von Laurent Joachim, 29.4.16
Ende Mai 2014 meldete der Spiegel: „Tariflöhne steigen doppelt so stark wie Inflation“, zur Einordnung wurde der Text mit dem Stichwort „Wohlstand in Deutschland“ versehen. Tatsächlich, eine erfreuliche Nachricht, denn „Tarifverträge legen die Mindeststandards für alle wichtigen Arbeits- und Einkommensbedingungen fest“, erklärt die Hans-Böckler-Stiftung.
Doch gute Tarifabschlüsse werden fast nur noch in der Industrie erzielt, wo die Gewerkschaften weiterhin vergleichsweise stark sind. Volkswagen zum Beispiel hätte ein größeres Problem, wenn die Wolfsburger Fließbänder, ausgelegt für eine Tagesproduktionskapazität von 3.800 Wagen, plötzlich für eine längere Zeit stillstünden. Diese drohende Unannehmlichkeit (man könnte auch sagen: Erpressbarkeit) sorgt für die notwendige Gesprächsbereitschaft auf der Arbeitgeberseite. Auf Arbeitnehmerseite wiederum ist eine gewisse Rücksicht und Kompromissbereitschaft dadurch garantiert, dass die Arbeiter vom Lohn leben und die Fabrik nicht unnötig bestreiken können, ohne sich selbst zu schaden.
Diese Konstruktion, die ein relatives Gleichgewicht des Durchsetzungsvermögens der jeweiligen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern induziert, hat in Deutschland, wo die Gewerkschaften in der Industrie traditionell stark verwurzelt waren, viele Jahrzehnte lang für sozialen Frieden und reibungslose Produktion gesorgt.
Doch in der letzten Dekade erodierte das Modell zunehmend: 1. aufgrund eines veränderten politischen Rahmens (Deregulierung und Liberalisierung), 2. wegen der Veränderung der Konkurrenzsituation (Globalisierung) und 3. aufgrund der Neuorganisation von Produktionsabläufen (Vorstufen der „Industrie 4.0“).
Die Schlagkraft der Gewerkschaften verschiebt sich
Einerseits sind einige Spartengewerkschaften mit wenigen Mitgliedern überproportional schlagkräftig und können das Land regelrecht erpressen, wenn sie es darauf anlegen. Anderseits haben Flächengewerkschaften dramatisch an Gewicht verloren und Arbeitskräfte, die sich nicht gut gewerkschaftlich organisieren können – etwa in den Dienstleistungsbranchen, im Einzelhandel beziehungsweise überall, wo Arbeitnehmer isoliert sind – genießen kaum noch den gewerkschaftlichen Schutz, ihnen fehlt einfach jedwede Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen.
Diese unausgewogene Situation lässt sich einfach erklären. „Ein Streik ist dann am effektivsten, wenn er die Schaltstellen lahm legt. Eine Gewerkschaft ist dann am schlagkräftigsten, wenn sie die Leute an den Schaltstellen organisiert. Und zwar möglichst nur die – dann muss nämlich auf keinen anderen Rücksicht genommen werden“1, fasste die Radio-Sendung Der Tag im HR 2 die Situation anlässlich des Streiks der Piloten der Vereinigung Cockpit (rund 9.600 Mitglieder) im September 2014 zusammen. An den „Schalthebeln“ sitzen außer den Piloten zum Beispiel die Lokführer der GDL (34.000 Mitglieder), die den gesamten Bahnverkehr im Oktober und November 2014 mehrmals lahmlegten, oder auch die Mitglieder der Ärztegewerkschaft des Marburger Bundes (118.000 Mitglieder), die 2012 einen Vollstreik wegen einer angestrebten Gehaltserhöhung um 6% beschlossen.
Anderseits können die großen Gewerkschaften wie Ver.di (2,1 Millionen Mitglieder im Jahr 2014, also fast ein Drittel weniger als 2001) zwar immer noch viel erreichen, aber weitgehend nur dann, wenn personalintensive Produktionsstätten oder strategische Depots und Anlagen bestreikt werden können, wie im Fall von Amazon 2014 und 2015 – und nur, wenn der Arbeitskampf sich für die Gewerkschaft selbst lohnt. Den Gewerkschaften geht es finanziell nicht mehr gut genug, als dass sie in einen Kampf mit unsicherem Ausgang ziehen würden oder könnten.
