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Österreich: Plastikblumen an der Macht

Es ist traurig, dass Tiere in beheizten und klimatisierten Transportmitteln mit ausreichend Futter und Wasser besonders sanft nach Österreich kommen, manche Menschen hingegen zu Fuß oder mit dem Boot, egal bei welchen Witterungsverhältnissen, ohne Nahrungs-und Trinkwasserversorgung. Dass Tiere besser behandelt werden als Menschen.

von , 26.6.21

Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz stellt sich gemeinsam mit der FPÖ gegen seinen grünen Koalitionspartner und gegen eine Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts. Unsere Autorin hat nach ihren Maturaprüfungen Zeit für einen deutlichen Kommentar gefunden.

Triggerwarnung: In diesen Kommentar geht es um Menschlichkeit und Empathie. Wem es schwer fällt sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, der sollte folgenden Text besser nicht lesen.

»Es darf keine Entwertung der Staatsbürgerschaft geben«. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hat vor ein paar Tagen den Mut zu genau dieser Aussage gefasst. Ich sage bewusst Mut, weil Mut für mich bedeutet zu wissen, dass das was man sagt blöd sein könnte, man es aber trotzdem ausspricht. Leider ist Dummheit manchmal aber genau das Gleiche. Und in diesem Fall tut sie auf der menschlichen Ebene sogar richtig weh. 

Denn wir interessieren uns immer nur für die Dinge, die uns direkt selbst betreffen, Corona zum Beispiel. Ich möchte dieses tragische historische Ereignis nicht ins Lächerliche ziehen, aber: Armut, Krieg und Schutzlosigkeit sind nicht ansteckend. Würde daran annähernd so viel gearbeitet und geforscht wie am COVID-19-Impfstoff, dann gäbe es viel weniger Leid auf dieser Welt. Ihnen, Herr Bundeskanzler Kurz, geht es zum Glück gut. So wie mir und vielen anderen Österreicher:innen auch. Doch kaum blüht irgendwo ein wenig Hoffnung für die Menschen, denen es nicht so gut geht wie uns, wird diese sogleich wie Unkraut vernichtet.  Und zwar von denen, die sowieso schon genug haben. Von denen, die das Leben für eine Pizza oder einen Kuchen halten, und die Angst haben, dass ein leichterer Zugang zum Pizza- oder Kuchenstück für die Bedürftigen weniger Pizza oder Kuchen für einen selbst bedeuten würde. 

Bei allem Respekt Herr Kurz, ich bin Maturantin, 18 Jahre alt und finde es echt traurig das Bedürfnis zu haben, Ihnen wie einem kleinen Kind erklären zu müssen, dass Sie nicht zu kurz kommen werden, nur, weil Sie, ohne potentiell daraus resultierenden persönlichen Defiziten, den Zugang zu etwas erleichtern, das Sie doch selbst schon besitzen. 

Und außerdem: Bei meiner diesjährigen Reifeprüfung gab es ja auch »Erleichterungen« – entwertet das jetzt mein Maturazeugnis? Die 12 Jahre Schulbesuch, meine entsprechenden Leistungen, meine Intelligenz? Also: Wenn man die bisherigen Anforderungen für die österreichische Staatsbürgerschaft erfüllt, wie all die anderen Jahre zuvor und diese als Drittstaatsangehörige/r statt nach 10 Jahren bereits nach 6 Jahren beantragt – wo ist das Problem? Das ist wieder diese sinnlose Kuchen- oder Pizzastück-Logik, die ich einfach nicht verstehe. Außerdem sagen Sie, dass man schon etwas leisten muss, um sich die Staatsbürgerschaft zu verdienen. Aber ich könnte mich nicht daran erinnern bei meiner Geburt ein Handbuch über die Kenntnisse, die für den Verdienst der österreichischen Staatsbürgerschaft relevant sind, mitgebracht zu haben. Ich weiß nicht, ob das nur bei mir so war, aber ausgehend von der Annahme, dass dem nicht so ist: Warum durfte mein Baby-Ich bedingungslos Österreicherin sein und andere Babies nicht? Warum handelt es sich bei der selbstverständlichen Staatsangehörigkeit eines neu geborenen Kindes, bei dem sich ein Elternteil bereits seit mindestens fünf Jahren legal in Österreich aufhält, um eine »Entwertung« der Staatsbürgerschaft? Ist Ihnen eigentlich klar, wie herablassend und degradierend Ihre These gegenüber sämtlichen Menschenleben ist?

Aber hey, immerhin hat meine ausländische Straßenhündin und ihre felligen Freunde leicht einen österreichischen Ausweis bekommen. Bitte nicht falsch verstehen, es ist wirklich toll, dass wir die Möglichkeit haben, über den Tierschutz Tiere aus dem Ausland adoptieren zu können, aber ist es nicht traurig, dass Tiere in Österreich eher ein zu Hause finden als Menschen? Dass Tiere in beheizten/klimatisierten Transportmitteln mit ausreichend Futter und Wasser besonders sanft nach Österreich kommen und manche Menschen zu Fuß oder mit dem Boot, egal bei welchen Witterungsverhältnissen, ohne Nahrungs-und Trinkwasserversorgung? Dass Tiere besser behandelt werden als Menschen?

Ich glaube ich weiß, was Ihr Problem ist, Herr Bundeskanzler Kurz. Ihr Problem ist nämlich, dass die Kinder von heute die Wähler:innen von morgen sein werden. Und wenn man nun die Idee fördert, in Österreich geborenen Kindern mit ausländischen Anteilen automatisch die Staatsbürgerschaft zuzusprechen, dann würden sich die Anhänger Ihrer Partei dezimieren. Ich finde es wirklich erschreckend, dass die eigenen politischen Interessen gegenüber Schutz, Sicherheit und Zugehörigkeit anderer Menschen, deren Wunsch es ist sich in Österreich ein neues Leben aufzubauen, priorisiert werden. Aber die traurige Realität ist, dass Menschen mit Menschlichkeit in Wahrheit leider genauso viel zu tun haben, wie Plastikblumen mit echten Blumen. 

Triggerwarnung Ende.

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