von Hans F. Bellstedt, 6.2.12
„Das Web 2.0 wird bald Geschichte sein“ – mit dieser kühnen Voraussage hat der CDU-Bundestagsabgeordnete Ansgar Heveling einen mittleren digitalen Tsunami ausgelöst („Netzgemeinde, Ihr werdet den Kampf verlieren“, Handelsblatt, 30.1.2012). Von Empörung über beißenden Spott bis hin zu tiefer Verachtung für den zum „Hinterbänkler“ abgestempelten Rechtsanwalt reichen die Reaktionen auf dessen Philippika. Die Debatte, die das Mitglied der Internet-Enquete des Deutschen Bundestages ausgelöst hat, zeigt, dass im gesitteten Umgang zwischen Digitalisierungsskeptikern und Web-Fanatikern noch reichlich Raum für Verbesserungen besteht.
Heveling hat stark überzogen, und – so darf man vermuten – er hat es bewusst getan. Nur wer polarisiert, wird gehört, nur wer provoziert, erhält eine Antwort. Daher Sätze wie: „Auf Mehrheitsverhältnisse haben Revolutionen nie wirklich Rücksicht genommen“. Daher der Vorwurf, Netzaktivisten seien „Menschen, die …eine andere Gesellschaft“, ja: einen „digitalen Totalitarismus“ wollten. Und daher die Hypothese, dass eine Allianz aus „digitalen Maoisten und kapitalstarken Monopolisten“ am Werke sei, um die Idee des geistigen Eigentums als Fundament der bürgerlichen Gesellschaft zu untergraben. Gemach, Gemach, Herr Abgeordneter: Noch wurden keine Guillotinen errichtet, noch wurde kein König aufs Schafott geführt, und noch ist kein Robbespierre in Sicht.
Die lautstark protestierende Netzgemeinde wiederum muss sich fragen lassen, warum sie sich auf diese Provokation einlässt, anstatt einfach nur cool zu bleiben. „Postpubertäres Affektdenken“, „von Kenntnis weitgehend ungetrübt“, „merkwürdig gestrige Hetzschrift“ – das ist starker Tobak, wenn man bedenkt, dass Heveling bei aller Übertreibung vielleicht doch auch einen wunden Punkt getroffen hat. Zum Beispiel den, dass es nach jahrelanger Debatte bis heute nicht gelungen ist, ein dem digitalen Zeitalter und seinen Möglichkeiten entsprechendes Urheberrecht (Stichwort „Dritter Korb“) zu schaffen. Ein Versäumnis der gesetzgebenden Instanzen, aus dem Unsicherheit und Verunsicherung zugleich resultieren.
Der Pulverdampf, den Heveling mit seinem Beitrag ausgelöst hat, wird sich wieder verziehen. Die Fragen hingegen bleiben: Wie finden Netzskeptiker und Vorreiter der digitalen Revolution zu einem Dialog zusammen, der von gegenseitigem Respekt, Toleranz und Ernsthaftigkeit, statt von gegenseitigen Anschuldigungen, teilweise auch Beschimpfungen, gekennzeichnet ist? Dies kann nur gelingen, wenn beide Seiten verbal abrüsten: Die Unterstellung, Heveling sei ein „Klientelpolitiker“, dem es um die „Durchsetzung konservativer Ideologien“ gehe, führt ebenso wenig zum Ziel wie das Schüren einer „Grande Peur“ vor den vermeintlichen Feinden der Freiheit, der Demokratie und des Eigentums. Der Siegeszug der Digitalen bedeutet keineswegs, dass die Errungenschaften der analogen Stände hinweg gespült werden.
Statt übereinander herzuziehen, sollten beide Lager daher ihre Gestaltungsfähigkeit unter Beweis stellen: Die der Bewahrung verpflichteten Volksvertreter sollten mindestens so innovativ denken und handeln wie die Unternehmen klassischer Industrien, die längst die Chancen der digitalen Revolution ergriffen haben und sich dadurch gänzlich neue Wachstumspotentiale erschließen. Das gilt nicht nur für Verlage: Wenn Daimler-Chef Zetsche auf der Elektronikmesse CES in Las Vegas das Auto zum „digitalen Begleiter“ ernennt und die Möglichkeiten des Cloud Computing preist, dann zeigt das doch, wie Etabliertes und Neues zum Vorteil aller Akteure miteinander verschmelzen.
Umgekehrt müssen auch die Netzapologeten vom Thron hinabsteigen, aus dessen Blickwinkel alles gratis und frei erscheint: Wer Werte schafft, der hat Anspruch auf angemessene, technologiebejahende Vergütung. Das hat nichts mit „Klientelpolitik“ oder postpubertärem Verhalten zu tun, sondern mit Anerkennung schöpferischer Leistung.
Freilich, noch lauern die Kontrahenten in ihren Schützengräben, twittern, bloggen und posten gegeneinander, anstatt sich auf eine Erklärung (digitaler) Menschen- und Bürgerrechte zu verständigen. Auch die Internet-Enquete wird am Ende einen allumfassenden Konsens möglicherweise nicht herbeiführen. Von daher ist auch in dieser Debatte politische Führung gefragt: Es braucht Spitzenpolitiker, die in der Lage sind, dem Diskurs eine Richtung zu geben, Wesentliches von Unwesentlichem zu scheiden und somit Orientierung in Fragen digitaler Politik zu stiften. Keine Heerführer, die sich selbst zum „Kaiser“ krönen, sondern mit Intellekt und Weitsicht ausgestattete Autoritäten, die sich ernsthaft mit der Revolution des Netzes auseinandersetzen und Leitplanken definieren für das Bewohnen eines Raumes, der unser aller Zuhause geworden ist.