#Deutsche Bahn

Modernes Warten: Schlangenverarbeitung

von , 2.2.09

In alter Zeit war der Kampf gegen die Schlange ein mühsames, von Hand betriebenes Unterfangen. Extragarstige Spezialschlangen wie etwa der Drache machten die Arbeit besonders unangenehm. Mit den Jahren strandete die Schlange dann an den Küsten der menschlichen Zivilisation. Sie wurde domestiziert zur Warteschlange, aber immer noch schlagen ihr Abscheu und Antipathie entgegen.

Nun will die deutsche Bahn der Schlange den Garaus machen. In den großen Reisezentren sollen Bahnbenutzer künftig wie auf Ämtern Nummern ziehen können, die dann über Bildschirme aufgerufen werden sollen. Wo es baulich möglich sei, sollen auch Sitzgelegenheiten geschaffen werden, teilte der Rollkonzern in Berlin mit. Weiters sollen “Sofortfahrer“-Schalter für eilige Reisende eingerichtet werden, die ruckartig und ohne Beratung abreisen wollen.

Ganz auf Kommunikationstechnik setzt ein anverwandter Versuch in Berlin, die aktuellen Wartezeiten in den sogenannten mobilen Bürgerämtern zu erfahren: das “Warteschlangen-Management-System” läßt sich per SMS abfragen. Am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut wird das ganze derzeit zu einem System weiterentwickelt, mit dem Bürger per Internet Termine bei Behörden vereinbaren können.

Eine ähnliche Methode war schon 2003 bei einem Fest zu Ehren des elefantenköpfigen Hindu-Gotts Ganesh in Bombay erfolgreich zum Einsatz gelangt. Der indische Mobilfunkprovider BPL bot damals einen SMS-Serice an, der Gläubigen das lästige Einreihen in endlose Warteschlangen ersparte. Ganesh gilt als Garant für Glück und Wohlstand – eine SMS an eine Adresse im betreffenden Tempel garantierte, dass dort die nötigen Gebete gesprochen wurden. Der Auftraggeber erhielt vom Tempel eine Quittung mit einem Bild des freundlichen Gottes plus weitere Serviceangebote.

Wieder andere versuchen, die Schlange einfach für ihre illustren Zwecke einzuspannen – legendär etwa die Warteschlangen vor der MOMA-Ausstellung 2004 in Berlin mit Wartezeiten von mehreren Stunden, sowie die Schlangen vor den Apple-Stores dieser Welt anläßlich der Einführung des iPhones und seiner Nachfolger. PR-Spezialisten begannen sich zu fragen, wie man die Warteschlange als Indikator für Premium-Produkte weiterentwickeln könnte.

Die meisten Schlangesteher aber empfinden das Warten in einer Schlange schlichtweg als Zumutung. Versuche, das Problem in linearer Form angestauter Körper algorithmisch zu lösen, ließen nicht lange auf sich warten. Vor zwei Jahren veranlaßte die Betreibergesellschaft der finnischen Flughäfen die Installation der Video-Überwachungssoftware SmartCatch von NEC und Vidient Systems, die unter anderem automatisch meldet, wenn die Schlange vor dem Check-in eine vordefinierte Länge überschreitet, sodaß weitere Schalter geöffnet werden können.

Auch ein alter Ungeist aus der Ära des nichtcomputerisierten Wartens wurde – leider – technisch wiederbelebt: das Vordrängeln. Im November 2007 benutzten Mitarbeiter des Katastrophenschutzes im US-Bundesstaat Colorado ihre behördeneigene Computerpower, um sich bei einem Online-Ticketservice mit Karten für Spiele der heimischen Baseball-Favoriten einzudecken.

Die deutsche Bahn wird für den Versuch, ihren Kunden die Wartezeiten zu verkürzen, noch etwas mehr brauchen als Rechenleistung. Zwei Tage nach Ankündigung der geplanten Wartebeschleunigungen fielen erstmal sämtliche Fahrkartenautomaten der Bahn aus.

Peter Glaser bloggt auf Glaserei, wo auch dieser Beitrag erschienen ist.

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.