Außerhalb der oben genannten gewerkschaftlichen Schutzzonen sind die Arbeitnehmer spätestens seit den Arbeitsmarktreformen der Schröder-Regierung und den Veränderungen aufgrund der Globalisierung sowie der Entwicklung neuer technischer Lösungen einem gesprengten Arbeitsmarkt völlig ausgeliefert, da die großen Gewerkschaften kein Eigeninteresse am Arbeitskampf im „Klein-Klein“ haben können.
Gesetzgebung begünstigt Marktwillkür
Deutschland musste bis 2015 ohne Mindestlohn auskommen. Der gesetzliche Schutz vor Ausbeutung war minimal – besonders nach den Agenda-Reformen, als die sogenannten Zumutbarkeitskriterien zur Arbeitsaufnahme drastisch gesenkt bzw. der Zwang zur Aufnahme von untertariflich bezahlter Arbeit gesetzlich verankert wurde.
Die oben erwähnte gute Nachricht „Tariflöhne steigen doppelt so stark wie Inflation“ betrifft deswegen nur die rund 19,5 Millionen Beschäftigten, die sich auf den Schutz eines Tarifvertrages berufen können, also nicht einmal die Hälfte der 43 Millionen Erwerbstätigen unseres Landes. Die Auswirkungen des zunehmenden Wegfalls der Tarifbindung liegen auf der Hand.
Zur traurigen Berühmtheit in Sachen Prekarisierung im Zuge der Arbeitsmarktreformen hat es die Kurier- und Paketdienstbranche gebracht. Wie kaum in einer anderen Branche ist der Unterbietungskampf aggressiv auf den Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen worden. Schon 2011 legte eine Recherche der ARD den Finger in die Wunde: “Die Reportage dokumentiert am Beispiel des größten privaten Paketdienstleisters Hermes ein verbreitetes System. Sie schicken selbständige Fahrer los – auf eigenes Risiko und ohne dass das Unternehmen eine juristische Verantwortung trägt”. In einer weiteren Recherche von 2012 über den Paketdienst GLS enthüllte Günter Wallraff eine Welt von “Sklaven auf vier Rädern, die Stundenlöhne von 3 Euro, 14-Stunden-Schichten und alltägliche Schikanen” über sich ergehen lassen müssen, wie der Stern die Zustände zusammenfasste. Kein Einzelfall, kurz davor hatte die NDR Sendung Panorama ähnliche Zustände bei DHL beziehungsweise bei Subunternehmen von DHL beleuchtet. Und auch die Einführung des Mindestlohnes hat am Lohndumping in dieser Branche nicht zu wesentlichen Verbesserungen geführt, da die Fahrer gezwungenermaßen als Selbstständige arbeiten müssen
Unfreiwillig solo-selbständig statt arbeitslos
Die Förderung der Selbständigkeit als Weg aus der Arbeitslosigkeit wurde 2003 im Rahmen der Hartz-Gesetze eingeführt und gab Arbeitslosen die Möglichkeit, Existenzgründungszuschüsse von den JobCentern zu beantragen. Damit waren die sogenannten „Ich-AGs“ (das Unwort des Jahres 2002) geboren. Zwischen 1991 und 2009 stieg die Zahl der Selbständigen bundesweit um 40%. Heute wird dieses Prinzip etwas abgeändert mit der Vergabe eines Gründungszuschusses beziehungsweise eines Einstiegsgeldes weitergeführt. Die Ämter zählten insgesamt etwa 300.000 Existenzgründungen im Jahr 2014, davon 36.000 aus der Arbeitslosigkeit heraus – weniger als zu Hochzeiten der Zuschüsse, aber ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr.
Dabei wird in vielen Fällen die Selbstausbeutung von Kleinstunternehmern und sogenannten Solo-Selbstständigen durch den gewährten Gründungszuschuss in nicht unerheblichem Maße in Gang gesetzt – trotz zweifelhafter Erfolgschancen. Hauptsache für das Amt und die Betroffenen, obgleich aus ganz unterschiedlichen Beweggründen: Raus aus der Arbeitslosenstatistik.
