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Mindestlohn: Warum Deutschland eine funktionierende Lohnuntergrenze braucht

von , 19.10.09

An dieser Stelle setzen wir die Debatte um den Mindestlohn fort. Thomas Straubhaar sprach sich in seinem Beitrag gegen einen Mindestlohn und für das Grundsicherungs-Modell aus. Justus Haucap vertrat die Position, dass man trotz negativer Beschäftigungseffekte politisch für einen Mindestlohn optieren könne. Leser xconroy schlug in den Kommentaren dazu vor, auch eine gegenteilige Meinung zu Wort kommen zu lassen.

Justus Haucap, Professor für Volkswirtschaftslehre und Vorsitzender der Monopolkommission, hat in diesem Beitrag für Carta vor den Gefahren einer Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland gewarnt. Im Kern läuft seine Argumentation darauf hinaus, dass ein Zielkonflikt zwischen dem wünschenswerten Ziel sozialer Gerechtigkeit und der ökonomischen Vernunft bestehe. Da gesetzliche Mindestlöhne zu Beschäftigungsverlusten führten, werde das angestrebte legitime Ziel höherer Einkommen im Niedriglohnbereich konterkariert. Zudem seien soziale Probleme nicht über Mindestlöhne zu lösen, hier sei die Bildungspolitik der meistversprechende Ansatz.

Zuzustimmen ist ihm darin, dass er dem Gesetzgeber grundsätzlich freistellt, auch ein ökonomisch unvernünftiges Mittel anzuwenden, in diesem konkreten Fall die Ausweitung der Möglichkeiten zur Einführung von branchenspezifischen Mindestlöhnen über das Arbeitnehmerentsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungsgesetz. Tatsächlich würde die demokratische Willensbildung weitgehend obsolet, wenn man von ihr verlangen wollte, sich nur an ökonomischen „Gesetzen“ zu orientieren. Dennoch ist ökonomische Politikberatung selbstverständlich hilfreich für den politischen Willensbildungsprozess und sollte in diesen einfließen. Allerdings erfüllt sie diese Aufgabe nur dann zufriedenstellend, wenn ihre Argumente inhaltlich zutreffend sind. Leider bestehen mehrere Schwierigkeiten in Haucaps Argumentation, auf die ich hinweisen möchte.

Pro und Contra Mindestlöhne

Es gibt, zumindest im Ausland, eine lebhafte akademische Diskussion, ob Mindestlöhne Beschäftigung reduzieren oder nicht. Auf der Seite der Mindestlohngegner stehen diejenigen, die ihre Annahmen aufgrund des neoklassischen Theoriegebäudes treffen. Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, dass der Arbeitsmarkt im Prinzip wie ein beliebiger Gütermarkt funktioniert: Freie Lohnfindung sorgt für einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage. Arbeitslosigkeit existiert in diesem Modell nicht, oder sie ist freiwillig gewählt. Wird der freie Lohnfindungsprozess aber durch Mindestlöhne gestört, so entsteht zwangsläufig Arbeitslosigkeit.

Die Gegenposition wird von empirischen Arbeitsmarktforschern und heterodoxen Ökonomen vertreten. Mehrere ökonomische Argumente stützen dabei die These nicht vorhandener Beschäftigungsverluste: Erstens erhöht ein Mindestlohn die Einkommen im Niedriglohnbereich. Da gerade bei Haushalten mit geringem Einkommen die Konsumquote am höchsten ist, führt dies unmittelbar zu einer Steigerung der Binnennachfrage (siehe die Simulationsstudie von Klaus Bartsch Econometrics, PDF). Zudem lässt sich argumentieren, dass der Arbeitsmarkt eben kein perfekt funktionierender Markt ist, sondern dass es sich um einen imperfekten, monopsonistischen Arbeitsmarkt handelt. Das heißt, die wenigen Nachfrager nach Arbeitskräften befinden sich in einer stärkeren Position gegenüber der Vielzahl von Arbeitsuchenden. Schon Adam Smith hat in „Der Wohlstand der Nationen“ festgestellt:

„Die Unternehmer, der Zahl nach weniger, können sich viel leichter zusammenschließen. […] In allen Lohnkonflikten können zudem die Unternehmer viel länger durchhalten. […] Unter Unternehmern besteht immer und überall eine Art stillschweigendes, aber dauerhaftes und gleich bleibendes Einvernehmen, den Lohn nicht über den jeweils geltenden Satz zu erhöhen. […] Mitunter finden sich Unternehmer auch zusammen, um die Löhne sogar unter das bestehende Niveau zu senken.“

Dies ermöglicht es den Unternehmen, einen Lohn unterhalb dessen zu zahlen was „der Markt hergibt“ (Haucap). Dieser Effekt ist mit der Einführung des Arbeitslosengeld II politisch forciert worden, denn inzwischen verlangt §31 des SGB II von Erwerbslosen, unter Androhung des Leistungsentzuges, jedes Arbeitsangebot anzunehmen – bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit. Aus dieser Perspektive müsste ein marktgerechter Lohn erst durch einen Mindestlohn hergestellt werden.

