#Mindestlohn

Mindestlöhne und die Privatisierung der sozialen Gerechtigkeit

von , 31.10.08

In den Wirren der Finanzmarktkrisen geht fast unter, dass wir in Deutschland momentan auf einem ganz anderen Markt vor einer fundamentalen Weichenstellung stehen: Auf dem Arbeitsmarkt. In der Beschlussfassung sind im Bundestag dieser Tage die Neufassungen des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. In beiden Gesetzen geht es um die Festsetzung staatlicher Mindestlöhne durch Rechtsverordnungen.

Ich darf heute (Montag, 3.11.2008) als Sachverständiger im Bundestag (Ausschuss für Arbeit und Soziales) dazu Stellung nehmen. Diese Ausführungen beruhen auf meiner schriftlichen Stellungnahme. (Ich habe mich in dieser Form – der Ordnung halber sei darauf hingewiesen – auch bei www.wirtschaftlichefreiheit.de dazu geäußert). Was also ist von den Gesetzesvorhaben zu halten?

Mindestlöhne bergen stets die Gefahr zusätzlicher Arbeitslosigkeit. Es gibt zwar einzelne Studien, die zeigen, dass dies nicht in jedem Fall so sein muss (berühmt ist insbesondere die Studie zu Burger-Flippern in den USA von Card und Krueger aus dem Jahr 1994). Die Mehrheit der Studien belegt aber, dass die Beschäftigung tendenziell zurückgeht, vor allem je höher der Mindestlohn ist.

Die negativen Beschäftigungseffekte allein bedeuten jedoch nicht, dass ein staatlicher Mindestlohn sofort zu verwerfen wäre. Politisch mag man sich ja durchaus für einen Mindestlohn entscheiden, auch wenn er zu einer höheren Arbeitslosigkeit führt. Denn dem Mehr an Arbeitslosigkeit steht ja ggf. ein zusätzliches Einkommen der Arbeitnehmer und Arbeit­nehmerinnen gegenüber, welche zum Mindestlohn beschäftigt werden und ansonsten einen geringeren Lohn bezogen hätten. Problematisch ist allerdings, dass auch letzteres keineswegs sicher ist, da zumeist staatliche Transfers entfallen, wenn das Arbeitseinkommen steigt. In diesem Fall ergibt sich höchstens ein positiver Effekt für die öffentlichen Haushalte, da die staatlichen Transferleistungen sinken. Das verfügbare Einkommen für die betroffenen Haushalte steigt dann aber kaum. Die ökonomische Literatur belegt, dass sich Armut mit einem Mindestlohn nur schwer bekämpfen lässt, weil dieser einfach nicht am Haushaltseinkommen ansetzt.

Die Abwägung zwischen mehr Arbeitslosigkeit einerseits und möglicherweise mehr Einkommen der zum Mindestlohn (weiterhin) Beschäftigten bzw. einer geringeren Belastung der öffentlichen Haushalte (aufgrund sinkender Transferleistungen) andererseits ist dann eine politische bzw. ethische Entscheidung. Aus Sicht des Finanzministers kann ein Mindestlohn deshalb jedoch sehr attraktiv sein: Er entlastet ggf. die öffentlichen Kassen aufgrund sinkender Sozialtransfers, selbst wenn er den Betroffenen kaum hilft, weil er deren Einkommen netto kaum erhöht.

Im Grunde ist jedoch der ganze Versuch verfehlt, über Mindestlöhne soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Es ist richtig, dass Markt und Wettbewerb nicht für umfassende soziale Gerechtigkeit sorgen können. Das Schaffen sozialer Gerechtigkeit ist daher eine Aufgabe des Staates. Dies kann durch Transfers geschehen oder, besser noch, durch die Schaffung gleicher Bildungschancen und ein gutes Bildungssystem. Durch das Setzen staatlicher Mindestlöhne soll nun aber gerade dem Markt eine Aufgabe übertragen werden, welche er nicht lösen kann. Unternehmen sollen Arbeitnehmern mehr zahlen als „der Markt hergibt“. Da bleibt das ungute Gefühl, der Staat versuche sich hier der Verantwortung zu entziehen, durch Bildungsmöglichkeiten, Transferzahlungen, etc. selbst für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit wird gewissermaßen privatisiert. Unternehmen sollen nun für soziale Gerechtigkeit sorgen, die der Staat anscheinend nicht mehr schaffen kann oder will.

Die beiden vorgesehenen Gesetze weisen jedoch neben diesen allgemeinen Erwägungen eine ganze Reihe von Schwächen auf. Ich habe in meiner schriftlichen Stellungnahme zur Expertenanhörung im Bundestag hingewiesen, will diese aber auch hier kurz ausführen.

