Presse abzuleiten?

Das ist eine interessante Frage. Der Presse kommt in der Demokratie eine höchst wichtige Funktion zu. Man muss allerdings sehen, dass die Pressefreiheit ja grundsätzlich ein Freiheitsrecht des Bürgers ist, der sich in ihrem Schutzbereich betätigen darf. So weit der Schutzbereich reicht, bedarf es keiner echten „Entwicklungsgarantie“; als individuelles Freiheitsrecht ist es per se entwicklungsoffen.

Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist dies anders, weil sein Auftrag gesetzlich vorgegeben wird und daher immer gesetzliche Anpassungen an den Stand der Zeit erforderlich sind. Früher gab es allerdings Stimmen, die die Presse als „Institut“ verfassungsrechtlich geschützt ansahen. Ich würde demgegenüber eher von einer Schutzpflicht des Gesetzgebers sprechen.

Wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, sind die Grundrechte nämlich nicht nur Abwehrrechte, sondern haben zudem eine objektiv- rechtliche Dimension. Diese kann es gebieten, dass der Gesetzgeber zum Schutz des Grundrechtsträgers tätig wird. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang aber auch darauf, dass der Gesetzgeber einen weiten Einschätzungsspielraum in der Frage hat, wie er die Schutzpflicht erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht prüft in solchen Fällen regelmäßig nur, ob der Gesetzgeber völlig untätig geblieben ist oder ob seine Maßnahmen evident ungeeignet sind.

Die Argumentation über die grundrechtlichen Schutzpflichten könnte man auch für die Presse fruchtbar machen. So gesehen liegt in den Beschränkungen, die der Gesetzgeber nach Maßgabe des 12. Rundfunkstaatsvertrages den öffentlich-rechtlichen Anstalten für ihre Online-Angebote auferlegt hat, auch eine Wahrnehmung seiner Schutzpflicht zugunsten der Presse. Man sollte dabei auch berücksichtigen, dass das Verbot nicht-sendungsbezogener presseähnlicher Online-Angebote ja nicht allein steht. Der Rundfunkstaatsvertrag begrenzt die Angebote der öffentlich-rechtlichen Anstalten nämlich auch in anderer Hinsicht, etwa durch beschränkte Verweildauern der Angebote, was etwa die Zeitungsverlage in ihrer Archiv-Tätigkeit schützt.

Das Papier-Gutachten “Presse macht Rundfunk” wurde von “Digitale Linke” veröffentlicht.

Dieses Interview von Helmut Hartung mit Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts a.D., erschien unter dem Titel „Der Gesetzgeber hat auch eine Schutzpflicht zugunsten der Presse“ im medienpolitischen Fachmagazin promedia, Ausgabe 09/2010, das mit Carta kooperiert.

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