Beschäftigungseffekte und soziale Gerechtigkeit

Letztendlich lassen sich Beschäftigungsverluste durch Mindestlöhne empirisch nicht nachweisen. Dies ist besonders gut für Großbritannien dokumentiert, wo die Einführung des National Minimum Wage 1999 aufwändig wissenschaftlich begleitet wurde. Die Ökonomen, die negative Effekte ausmachen, tun dies in der Regel nicht auf Basis empirischer Beobachtungen, sondern indem sie ökonometrische Berechnungen durchführen. Dabei legen sie die Vorannahme zugrunde, dass ein Mindestlohn Beschäftigung verhindert – einen Beleg für die Richtigkeit dieser Annahme kann das allerdings nicht liefern. Die Sorge über Beschäftigungsverluste durch Mindestlöhne ist also alles andere als wissenschaftlich sicher gestützt. Dass die deutsche Ökonomenzunft dies immer wieder anders darstellt, zeugt von einer gewissen Provinzialität der hiesigen Debatte. Ein Meinungskartell neoklassisch orientierter Ökonomen erschwert bisher einen fruchtbaren, offenen Wettbewerb um die wissenschaftlich zutreffende Einschätzung von Mindestlöhnen.

Aber auch die Frage, inwieweit Mindestlöhne zu sozialer Gerechtigkeit beitragen können, verdient Beachtung. Mitunter lesen sich die Argumente gegen Mindestlöhne so, als sähen die Befürworter sie als eine Lösung für alle sozialen Probleme an. Selbstverständlich sind sie das nicht, das hat aber auch niemand behauptet. Am meisten von Armut betroffen sind in Deutschland Alleinerziehende und vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene. Daran kann ein gesetzlicher Mindestlohn selbstverständlich wenig ändern, das ist Aufgabe der Familien- und Sozialpolitik. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass insbesondere im deutschen Sozialstaat eine enge Verknüpfung zwischen früherem Erwerbseinkommen und sozialstaatlichen Transferleistungen besteht. Daher kann ein Mindestlohn indirekt einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung von späterer Armut leisten, insbesondere im Rentenalter.

Grenzen der Bildungspolitik

Besonders fragwürdig ist aber die von Haucap und anderen vertretene Annahme, das Problem von Niedriglohnarbeit ließe sich über die Bildungspolitik lösen. Dies wird schon daran deutlich, dass der Niedriglohnsektor seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland stark angewachsen ist – dass das Bildungsniveau sich in diesem Zeitraum rapide verschlechtert hat, ist allerdings nicht bekannt. Vielmehr ist die Regulierung des Arbeitsmarktes durch die Tarifvertragsparteien in vielen Sektoren deutlich schwächer geworden. Probleme des Arbeitsmarktes müssen folglich auch auf diesem gelöst werden. Das soll die Notwendigkeit von Fortschritten im Bildungsbereich nicht relativieren, vor illusionären Erwartungen an diese ist aber zu warnen. Entgegen gängiger Klischees besteht der Niedriglohnsektor keineswegs nur aus formal gering Qualifizierten. Zwar sinkt das Risiko, mit einem Niedriglohn beschäftigt zu werden tatsächlich mit steigendem Bildungsabschluss, dennoch verfügen drei Viertel aller Niedriglöhnerinnen – Frauen sind deutlich öfter betroffen – und Niedriglöhner über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen Hochschulabschluss (IAQ-Report).

Haucaps Argumentation geht im weiteren Verlauf dahin, dass sich über eine Anhebung der Lohneinkommen im Niedriglohnbereich das Haushaltseinkommen nicht oder nur geringfügig erhöhen ließe, da ja schon jetzt bei Bedarf ergänzend Arbeitslosengeld II bezogen werden kann. Der Bezug würde sich aber entsprechend des höheren Entgelts reduzieren. Dieser Hinweis ist sachlich richtig, er übersieht aber mehrere wesentliche Probleme:

  1. Es ist keineswegs sicher, dass ein bestehender Anspruch auf aufstockendes Arbeitslosengeld II auch tatsächlich wahrgenommen wird – entweder aus Unwissenheit, oder um nicht als Bittsteller zu gelten, oder um den hohen bürokratischen Aufwand zu vermeiden.

