#Europawahl

Die europäische Gesellschaft ist bereit für die Europäische Republik

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Zurück zum Nationalstaat oder vorwärts zum Weltstaat. Zurück zur ethnischen Demokratie oder vorwärts zum Weltparlament, zur Weltbürgergemeinschaft, zum Globalen Realismus.

von , 14.4.19

Die Europawahl rückt näher. In weniger als zwei Monaten sind rund 400 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, ein neues EU-Parlament zu wählen. In vielen Ländern sieht es derzeit nach einem Triumph der Rechtsradikalen aus. Eine vom Theatermacher Milo Rau gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und dem Schriftsteller Robert Menasse gestartete Initiative setzt sich demgegenüber für die Schaffung einer europäischen Republik ein. Wir dokumentieren einen Auszug aus Milo Raus Eröffnungsrede zum »European Balcony Project« am 20. November 2018 im belgischen Gent.


Als die deutsch-französische Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der österreichische Autor Robert Menasse mich vergangenes Frühjahr angefragt haben, ob ich mit ihnen an einem Manifest für eine Europäische Republik arbeiten will, habe ich sofort zugesagt, denn ich und das IIPM arbeiten seit vielen Jahren an dem, was man symbolische transnationale Institutionen nennen könnte. Als Beispiele seien genannt das »Kongo Tribunal«, ein Weltwirtschaftsgerichtshof, der im Jahr 2015 zum ersten Mal tagte und zur Entlassung zweier Minister führte, und die »General Assembly«, der Entwurf eines überparteilichen, zivilgesellschaftlichen Weltparlaments, das wir in Berlin vor genau einem Jahr gründeten und nächstes Jahr in Brasilien weiterführen werden. Die Frage all dieser Institutionen lautet: Wie können wir eine globale Zivilgesellschaft auf Augenhöhe der Weltwirtschaft realisieren? Wie können wir uns der Macht der Konzerne und der mit ihnen zusammenarbeitenden transnationalen Institutionen, etwa der Weltbank, entgegenstellen? Denn die Europäische Republik, die wir heute proklamieren, also der Versuch einer Demokratisierung der europäischen Institutionen von unten, ist ja nur ein erster Schritt auf dem Weg zur globalen Demokratie.

Unser Ziel ist simpel: Dass sich, wie im Manifest gefordert, der Europäische Rat abschafft, ebenso die Nationalstaaten, und die komplette gesetzgeberische Gewalt an das Europäische Parlament übergeht. »An die Stelle der Souveränität der Staaten tritt hiermit die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft. Die konstitutionellen Träger der europäischen Republik sind die Städte und Regionen. Der Tag ist gekommen, dass sich die kulturelle Vielfalt Europas endlich in politischer Einheit entfaltet«, heißt es im Manifest. Sie fragen sich vielleicht: Was soll das bringen? Warum der Vorschlag für ein weiteres, elitäres und pseudoliberales Luftgebilde der immer gleichen intellektuellen Eliten – Etienne Balibar, Saskia Sassen, Elfriede Jelinek, Srecko Horvath, David Van Reybrouck, und wie sie alle heißen, die unser Manifest mitunterzeichnet haben.

Die Antwort ist einfach: Weil es keinen Grund gibt, das aktuelle europäische Experiment in der Weise weiterzuführen, wie es sich in der Form der EU und seiner Institutionen verfestigt hat. Das europäische Parlament, eigentlich das gesetzgebende Organ, hat den Kontakt sowohl zu den Bürgerinnen und Bürgern wie auch zu den exekutiven Institutionen verloren. Europa ist zur Geisel der wirtschaftlich starken Nationen, des von ihnen dominierten Europäischen Rats und der verschiedenen Lobbygruppen der nationalen Regierungen und der multinationalen Unternehmen geworden. Die Macht des europäischen Parlaments entspricht in etwa der Macht des spanischen oder englischen Königshauses. Mit anderen Worten: die Demokratie wurde in Europa nicht offiziell abgeschafft, sie wurde gar nie erst eingeführt. Sie besteht nur dem Namen nach.