Doch oft genug münden diese Existenzgründungen aus der Not heraus in dauerhafter Solo-Selbständigkeit, die es den Geförderten gerade noch ermöglicht, knapp über den Hartz-IV-Sätzen zu leben – wenn überhaupt, mehr als 100.000 Selbständige stockten 2015 mit Hartz IV auf.
In vielen selbständigen Berufen ist die Arbeitssicherheit selten für länger als ein paar Tage oder Wochen gegeben. Ist ein Solo-Selbständiger von nur einem Hauptkunden abhängig, muss er jedwede Konditionen akzeptieren oder unter Umständen von einem Tag zum anderen das Geschäft aufgeben und Hartz IV beantragen. Gleiches gilt, wenn er für längere Zeit krank wird. Eine äußerst praktische Regelung für die beauftragenden Unternehmen: ständige Erpressbarkeit ist gegeben, aber übliche Sozialleistungen wie Krankengeld, Lohnfortzahlung, Rentenansprüche, Nachtarbeits- und Sonntagszuschläge, bezahlter Urlaub, das alles wird mit dem vorher vereinbarten Werkshonorar abgegolten. Oft genug kommen diese Leistungen dabei unter die Räder.
Da das Geld bei vielen Solo-Selbständigen knapp ist, ist die Alterssicherung meist auch nicht ausreichend. Unter bestimmten Umständen kann sogar die Entrichtung der Krankenkassenbeiträge (normalerweise 14,6 Prozent des Verdienstes 2015) zur Herausforderung werden, denn wenn die Beitragsbemessungsgrenze der Kassen unterschritten wird, muss der Selbstständige überproportional hohe Beiträge entrichten.
Äußerst niedrige Erlöse aus der Selbstständigkeit sind dabei keine Seltenheit. Eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) aus dem Jahr 2011 ergab, dass rund 270.000 Selbstständige weniger als 500 Euro im Monat zur Verfügung haben. Weiterhin verfügten 25% (2010) über weniger als 1.100 Euro netto im Monat, und knapp 37% der Selbstständigen verdienten nur 1.100 bis 2.300 Euro. Zum Vergleich lag der durchschnittliche Bruttolohn in Deutschland im gleichen Jahr nach offizieller Erhebung bei 3.011 Euro.
Ungebunden, billig und flexibel sollst du sein
Die Konkurrenz unter den Selbständigen hat mit den digitalen Geschäfts- und Beschäftigungsmöglichkeiten vielerorts zugenommen, während der Bindungsgrad der Kunden zeitgleich sinkt. Viele Firmen nutzen beispielsweise den Werkvertrag als allerbilligste Dienstleistungsvertragsform und den Solo-Selbstständigen als allerbilligstes Arbeitsverhältnis.
Die Fahrdienstvermittlung Uber (2009 in San Francisco gegründet, geschätzter Wert des Unternehmens 5 Jahre später: 17 Milliarden Dollar) ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, wie aggressive weltumspannende und finanzkräftige Geschäftsmodelle, die eine Monopolstellung zum Ziel haben, in einem Graubereich haarscharf am Rande der Legalität implementiert werden und etablierte Branchen gefährden.
Mit dem Dienst UberPop vermittelt Uber weltweit, und 2014/2015 auch für kurze Zeit in Deutschland, Privatmann-Taxi-Fahrten per App. Nach einer juristischen Schlacht sah sich der Dienst zum Rückzug aus dem Bundesgebiet gezwungen. Die Uber-Fahrer standen in rechtswidriger Konkurrenz zu den etwa 55.000 lizenzierten Taxifahrern, die in Deutschland ihren Dienst verrichten, so die Überzeugung der Richter.
Eine Fahrt mit UberPop konnte um 20 bis 40% billiger sein als ein Taxi, denn die Uber-Fahrer arbeiteten in der Regel im Nebenjob und verzichteten auf einen geeichten Fahrpreisanzeiger, eine Funkanlage, einen gewerblichen Personenbeförderungsschein, eine berufsbezogene Versicherungspolice für den Fahrgast usw. Es sind im Konkurrenzkampf erhebliche Vorteile, denn diese teuren Nachweise und Ausstattungsmerkmale sind unabdingbare Vorschrift für lizensierte Taxi-Fahrer.
