von Leonard Novy, 17.7.15
Brutal auf dem falschen Fuß erwischt – so wirkte Angela Merkel, als sie in Rostock mit rund 30 Schülerinnen und Schülern über gutes Leben diskutierte. Denn darunter fand sich auch Reem, eine 13-jährige aus dem Libanon geflohene Palästinenserin, die die Kanzlerin mit den Folgen der EU-Flüchtlingspolitik konfrontierte. Das Video (von dem es auch eine ungeschnittene Fassung gibt) hat seit Mittwoch zunächst national einen Sturm der Entrüstung sowie die üblichen Debatten über digitale Empörungsspiralen ausgelöst und dann, leicht verzögert, international für reichlich Resonanz gesorgt.
Zu sehen wie Merkel die Situation entgleitet, wie sie um Worte ringt und stets die falschen findet, wie sie alles nur noch schlimmer macht, als sie das irgendwann weinende Mädchen mit den noch fälscheren Worten zu tätscheln beginnt, ist von ähnlich schauriger Faszination wie ein Crash im sicherheitstechnisch hochgerüsteten Formel 1-Zirkus. Hier wie auch in den sorgsam inszenierten Bürgerdialogen der Bundesregierung sind Unfälle eigentlich nicht vorgesehen.
„Deshalb möchte ich sie trotzdem einmal streicheln (…), weil du es ja auch schwer hast und weil Du ganz toll aber dargestellt hast für viele, viele andere, in … welche Situationen man kommen kann. Ja?!“ (Angela Merkel)
Merkel würde sich nie zu so einer verzweifelt anbiedernden und im Kern willkürlichen Geste hinreißen lassen wie Edmund Stoiber. Der traf 2002 als damaliger CDU/CSU-Kanzlerkandidat in einer RTL-Wahlkampfsendung mit Bürgerbeteiligung auf einen verzweifelten Arbeitslosen. Nachdem er es eine zeitlang mit einer Art bajuwarischem „I feel your pain“ (wie Clinton, nur ohne das Schauspieltalent) versucht hatte, kam Stoiber schließlich auf die grandiose Idee, seinem bayerischen Landsmann in der Pose eines Feudalfürsten anzubieten, sich mal nach einem Job umzuhören. Trotzdem bleibt ein schaler Nachgeschmack von dem Merkel-Event mit handverlesenen Schülern und dem hehren Ziel, Politikdistanz zu überwinden. Nicht komplett gefühllos, wie es die Reaktionen auf Twitter vermuten ließen, aber seltsam unbeholfen und taktlos wirkte der Auftritt der Kanzlerin,, „als spreche sie mit einem Funktionär“ (Süddeutsche Zeitung). „Politik ist manchmal hart“, sagt sie zu Reem. „Es werden manche wieder zurückgehen müssen.“„Und die einzige Antwort, die wir haben, ist: Bloß nicht, dass es so lange dauert“.
Eine Szene, die sich versenden wird und von der nicht einmal klar ist, ob sie Merkel auch nur kurzfristig Sympathiepunkte kostet. Ihr Satz „Sie kennen mich“ jedenfalls stimmte schon beim Kanzlerduell 2013. Trotzdem verweist Rostock auf Grundsätzliches. Da ist zunächst die politische Dimension: Merkels (Mit-)Verantwortung für die Lage des Mädchens und der vieler tausend vergleichbarer Fälle, die umstrittene Verschärfung des Asylrechts, welche Kritikern zufolge die Situation für viele noch verschlechtert, und das Fehlen eines Einwanderungsgesetzes.
Aus Kommunikationsperspektive wiederum zeigt der Rostocker Auftritt auch die Angriffsflächen der Kanzlerin. Beobachten, abwarten, abwägen, entscheiden – Merkels schnörkelloser Politikstil hat ihr den Ruf einer effektiven Problemlöserin, robusten Machtpolitikern und resoluten Sachwalterin nationaler Interessen eingebracht. Nach den an Pathos (und Testosteron) nicht gerade armen Jahren der Fischer-Schröder-Ära erschien ihr Stil vielen Beobachtern als willkommene Abwechslung. Zehn Jahre später können sich viele gar nichts anderes mehr vorstellen (wer 2005 das erste Mal wählen war, ist 2017 mindestens 30 Jahre). Schon qua Amtsdauer profitiert Merkel vom menschlichen Status Quo-Bias, also unserem Hang, gegenwärtige Zustände Veränderungen vorzuziehen. Sie bedient und verstärkt ein gesellschaftliches Grundgefühl, das sich aus der sedierenden Mischung aus Zufriedenheit und Ohnmacht speist. Politik, so die vorherrschende Stimmung, habe zwar ohnehin keinen großen Einfluss auf die Verhältnisse, mit Merkel sei aber wenigstens gewährleistet, dass die Dinge so weiterlaufen, wie sie sind.