Warum aber eine solche Deklaration? Ist das nicht nur, wie mich ein Journalist gestern fragte, »ohnmächtige Symbolpolitik«? Natürlich, es ist Symbolpolitik, aber ist sie zwangsläufig ohnmächtig? Ich engagiere mich, als Künstler und Bürger, so wie Sie auch, in allen möglichen Grassroot-Organisationen. Die Ausrufung der Europäischen Republik findet ja nicht zusammenhangslos statt, sondern ist verbunden mit diversen Aktionen und Gipfeltreffen, die sich der konkreten Ausgestaltung einer postkapitalistischen, alternativen Flüchtlings-, Kultur- und Wirtschaftspolitik in allen möglichen Ländern Europas widmen. Es ist aber auch wichtig, über die Superstrukturen eines zukünftigen Europas nachzudenken. Denn dies geht ja im zivilgesellschaftlichen Aktivismus oft vergessen: dass staatliche Macht, parlamentarische Entscheidungsgewalt nicht ganz unwichtig sind. Dass sie, symbolisch und dann auch real, erobert werden muss.

Das Europa der Nationalstaaten ist gescheitert, heißt es im Manifest. Das nationalstaatliche Konzept stammt, wie Sie wissen, aus dem 19. Jahrhundert, und für jenes Zeitalter war es ein integratives Modell, eine politische und imaginäre Struktur, in der sich die Demokratie und die Idee der Solidarität entwickeln konnten. Wer in einem bestimmten Land geboren wurde, dem kamen automatisch bestimmte Rechte und Pflichten zu, eine charmante und egalitäre Idee, zugeschnitten auf die Probleme einer vergangenen Zeit. Im 19. Jahrhundert hatte der normale Bürger vielleicht einen Einflussradius von 50 Kilometern, und Europa war ein Kontinent der Auswanderung, nicht der Einwanderung. Was jedoch aktuelle Probleme angeht – die völlig chaotische Flüchtlingspolitik, Fragen der globalen Informationspolitik und Grundversorgung – so übersteigen diese Dinge die Verfügungsgewalt von Nationalstaaten, vom Klimawandel sowieso zu schweigen: Dem Klima sind Grenzen egal. Wenn Holland oder Zypern in den Fluten verschwinden wegen der deutschen oder französischen CO2-Emissionen, dann macht ein Reden über »Nationen« wenig Sinn. Allen globalen Problemen – der Wirtschaft, der Migration, dem Klima – ist nationale Souveränität völlig egal. Sie ist sogar hinderlich: Wie Sie wissen, besteht die sogenannte Flüchtlingskrise besteht mehr oder weniger darin, dass die verschiedenen europäischen Staaten keine orchestrierte Politik betreiben, denn die absoluten Zahlen sind ein Witz.

Natürlich werden Sie jetzt sagen: »Europäische Republik«, schön und gut. Aber wer ist dieses Europa, wer sind seine Bürgerinnen? Der für mich wichtigste Satz des Manifests lautet: »Europäer ist, wer es sein will«. Das ist ein besonderes, vielleicht das zentrale Anliegen dieses Projekts: Europa zu entteritorialisieren, es zu globalisieren, denn sonst ist es ja nur eine größere Version des Nationalstaatsgedankens. Denn noch einmal: dem Klima oder der Weltwirtschaft ist nicht nur Deutschland, Griechenland, England, sondern auch Europa egal. Diese Grenzen gibt es gar nicht aus globaler Perspektive, und an einer Europäischen Republik als demokratisches Sahnehäubchen für eine imperiale Abschottungspolitik bin ich nicht interessiert. Wenn wegen europäischer Emissionen ein nordafrikanischer Staat unbewohnbar wird, wenn wegen unserer Handelspolitik der Kongo ins Chaos stürzt – was macht es dann für einen Sinn, sich die im Manifest genannten »Gründungsideen des europäischen Einigungsprojekts« zu erinnern, wenn sie exklusiv gedacht sind? Das wäre bloß eine neue Form von Feudalismus, gegen den sich das Projekt einer Europäischen Republik als universalistische Utopie wendet.