Branchenspezifische Mindestlöhne, so wie sie in Deutschland durch die beiden Gesetzesnovellierungen vorgesehen sind, bergen die zusätzliche Gefahr, dass der Wettbewerb auf den betroffenen Produktmärkten ausgehebelt wird, wie im Fall des Mindestlohnes im Postbereich klar zu erkennen war. Die Monopolkommission hat dies in ihrem 51. Sondergutachten vom Dezember 2007 deutlich herausgearbeitet. Leidtragende sind hier neben den vom Markt verdrängten Wettbewerbern vor allem die Verbraucher, welche die Konsequenzen letztlich in Form höherer Preise und geringerer Auswahl zu tragen haben.

Die Gefahr ist somit, wie der Fall des Mindestlohnes bei der Post besonders eindrucksvoll belegt, dass Mindestlöhne strategisch genutzt werden, um den Wettbewerb auf den Produktmärkten auszubremsen. Natürlich mag man argumentieren, dass die PIN Group und andere ggf. auch ohne Mindestlohn nicht konkurrenzfähig gewesen wären. Unstrittig ist jedoch, dass der Aktienkurs der Deutschen Post AG nach dem Beschluss des Post-Mindestlohnes einen kräftigen Sprung nach oben gemacht hat, d.h. der Markt hat als Reaktion auf den Mindestlohn steigende Gewinne der Deutschen Post AG (bzw. einen geringeren Wettbewerbsdruck) erwartet.

An der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt vorbei geht zudem auch, dass es im Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen nicht mehr nur um eine absolute Untergrenze für den Lohn, sondern um mehr oder minder umfangreiche staatliche Lohngitter bzw. Quasi-Tarifverträge geht. Vielmehr wird in §4 Abs. 4 die Möglichkeit eröffnet, Mindestlöhne nach Art der Tätigkeit, Qualifikation der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und nach Regionen zu differenzieren.

Gerade weil die Gefahr der strategischen Manipulation insbesondere bei branchenspezifischen Mindestlöhnen besteht, hat die Monopolkommission sich im Dezember 2007 auch dafür ausgesprochen, dem Bundeskartellamt als Anwalt des Wettbewerbs und damit auch der Verbraucher wenigstens ein Anhörungsrecht bei der Festlegung branchenspezifischer Mindestlöhne einzuräumen. Ansonsten werden die Verbraucher systematisch bei der Festlegung von Mindestlöhnen ausgeschlossen, obwohl die Nachfrager systematisch durch die resultierenden Preiseffekte von Mindestlöhnen betroffen sind. Ökonomisch gesprochen besteht hier die Gefahr, dass Verträge zu Lasten Dritter geschlossen werden. Es ist nicht ersichtlich, warum nicht wenigstens ein Anhörungsrecht eingeräumt werden kann, sodass auf die eklatantesten Fehlentwicklungen wirksam hingewiesen werden könnte.

Insbesondere die Differenzierung nach Art der Tätigkeit und nach Qualifikation der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen macht deutlich, dass es nicht mehr nur allein um ein absolut notwendiges Einkommensminimum geht. Es ist jedenfalls als Ökonom nicht leicht verständlich, warum für einen qualifizierten Arbeitnehmer, wie einen Facharbeiter oder einen Akademiker, aus sozialen Gründen ein höherer Mindestlohn notwendig ist als für einen ungelernten Arbeitnehmer. Anders ausgedrückt ist zu fragen, warum ein ungelernter Arbeitnehmer mit einem geringeren Lohn auskommen soll als ein höher qualifizierter, wenn der Arbeitsmarkt in keinem der beiden Fälle einen höheren Lohn „hergibt“.

In Europa wäre es daher auch einzigartig, wenn neben dem gesetzlichen Mindestlohn für die unterste Qualifikationsstufe eine Ausdifferenzierung des staatlichen Mindestlohnes nach Qualifikation der Arbeitnehmer o.ä. vorgenommen würde. Genau dies soll jedoch in Deutschland ermöglicht werden, sodass von staatlicher Seite Quasi-Tarifverträge geschaffen werden. Die staatliche Tariffestlegung tritt dann in direkte Konkurrenz zu privaten Tarifverhandlungen. Die Verhandlungsmacht der Tarifparteien wird dadurch verändert, dass es als Rückfallposition nun die staatliche Lohnfestlegung gibt. Dies vermindert auch die Anreize, überhaupt zu Tarifabschlüssen zu gelangen. Es besteht die Gefahr, dass die Tarifbindung noch weiter als bisher zurückgehen wird und es zu einer schleichenden Aushöhlung der Tarifautonomie kommen wird. Im schlimmsten Fall ist die im Gesetzesentwurf vorgesehene Klausel der Einstieg in den umfassenden Ausstieg aus der Tarifautonomie und der Beginn zunehmender staatlicher Lohnfestlegungen.