In solchen Geschäftsmodellen werden darüber hinaus sämtliche Risiken auf die Arbeitenden verlagert, während die sicheren Gewinne – von jeglichem unternehmerischen Risiko bereinigt – an das Vermittlungsunternehmen fließen. Weiterhin werden gesetzliche Schutzmechanismen für Dienstleister und Kunden ausgehebelt. Es ist zum Beispiel fraglich, ob und inwiefern Fahrgäste im Falle eines Unfalls in einem „Privatmann-Taxi“ versichert waren, denn alle Restrisiken wurden von der Vermittlungsfirma Uber per Vertrag auf die Fahrer abgewälzt. Recherchen des Hessischen Rundfunks zeigten, dass für die Fahrer „mit der Vertragsunterzeichnung gleich mehrere Risiken einher[gingen] – bis zum finanziellen Ruin“.
Ein ähnliches Geschäftsmodell mit Selbstständigen, das Tarifverträge und Mindestlohn umgeht, haben viele Internet-basierte Vermittlungsdienste für Putzkräfte wie Helpling, Homejoy oder Clean Agents gefunden. Wie das funktioniert, erklärt ein Artikel des Tagesspiegel: “Bei Helpling treten [die Arbeitskräfte, A.d.R.] 20 Prozent des Stundenlohns ab – beim höchsten Satz von 14,90 Euro pro Stunde bleiben also 11,90 Euro. Bei Homejoy bekommen die Reinigungskräfte von den 15 Euro im Durchschnitt 11,80 pro Stunde – je länger sie dabei sind, desto mehr Geld gibt es. Von ihrem Lohn gehen noch einmal Sozialabgaben wie Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung ab, auch die Fahrtzeit ist nicht eingerechnet.” Die nötige Arbeitskleidung muss vom Beschäftigten selbst beschafft werden, was die Entlohnung weiter drückt. So liegt der reale Nettolohn nicht selten weit unter dem Mindestlohn. Die Süddeutsche Zeitung sprach 2014 von einer Branche für “Schmutzige Geschäfte“.
Gar nicht so saubere “White-Collar-Jobs”
Diese Geschäftsmodelle gibt es auch speziell auf die Bedürfnisse von Unternehmen zugeschnitten: Der Internet-Dienst Proz.com zum Beispiel bringt selbständige Übersetzer mit Firmen und Übersetzungsbüros zusammen. Festpreise für die ausgeschriebenen Aufträge werden oft nicht genannt, den Zuschlag bekommen die freiberuflichen Übersetzer, die neben der erforderlichen Kenntnissen und Erfahrungsjahren den niedrigsten Preis anbieten. Um überhaupt eine Chance auf einen Auftrag zu haben, dürften sich die allermeisten bei der Preisgestaltung in höchster Bescheidenheit üben. Das Risiko eines Zahlungsausfalls bei der Zusammenarbeit mit meist im Ausland ansässigen Firmen trägt dabei der Freiberufler allein.
Ähnliche Geschäftsmodelle sind auch in der IT-Branche beliebt. So beschreibt IG-Metall-Sekretär Herbert Rehm in einem Sachbuchbeitrag2 vom Oktober 2014, wie Menschen, die als Freiberufler für Internet-Marktplätze (wie Amazon Mechanical Turk (AMT), TopCoder, Clickworker, CrowdFlower oder CloudCrowd) arbeiten, einerseits wehrlos „um den Lohn ihrer Arbeitsergebnisse gebracht“, andererseits per Vertrag in die „Produkthaftung genommen“ werden. Wer „von diesem Job leben muss, ist als Einzelner dem Anbieter hoffnungslos unterlegen, egal, ob es um Rechtsstreitigkeiten oder gar um höhere Honorare geht“, so Rehm.