Kurzum, das Manifest für eine Europäische Republik ist ein Aufruf, sich klar zu machen, welche Politik wir in Europa wollen, um die anstehenden Probleme zu lösen, von Flüchtlings- über Gesundheits- bis Informations-, Kultur- und Klimapolitik. Die Ausrufung der Europäischen Republik bedeutet nicht, dass die Institutionen um ihrer selbst willen erobert werden sollen – sondern um jenen Praktiken der Hoffnung Macht zu verleihen, die wir hier diskutieren und die diese Institutionen erst mit Sinn erfüllen werden. Vor etwas mehr als 100 Jahren ging in Europa der Erste Weltkrieg zu Ende, und in verschiedenen europäischen Ländern wurde die Republik ausgerufen. Die entsprechenden Länder hatten gerade einen fünfjährigen Krieg hinter sich, sie litten unter Hunger, sie kannten nichts als Königreiche und Militärdiktaturen, und wie Sie wissen, endete die Ausrufung der revolutionären Demokratie in fast allen Ländern in einem Blutbad und einem bürgerlichen Konsens aus Großkapital und Parlamentarismus, der direkt in den Faschismus führte.

Im Vergleich dazu erscheint die Ausrufung der Europäischen Republik, wie wir sie heute vorhaben, sehr viel hoffnungsvoller. Die europäische Zivilgesellschaft ist, im Gegensatz zu 1918, bereit dafür, die Macht wieder in ihre eigenen Hände zu nehmen. Aber ist die Ausrufung einer Europäischen Republik, wäre eine Europäische Republik, selbst wenn sie umgehend Wirklichkeit würde, die Lösung aller Probleme? Nein, aber sie ist ein unumgehbarer Beitrag. Der Grund, warum jede Debatte um gesellschaftliche Fragen von so viel Verwirrung umgeben ist, lässt sich darauf zurückführen, dass Menschen verschiedene Ursachen für ein Problem (oder verschiedene Ansätze für deren Lösung) stets für Alternativen halten und nicht für Faktoren, die alle gleichzeitig wirksam sind. Mit anderen Worten: Natürlich wird die Aneignung der staatlichen Macht durch die Zivilgesellschaft, wie sie heute in Europa von 200 Balkonen herab symbolisch durch die Ausrufung einer Europäischen Republik vollzogen wird, nicht dazu führen, dass sich der europäische Rat auflösen wird, dass Neuwahlen stattfinden und die multinationalen Firmen verstaatlicht werden, dass ein neugewähltes Parlament sich sofort an die Ausarbeitung eines europäischen Solidarpakts machen wird undsoweiter. Und auch wenn das der Fall wäre: Der Staat hat, wie Hannah Arendt so schön sagt, keine Macht, er verfügt, wenn überhaupt, nur über Gewaltmittel. Macht hat nur die Zivilgesellschaft, sie liegt in der realen, solidarischen Praxis der Bürgerinnen und Bürger untereinander. Die Macht liegt in unseren Händen.

Die Frage lautet also: Wie können diese Praktiken – ob sie nun Flüchtlings- oder Gesundheitspolitik betreffen – institutionell verankert werden? Vor einiger Zeit waren wir vom IIPM in Süditalien und im Libanon, und wir debattierten mit Bauern, Flüchtlingen, Priestern, Künstlern und Aktivisten wie heute hier über die Arbeit, die nun zu tun ist: das Schaffen »symbolischer Institutionen«, alternativer Gerichtshöfe, alternativer Parlamente und Bewegungen – von Institutionen der Zukunft, in denen die Kunst und die Zivilgesellschaft das schaffen, wozu die sogenannt Realpolitik nicht mehr fähig ist. Denn bekanntlich ist das erste Argument des Zynikers gegen das utopische Handeln, es sei nicht »realistisch«. Man muss jedoch kein Philosoph sein, um zu verstehen, dass es so etwas wie »realistisches« Denken und Handeln gar nicht gibt. Das französische Parlament war die Erfindung einiger Anwälte und Politiker aus der Provinz, so wie der internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Der belgische Staat wurde geschaffen aus dem Nichts, und das gilt bekanntlich für alle Staaten und alle staatlichen Institutionen: Sie basieren auf der Übereinkunft ihrer Bürgerinnen und Bürger, ein gemeinsames Schicksal zu teilen.