Mit einer sinkenden Notwendigkeit, Tarifverträge auszuhandeln, sinkt auch die Notwendigkeit bzw. der Anreiz sich in einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband zu organisieren. Warum soll jemand noch Mitglied einer Gewerkschaft werden, wenn nicht die Gewerkschaft, sondern der Staat für die angemessene Entlohnung sorgt? Der Organisationsgrad dürfte daher in Folge weiter zurückgehen. Dies wiederum würde die Gewerkschaften weiter schwächen und eine staatliche Lohnfestlegung noch notwendiger erscheinen lassen. Dies ist der Beginn einer Abwärtsspirale, an deren Ende auch das Ende der Tarifautonomie stehen wird.

Verstärkt wird dieser Effekt durch den vorgesehenen Vorrang der Rechtsverordnungen über Mindestentgelte gegenüber tarifvertraglichen Regeln, welche als für den einzelnen „ungünstiger“ angesehen werden. Dies führt de facto zu einer Marktabschottung des „Gewerkschaftsmarktes“, d.h. die Konkurrenz um die kollektive Vertretung von Arbeitnehmerinteressen wird ausgebremst. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der restriktiven Auslegung des Günstigkeitsprinzips durch die Gerichte, die auch der Sachverständigenrat z.B. 2001 und 2002 kritisiert hat. Problematisch ist in diesem Kontext auch, dass die Konkurrenz alternativer Entlohnungssysteme beschnitten wird. Wie z.B. sollen Gewinnbeteiligungen oder Leistungsanreize mit Stundenlöhnen verglichen werden?

Alternative Gewerkschaften, wie der Christliche Gewerkschaftsbund, drohen durch den Vorrang von Rechtsverordnungen gegenüber Tarifverträgen vom Markt für die kollektive Vertretung von Arbeitnehmerinteressen verdrängt zu werden. Dies wiederum dürfte sich negativ auf den gewerkschaftlichen Organisationsgrad insgesamt auswirken und die Talfahrt auf der oben beschriebenen Abwärtsspirale noch beschleunigen.

Der Vorrang von Rechtsverordnungen über Mindestentgelte dürfte auch kaum mit dem expliziten Ziel des Gesetzes vereinbar sein, die Tarifautonomie mit ihren Elementen der positiven und der negativen Koalitionsfreiheit zu stärken. Es ist zu befürchten, dass das Gegenteil des Gewünschten eintritt und tarifvertragliche Regelungen weiter zurückgedrängt werden zu Gunsten staatlicher Tariffestlegungen.

Was das Arbeitnehmer-Entsendegesetz angeht, so ist doch auffällig, dass in dem nach Beschäftigtenzahl größeren Teil der Branchen, die bis zum 31.3.2008 eine Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz beantragt haben, keine größere Entsendeproblematik bekannt ist. Dies gilt für die Zeitarbeit, das Wach- und Sicherheitsgewerbe, die Entsorgungswirtschaft und die außerbetriebliche Weiterbildung (zusammen über 1 Mio. Beschäftigte). In den vier anderen Branchen (Altenpflege, Forstdienstleistungen, Textilreinigung und Bergbauspezialarbeiten (insgesamt etwa 300 000 Beschäftigte) könnte teilweise eine Entsendeproblematik bestehen. Doch ist auch diese nicht hinreichend belegt, um von sozialen Verwerfungen zu sprechen, die das Gesetz eigentlich fordert.

In einigen dieser Branchen besteht jedoch eine rege Tarifkonkurrenz. Als Wettbewerbsökonom drängt sich der Verdacht auf, dass es darum gehen könnte, diese Tarifkonkurrenz zu unterbinden und eine „Entmonopolisierung“ des Gewerkschaftsmarktes zu verhindern. Diese Wirkung wird sich in jedem Fall auch dadurch entfalten, dass der Größe bzw. Mitgliederzahl der Gewerkschaft (welche unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fällt) ein besonderer Stellenwert beigemessen werden soll. Somit droht die Gefahr, dass kleinere Gewerkschaften systematisch von den größeren verdrängt werden. Die Neugründung und Etablierung von (tariffähigen) Gewerkschaften in Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften dürfte damit erheblich erschwert werden.

Alles in allem bahnt sich hier eine unheilige Allianz an: Die Arbeitgeber möchten den Wettbewerb auf den Produktmärkten ausbremsen, die DGB-Gewerkschaften wollen die entstehende Tarifkonkurrenz auf dem “Markt” für die kollektive Vertreung von Arbeitnehmerinteressen unterbinden und der Staat möchte die öffentlichen Kassen entlasten sowie die Sozialtransfers zurückfahren. Leidtragende werden zunächst Arbeitslose und Verbraucher sein. Langfristig droht jedoch die besagte Tarifautonomie ausgehebelt zu werden. Dies kann auch nicht im Interesse der etablierten Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände sein.

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