Die Gemeinsamkeit aller Anbieter von Schwarm- und Telearbeit ist – neben dem fehlenden Rechtsschutz für die Arbeitnehmer –, dass Dumpinghonorare die Regel sind. Von solchen Tätigkeiten zu leben scheint kaum realistisch zu sein. Im September 2013 testete eine BBC-Reporterin die Verdienstmöglichkeiten von fünf sogenannten „Crowdworking“-Plattformen (InboxPounds, Swagbucks, CastingWords, Clickworker, Fiverr). Ergebnis: 19,16 Pfund (oder damals 22,76 Euro) für 37 Stunden Arbeit, das sind umgerechnet 0,61 Euro pro Stunde, also ein Bruchteil des damals in Großbritannien gültigen Mindestlohns von 6,31 Pfund beziehungsweise 7,60 Euro.
Crowdworker – die neuen Tagelöhner
Der Journalist Johannes Zuber zeigt in einem Beitrag von Oktober 2014 im Deutschlandradio Kultur eine grundsätzliche Entwicklung „Vom Bürosklaven zum Tagelöhner“ in der Welt der digitalen Jobvermittlung. Mittlerweile ist „Crowdworking“ (Schwarmarbeit) ein florierendes Geschäft geworden.
Die Berliner Firma Twago (Teamwork Across Global Offices), nach eigenen Angaben Europas führende Plattform zur Vermittlung von Freiberuflern und Agenturen, hat 225,000 Experten in ihren Datenbanken, die seit der Gründung 2009 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 150.000.000 Euro bearbeitet haben. Die Angebotspalette an „Crowdworking“-Diensten wird immer breiter und internationaler. Die auf Grafikdesign spezialisiert Plattform designContest wirbt beispielsweise damit, dass 176.717 professionelle Designer rund um die Uhr verfügbar seien.
Hochqualifizierte Programmierarbeit wird generell zwar besser bezahlt, ob man davon leben kann, ist eine andere Frage. IG-Metall-Sekretär Rehm nennt in seinem oben erwähnten Text beispielsweise eine Vergütung in Höhe von 800 US-Dollar für zwei Wochen Programmierarbeit (also in etwa 630 Euro zu dem Kurs von Oktober 2014). Das sind bei zehn Arbeitstagen nur 63 Euro pro Tag oder 7,90 Euro pro Stunde – auf freiberuflicher Basis. Wird dieser Betrag in Deutschland ordentlich angemeldet und besteuert, bleibt dem freiberuflichen Informatiker nach Abzug seiner Nebenkosten lediglich etwa die Hälfte netto, also äußerst magere 3,95 Euro – dabei sei angemerkt, dass der Mindestlohn bei 8,50 Euro liegt. Zum Vergleich: Der Durchschnittlohn freiberuflich arbeitender Informatiker in Deutschland betrug 2014 um die 76 Euro brutto pro Stunde.
Der Trend ist deutlich: “Obwohl die IT-Branche unter Fachkräftemangel leidet, bauen Konzerne feste Stellen ab. Sie setzen lieber auf Selbstständige, denn die sind billiger”, schreibt die Zeit 2013. Erschwerend kommt dazu, dass Telearbeit es möglich macht Arbeitsplätze weltweit beliebig zu verlagern, im Klartext heißt das Breslau oder Mumbai statt New York oder Frankfurt am Main.
Dass die Leistung der „Crowdworking“-Arbeiter überhaupt vergütet wird, ist oft alles andere als selbstverständlich. Die Besteller auf der Plattform Amazon Mechanical Turk haben die Möglichkeit, die gelieferte Leistung ohne Angaben von Gründen abzulehnen. Dann gibt es für den Lieferanten kein Geld – Punkt. Beschwert sich der Lieferant, erhält er vom Besteller für gewöhnlich eine schlechte öffentliche Profil-Bewertung und wird bei der Vergabe von weiteren Aufträgen unter Umständen nicht mehr berücksichtigt.