Realität entsteht aus der Utopie, und deshalb kann heute schon alles anders werden. Doch diese utopischen Institutionen sind kein Ort, an dem die Widersprüche sich in Konsens auflösen. Sie sind Orte, an dem wir mit den Widersprüchen unserer Zeit in aller Härte konfrontiert werden. An dem wir klüger denken, klarer handeln und die Antagonismen aushalten lernen, die uns selbst und unsere Welt zerreißen. Gestern sagte mir ein Journalist: »Milo, du setzt dich für offene Grenzen ein, aber der Sozialstaat ist doch nur möglich mit geschlossenen Grenzen.« Und als ich mich vor einigen Wochen mit dem Führer der sozialistischen Partei Flanders traf, um mich auf eine Debatte mit dem berüchtigten Staatsminister für Migration Theo Francken vorzubereiten, war ich überrascht: Er verteidigte sich gegen den »Vorwurf«, er sei für offene Grenzen und sang mir das Lob von Auffanglagern in Nordafrika.

Aber von »offenen« und »geschlossenen« Grenzen zu sprechen, das kommt mir vor wie ein Kind, das die Augen schließt und denkt, es sei dunkel und einschläft. Die Menschen werden kommen, in den nächsten 50 Jahren werden sich Millionen auf den Weg machen. Wir müssen deshalb keine Zeit mehr verlieren, sondern uns entscheiden, wie wir damit umgehen wollen. Die Polemik gegen »offene Grenzen« ist im besten Fall irrational, im schlechtesten Fall zynisch: So etwas wie »offene« oder »geschlossene Grenzen« gibt es gar nicht, es gibt nur eine legale, geordnete, menschliche Migrations- und Wirtschaftspolitik, eine Politik der Partnerschaft – und eine Politik der Illegalisierung, eine Politik der Ausbeutung und der ertrinkenden Menschen. Die europäische Krise ist eine Bewusstseins- und Organisationskrise, es ist eine Krise des demokratischen Bewusstseins. Warum sollen Waren, Informationen, Touristen reisen können, nur Menschen nicht? Warum beuten wir ganze Weltregionen aus und wundern uns dann, wenn die Menschen zu uns kommen? Nationaler Isolationismus ist im Zeitalter des Klimawandels und der Massenmigration noch gefährlicher als im Zeitalter des Atomkriegs. Wir müssen endlich globale Antworten finden für globale Fragen, oder wir werden in Kriegen versinken.

Denn wir stehen, ob es uns gefällt oder nicht, am Steuer eines brennenden Schiffes. Wir brauchen neue Praktiken, neue Denkweisen, eine neue Gerechtigkeit, eine neue politische Empfindsamkeit und eine neue globale Intelligenz. Und deshalb: Wir brauchen eine Europäische Republik. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Zurück zum Nationalstaat oder vorwärts zum Weltstaat. Zurück zur ethnischen Demokratie oder vorwärts zum Weltparlament, zur Weltbürgergemeinschaft, zum Globalen Realismus. Wer eine europäische Republik fordert, fordert politische, soziale und ökonomische Rechte für alle Menschen dieser Welt. Nur eine globale Zivilgesellschaft kann die dringend notwendigen politischen Entscheidungen treffen in Hinblick auf den Klimawandel und die ökonomischen Entwicklungen, so unvollkommen ihre Organisationsformen auch sein mögen. Wie Bruno Latour in seinem »Terrestrischen Manifest« schreibt: »Wo beginnen?« Lasst uns vor unserer Haustür, in unserer Stadt, unserer Region beginnen. Lasst uns in Europa beginnen. 

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