  2. Für den oder die Einzelnen macht es einen wesentlichen Unterschied, ob ein existenzsicherndes Einkommen aus Erwerbstätigkeit resultiert, oder ob man trotz (Vollzeit)beschäftigung zusätzlich Arbeitslosengeld II wahrnehmen muss. Dies erfordert schließlich die Offenlegung und Anrechnung von Einkommen und Vermögen, nicht nur des Antragstellers, sondern der ganzen „Bedarfsgemeinschaft“. In einer Lohnarbeitsgesellschaft wird über das Entgelt nicht nur ein Einkommen vermittelt, sondern auch Anerkennung – oder in immer mehr Fällen eben auch Geringschätzung.

  3. Mit dem Arbeitslosengeld II besteht faktisch ein flächendeckender Kombilohn. Das heißt, der Staat wendet immense Haushaltsmittel auf, um Niedriglohnarbeit zu subventionieren. Erstens stellt sich die Frage, ob diese Mittel nicht sinnvoller eingesetzt werden könnten, zum Beispiel für Bildungs- und Familienpolitik. Zweitens wäre zu fragen, ob diese massive Verzerrung des Wettbewerbs durch die indirekte Subventionierung der Unternehmen, die Niedriglöhne zahlen einer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung förderlich ist. Schließlich werden so einseitig diejenigen Unternehmen gefördert, die im Wettbewerb auf Güter- und Dienstleistungsmärkten über den Lohn konkurrieren.

Mindestlöhne in der EU

Der Vergleich zeigt, dass Deutschland mit einem Niedriglohnsektor, der von etwa 15% aller Beschäftigten Mitte der 1990er Jahre auf inzwischen 22% angewachsen ist, diesbezüglich in der ersten Liga spielt. Die im klassischen Niedriglohnland USA erreichten 25% sind nicht mehr weit entfernt, die kontinentaleuropäischen Länder hat Deutschland bereits allesamt hinter sich gelassen. Die Ursache hierfür ist, dass Deutschland – neben Zypern das einzige Land der EU ist, das auf eine funktionierende Lohnuntergrenze verzichtet.

In 20 der 27 EU-Staaten existieren laut WSI-Mindestlohnbericht gesetzliche Mindestlöhne. In den wenigen Ländern, in denen das nicht der Fall ist, besteht ein funktionales Äquivalent wie die Pflichtmitgliedschaft der Arbeitgeber in den Wirtschaftskammern in Österreich oder das flächendeckende Tarifvertragssystem in den skandinavischen Ländern. Nach langer Diskussion haben die DGB-Gewerkschaften anerkennen müssen, dass sie mit den klassischen Mitteln der Tarifpolitik in einigen Branchen kein existenzsicherndes Einkommen mehr gewährleisten können.

Das hohe Lied der Tarifautonomie ist dann wenig wert, wenn es, wie von Haucap, gerade auf diejenigen Sektoren angestimmt wird, in denen sie offensichtlich nicht mehr zufriedenstellend funktioniert. Nur ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, ergänzt durch branchenspezifische Regelungen, kann hier noch für Abhilfe sorgen.

Wachstumsbremse Niedriglöhne

In erster Linie ist Niedriglohnarbeit ein Problem für die Betroffenen, aber sie ist inzwischen auch zum Hemmschuh für die ökonomische Entwicklung Deutschlands und Europas geworden. Die unzureichende Regulierung des Niedriglohnsektors dürfte eine wesentliche Ursache dafür sein, dass die Lohnentwicklung in Deutschland schon lange nicht mehr mit dem Produktivitätswachstum mithält. Nur in Deutschland und Spanien sind die Reallöhne in den letzten Jahren gesunken, gleichzeitig ist das Wirtschaftswachstum in Deutschland besonders schwach ausgefallen. Das ist kein Zufall – das eine bedingt das andere: Eine stagnierende Binnennachfrage hemmt das Wirtschaftswachstum und macht es durch seine Exportorientierung in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise besonders anfällig.

Andererseits setzen die deutschen Dumpinglöhne zunehmend auch die Beschäftigten in den europäischen Nachbarstaaten unter Druck, so dass inzwischen eine europaweite deflationäre Abwärtsspirale aus sinkenden Löhnen, fallenden Preisen, zurückgehender Nachfrage und steigender Erwerbslosigkeit droht. Die neue Koalition aus CDU, CSU und FDP würde gut daran tun, ihre in Sachen Mindestlohn bisher zurückhaltende bis feindselige Position weiterzuentwickeln. Vier weitere Jahre des Politikversagens können wir uns nicht leisten.

Roman George ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg.

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