Viele „Crowdsourcing“ oder „Crowdworking“-Plattformen vergeben Aufträge „kompetitiv“, also nach dem Prinzip des „Pitch-Honorars“. Das heißt, dass nur die Lösung, die am Ende vom Besteller als „Beste“ auserkoren wurde, vergütet wird. Die nicht so glücklichen Mitbewerber bekommen, abgestuft nach Leistung, wenn überhaupt, „digitale Punkte“ – wovon man sich in der realen Welt bekanntlich nichts kaufen kann. Ganz nach dem Prinzip „The Winner Takes It All“ – all die anderen haben das Nachsehen. Besonders bitter für all die anderen, wenn am Anfang eines Monats die jeweilige Miete ansteht.
Oft behalten sich die über „Crowdworking“-Plattformen belieferten Firmen überdies das Recht vor, alle eingereichten Werke beziehungsweise funktionstüchtigen Programmteile, auch die aus Wettbewerben und Vorleistungen der Auftragnehmer, zu archivieren und nach Gutdünken zu nutzen. Man stellt sich ein solches Geschäftsmodell im Realleben vor: ein Kunde bestellt sich zum Probefahren jeweils ein Auto von, beispielweise, Fiat, Ford, Peugeot, Renault, Toyota, Volkswagen und Volvo, sucht sich dann das Modell aus, das ihm am meisten zusagt, bezahlt es zu einem Dumping-Preis – darf aber all die anderen Probefahrzeuge unbegrenzt und kostenlos in seiner Garage stellen und nach Lust und Laune damit herumfahren. In der Internet-basierten Dienstleistungswirtschaft ist ein solches Geschäft gang und gäbe.
Kostenlos arbeiten lassen – so geht’s
Wie ein solches System tatsächlich funktioniert, wird von einem einfachen Fallbeispiel veranschaulicht: „Deutsche Bahn Stiftung sucht auf jovoto nach kreativen Perspektiven im Kampf gegen Depression“, ließ der Staatskonzern im Sommer 2014 verlautbaren. Die Berliner Agentur jovoto, gegründet 2007, ist ein Marktplatz für kreative Leistungen und Ideen. Etwa 80.000 Kreative aus 190 Ländern sollen sich nach Unternehmensangaben registriert haben. Jovoto zählt zu seinen Kunden außer der Deutschen Bahn viele weitere namhafte Unternehmen, wie Audi, Greenpeace, Coca Cola, Starbucks, die Unicef, die Telekom, usw.
Die Plattform funktioniert denkbar einfach: „jovoto [teilt] seine Nutzer in drei Kategorien ein: An öffentlichen Wettbewerben können alle teilnehmen. Zugang zu privaten Wettbewerben erhalten nur eingeladene Mitglieder. Die Besten aus dieser Gruppe haben die Möglichkeit, den Gral des jovoto-Netzwerks zu erreichen, in dem mit Honorar kollaborativ an fortgeschrittenen Projekten gearbeitet wird.“, schreibt die Gründerzeit der Berliner Morgenpost.
Für den öffentlichen Auftrag der Bahn wurden Preise in einer Gesamthöhe von 5.500 Euro ausgeschrieben. 425 Kreative haben an der Ausschreibung teilgenommen. Die „besten“ sieben Entwürfe erhielten Preisgelder zwischen 250 und 750 Euro. Hinzu kamen je 500 Euro Extraprämie (inklusive der Lizenzierung) für fünf von einer Jury ausgewählte Entwürfe. Von den 425 Teilnehmern gingen folglich 418 komplett leer aus, und der Gewinner dürfte nach Abzug aller Kosten gerade mal kostendeckend gearbeitet haben. So wurden abertausende Arbeitsstunden geleistet – und blieben am Ende völlig unvergütet.