Dass Politik immer auch mit Werten – und, ja, auch mit Ideologien – zu tun hat, diese banale Erkenntnis ist in angesichts der multiplen Brandherde und des permanenten Krisenmanagements der vergangenen Jahre in Verruf geraten. Aber es ist ja so. Politik, in Demokratien zumal, bezieht ihre Legitimation nicht ausschließlich über empirische belegbare „Richtig/Falsch“-Kriterien und tatsächliches oder vermeintliches „Good Governance“. Hinter politischen Entscheidungen – auch asylpolitischen – stehen stets Entscheidungen über Wertpräferenzen, hinter jedem Vorhaben unterschiedliche Annahmen über die Natur des Menschen und die Merkmale einer „guten“ Gesellschaft. Erst wenn diese Annahmen, diese Überzeugungen und Ziele transparent gemacht werden und in einem öffentlichen Wettbewerb dafür gestritten wird, entstehen Aufmerksamkeit, Mobilisierung und Bindungen in der Demokratie. Das Politikern hierfür zur Verfügung stehende Medium ist die Sprache. Der Umgang damit wird umso wichtiger, wenn es darum geht, Befindlichkeiten zu hinterfragen, unbequeme Wahrheiten zu kommunizieren oder unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen.
Rostock hat wieder einmal gezeigt, dass die politische, vor allem normative Argumentation nicht der Kanzlerin Sache ist. Schon vor zwei Jahren schrieb Carolin Emcke dazu:
„Die strittigen Überzeugungen werden so lange rhetorisch weichgespült, bis die Differenzen nicht mehr scharf konturiert sind, oder die eigenen Positionen werden gar nicht als Positionen, sondern gleichsam als dezisionistische Notwendigkeiten beschrieben.“
Merkel fährt gut damit, doch unserer politischen Kultur schadet es. Chantal Mouffe beschrieb diese technokratisch-konsensorientierten Politikansatz als „Negation des ‚Politischen‘“. Sie beraubt eine Gesellschaft der Offenheit der Wege, die sie einschlagen kann, und der Berechtigung des Konflikts darüber. Demokratie ist mehr als die Exekution von Sachzwängen. Wieder Emcke:
„Angela Merkels Sprache arbeitet mit einer permanenten Immunisierung gegen jede Berührung, jeden Zweifel, sie agitiert gegen alles Offene, alles Unfertige – und damit gegen das, was eine freie Gesellschaft und eine deliberative Demokratie gerade ausmacht.“
Die Person Angela Merkels, das Amt des Bundeskanzlers und ihr alternativlos daherkommender, im Kern technokratischer Politikansatz sind in den letzten Jahren zu einem Amalgam geworden, d.h. zu einer nicht (ohne weiteres) umkehrbaren Verbindung. Wer den Nimbus der Unbesiegbarkeit, den viele Beobachter Merkel zwei Jahre vor der Bundestagswahl (völlig verfrüht) attestieren, brechen möchte, wer die programmatische und ideelle Leere, die in Rostock aufblitzte, dauerhaft sichtbar machen will, sollte auf das weit verbreitete Gefühl, der Politik mangele es an „normativem Richtungssinn“ (Axel Honneth), reagieren. Die Leute allein bei kurzfristigem Interessenkalkül, Pragmatismus oder ihrem Bedürfnis nach Sicherheit abzuholen, wird 2017 kaum funktionieren. Das ist Merkels Terrain. Es gilt, demokratiepolitisch und politisch-moralisch Alternativen aufzuzeigen, wieder „ins Offene“ (Carolin Emcke) zu denken und bei den Menschen so ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass eine andere Politik, eine andere Sprache und auch ein anderer Umgang mit palästinensischen Flüchtlingsmädchen möglich ist.
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