von Matthias Schwenk, 5.7.10
Eine Nobelpreisträger-Tagung darf man sich nicht wie ein Barcamp vorstellen. Wenn in Lindau 61 Nobelpreisträger und rund 700 junge Nachwuchsforscher zu einem interdisziplinären Treffen zusammen kommen, dann herrscht aller proklamierten Lockerheit und Offenheit zum Trotz doch ein gewisses Reglement, das jedem Teilnehmer, sei er nun Nobelpreisträger, Student oder Vertreter der Medien den ihm gebührenden Platz zuweist. Die Farbe der Bändchen an den Badges, die jeder Teilnehmer trägt, signalisiert die Gruppenzugehörigkeit: Hellblau für Nobelpreisträger, Grau für Studenten und ein kräftiges Gelb für die Presse. Über all dem schwebt zudem die Aura einer Veranstaltung, die mit ihrer 60. Tagung im Jahr 2010 selbst schon ein Stück Geschichte ist.
Was 1951 in sehr kleinem Rahmen mit einer Handvoll Teilnehmer begann und in den 1990er Jahren einen toten Punkt zu überwinden hatte, präsentiert sich heute als global orientierte Konferenz, die sich mit dem Einsatz von Social Media und Livestreams ihrer Vorträge ins Netz ganz auf der Höhe der Zeit wähnt.
Auf den interdisziplinären Ansatz der Tagung ist man besonders stolz, was freilich nicht überdecken kann, dass es in einzelnen Veranstaltungen auch schnell mal sehr fachspezifisch wird, etwa wenn Dunkle Energie und Dunkle Materie diskutiert werden und die Diskutanten sich überhaupt nicht einig sind, welche Rolle der Teilchenbeschleuniger (LHC) am CERN bei der Beantwortung grundlegender Fragen der Astrophysik denn nun spielen kann. Die Tatsache aber, dass Podiumsdiskussionen wie diese jetzt per Livestream über das Internet mitverfolgt werden können, kann nicht hoch genug gelobt werden. Wer sich für die in Lindau diskutierten Themen interessiert, sollte sich in der Mediathek der Tagungs-Webseite umsehen.
Anderes gerät überraschend flach, wie etwa der Vortrag des Schweizer Chemikers Richard R. Ernst, der sein junges Publikum auf die ethische Verantwortung der Wissenschaft einschwören wollte, dazu aber nicht viel mehr bieten konnte als ein paar schöne Zitate von Nelson Mandela, Hans Jonas oder Roman Herzog auf bunten Powerpoint-Folien.
Meine Frage, wo denn auf diesem interdisziplinären Treffen die Ökonomen unter den Laureaten blieben, wurde mit dem dezenten Hinweis beantwortet, dass diese sich in einem zweijährigen Turnus separat treffen würden, während die aktuelle Konferenz der Nobelpreisträger im Kern eine Initiative der Mediziner gewesen sei, die dann auf die Naturwissenschaften ausgedehnt wurde. Schwingt hier etwa noch das Jahrzehnte alte Vorurteil nach, nach dem die Ökonomie eben doch keine ganz exakte Wissenschaft ist, weil sie zwar mit allerhand Mathematik zu hantieren weiß, die Komplexität wirtschaftlichen Handelns aber doch nie in Formeln bringen kann, die sich vergleichbar denen der Physiker und Chemiker exakt verifizieren lassen?
In diesem Kontext von “Real Science” ist es dann auch ein ziemlicher Fauxpas, wenn man arglos nach den Nobelpreisträgern der Literatur fragt. Das Lindauer Treffen sieht sich ganz in der Tradition von Forschung und exakter Wissenschaft und übersieht dabei, dass seine Bemühungen und Appelle in Richtung gesellschaftspolitischer Verantwortung vielleicht doch etwas kurz greifen, weil man sich nicht aller Mittel bedient, die einem der eigene institutionelle Rahmen eigentlich bieten würde.
Dass die heutigen Probleme der Menschheit globaler Natur sind und diese auch in globalem Maßstab gelöst werden müssen, ist als Feststellung sicherlich richtig. Ebenso die Forderung nach interdisziplinärem Handeln auf der Ebene der Wissenschaft. In diesem Sinne dürften die Nobelpreisträger selbst noch etwas mehr Konsequenz zeigen und ruhig alle Vertreter ihrer Art zu den großen Treffen einladen. Auch wenn die Literatur-Nobelpreisträger keine Forschung betreiben, so haben sie doch ihren eigenen Blick auf die Probleme dieser Welt und könnten in diesem Sinne sowohl inspirierend für die jungen Nachwuchs-Wissenschaftler wirken, als auch als Botschafter für die Anliegen aller Nobelpreisträger in Richtung Öffentlichkeit wirken.
Denn Probleme hat die Menschheit wahrlich genug, wie das sehr bemerkenswerte Abschluss-Panel über “Energie und Nachhaltigkeit” zeigte. Es diskutierten die Nobelpreisträger Yuan Tseh Lee und Carlo Rubbia mit dem Direktor des Potsdam-Instituts für Klimaforschung, Hans Joachim Schellnhuber und dem Staatssekretär im deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung, Georg Schütte unter lebhafter Beteiligung des Auditoriums. Die Problemlage ist klar: Klimawandel, Bevölkerungswachstum auf globaler Ebene – und dass es nicht so weiter gehen kann wie bisher. Bei den Lösungswegen für eine nachhaltigere Zukunft aber scheiden sich die Geister und Nobelpreisträger.
Interessanterweise wurde dazu aus den Reihen der Nachwuchs-Forscher ein Medien-Problem angeschnitten: So herrsche zwar ein Konsens darüber, dass Wissenschaftler mehr denn je auf wichtige Probleme aufmerksam machen und in diesem Sinne erklärend und vermittelnd mit den Medien sprechen sollten, ihnen das aber in den eigenen Reihen immer noch negativ ausgelegt und zu einem Verlust an credibility in der scientific community führen würde.
Liegt hier der Grund dafür, warum in Europa so wenige Forscher ein Blog betreiben? Das Panel hatte auf diese Frage jedenfalls keine Antwort. Damit zeigte sich, dass die jungen Nachwuchstalente nicht nur den Ernst der Lage unseres Planeten längst begriffen haben, sondern medientechnisch gesehen schon sehr viel weiter sind als die meisten ihrer preisgekrönten Vorbilder.
Genau an diesem Punkt sollte die Stiftung der Lindauer Nobelpreisträgertreffen ansetzen und darauf hinwirken, dass bei künftigen Treffen nicht nur die traditionelle Art der Wissensvermittlung “von oben nach unten” erfolgt, sondern die Medienkompetenz der jungen Teilnehmer genutzt wird, um gemeinsam mit den Preisträgern die Wirksamkeit von Appellen und Initiativen über das Internet zu verbessern.
Im 21. Jahrhundert ist es eben nicht mehr so, dass es eine klare Trennlinie zwischen Lehrenden und Lernenden gibt, wie sie auf der Tagung der Nobelpreisträger noch immer gezogen wird. Die Signalwirkung der Tagung könnte deshalb weitaus größer sein, wenn sie noch mehr Interdisziplinarität sowie Elemente des Lernens der älteren von den jüngeren Teilnehmern einschließen würde. Ein Barcamp wäre die Tagung damit noch lange nicht. Aber sie könnte schon etwas vom Geist dieser modernen Konferenzform aufnehmen und für sich adaptieren.