Marktmacht statt faires Miteinander
Die sozialen und menschlichen Auswirkungen solcher Praktiken sind im September 2014 von der Leipziger FDP-Fraktion im Stadtrat in einem Antrag in aller Deutlichkeit formuliert worden: „Die Stadt Leipzig hat sich die Förderung der Kreativwirtschaft auf die Fahnen geschrieben. Gleichzeitig sind Stadtverwaltung und kommunale Unternehmen für diesen Wirtschaftsbereich wichtige Auftraggeber. Im Vergütungstarifvertrag Design sind neben Honorarvorschlägen insbesondere Angaben zur Struktur der Vergütung (…) gemacht. Gleichzeitig berichten Unternehmer aus der Leipziger Kreativwirtschaft, dass für Wettbewerbsverfahren zur Vergabe von Kreativleistungen nicht selten keine Vergütung (…) gezahlt wird. Ebenfalls wird berichtet, dass es Fälle gab, in denen offenbar mit Vorlage der Entwürfe die Rechte daran an den potentiellen Auftraggeber übergehen sollten. Dies heißt, dass der potentielle Auftraggeber alle Rechte an den Entwürfen hat aber keinerlei Vergütung dafür gezahlt wurde. Dies ist mit einem fairen Miteinander und den Grundsätzen sozialer Marktwirtschaft unvereinbar, denn der potentielle Auftraggeber nutzt seine Marktmacht aus.
In anderen Geschäftsmodellen müssen Freiberufler oder Kleinfirmen erst in Vorleistung gehen und hoffen, dass ihre Arbeit anschließend überhaupt gefragt und gekauft wird. Dadurch wird dem Käufer nicht nur jedes Risiko der Wertschöpfung abgenommen, er rückt auch in eine wesentlich verbesserte Verhandlungsposition gegenüber dem Kreativen, der die Leistung ist schon auf „Hoffnungsbasis“ erbracht hat.
Die stellvertretende Vorsitzende der IG Metall Christiane Benner schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über eine regelrechte „Amazonisierung unseres Lebens“ und stellt fest: „Was uns als Kunden gefällt, vernichtet gleichzeitig den Wert menschlicher, auch geistiger Arbeit“, um folgerichtig zu fragen „Wer schützt die Clickworker?“
Die Frage drängt sich tatsächlich auf. Es gab naturgemäß immer große Verdienstunterschiede unter den Selbständigen, aber Fakt ist, dass viele New-Economy-Solo-Unternehmer systembedingt ganz unten in der Nahrungskette stehen (beziehungsweise stehen müssen), zumal die heute gültigen rechtlichen Regelwerke zum Schutz der „traditionellen Selbstständigen“ (wie Anwälte, Apotheker, Ärzte, Meisterbetriebe, etc.) ausgelegt sind und die Absicherung der „New-Economy-Zuarbeiter“ entweder gar nicht oder sehr unzureichend regelt.
Die entscheidende Frage ist, wollen wir in einem System, in einer Gesellschaft leben, in der vermeintlich innovative Geschäftsiden auf einer unlauteren, unethischen Ausbeutung der menschlichen Leistung basieren? Eher nicht, oder? Deshalb müssen wir uns überlegen, wie sich innovative Technologien aus ökonomischer, politischer und ethischer Sicht in die bestehende Rechtsordnung sinnvoll integrieren lassen. Die weitgehend akzeptierten Wild-West-Manieren vieler New-Economy-Akteure sind sicherlich nicht geeignet, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern – ganz im Gegenteil. Deshalb müssen Spielregeln her. Und das ist nicht Aufgabe der Wirtschaftsakteure, sondern der Politik.
1 Klein, wendig, lästig – Die Macht der Spartengewerkschaften, Der Tag, Hessischer Rundfunk 2, 08.09.2014
2 Frei sein, high sein: Outsourcing in der IT-Branche (S.139ff), Herbert Rehm, in Günter Wallraff (Hg.), Die Lastenträger, KiWi, 2014, 298 S.
Laurent Joachim beschäftigte sich in seiner Studie „Friss oder Hartz – Warum Hungerlöhne unser Land zerstören“ (2014) damit, wie die stets größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich der Gesellschaft schadet und langfristig schaden wird, wenn keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. CARTA bringt einen Auszug daraus.
Wieviel Ideologie steckt in der Vorstellung, dass jede zweckgerichtete Tätigkeit Arbeit sei? Wie verändert sich die Arbeitswelt mit der Digitalisierung? Welche Rolle spielt das Individuum angesichts globalisierter Produktionsströme? Wie verändert sich die Kommunikation über Arbeit, und wie die Kommunikation, wenn sie zur Arbeit wird? Beiträge zu diesen und anderen Aspekten von Arbeit finden Sie in im Carta-Dossier: „Ausbeutung 4.0? Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?“
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