von Max Steinbeis, 26.9.12
Extreme Positionen, wie die des Kölner Landgerichts und seiner strafrechtswissenschaftlichen Büchsenspanner in punkto Kriminalisierung der Beschneidung, erzeugen extreme Gegenpositionen.
Das sieht man mit Grausen an einem Artikel, den der britische Jurist Jonathan Fisher in der Jewish Chronicle veröffentlicht hat. Der Strafrechtsanwalt stellt dabei das Kölner Urteil in eine Reihe mit einer Entscheidung aus der Schweiz, die offenbar die Ewigkeit jüdischer Friedhöfe in Frage gestellt hat, und dem Urteil des britischen Supreme Court, der 2009 die Aufnahme-Policy einer jüdischen Schule, nur Juden aufzunehmen, als rassistische Diskriminierung bezeichnet hatte.
Dazu kommt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2010, das den Zeugen Jehovas gegen Verfolgung in Russland zur Seite springt und folgende “chilling passage (…) that should send a shiver down the spine of the Anglo-Jewish community” (Fisher) enthält:
The Court observes, on a general note, that the rites and rituals of many religions may harm believers’ well-being, such as, for example, the practice of fasting, which is particularly long and strict in Orthodox Christianity, or circumcision practised on Jewish or Muslim male babies. It does not appear that the teachings of Jehovah’s Witnesses include any such contentious practices.
Nun bin ich der Letzte, der die Ernsthaftigkeit der Bedrohung anzweifelt, die die pseudo-aufklärerische Anti-Beschneidungs-Kampagne für das jüdische Leben in Deutschland und Europa bedeutet. Ich bin auch überzeugt, dass auch und gerade Gerichte zu einem ganz fürchterlichen Werkzeug dieser Bedrohung werden können. Wenn Fisher vermutet, das Kölner Urteil sei Symptom eines rasant um sich greifenden, zutiefst verstörenden Antisemitismus in Europa, der sich den Menschenrechtsdiskurs mehr oder minder bewusst zu seinem Vehikel macht – ich würde ihm nicht widersprechen.
Die Schlussfolgerungen, die Fisher daraus zieht, sind aber, ehrlich gesagt, geeignet, mir einen “shiver down my spine” zu senden:
Since the Holocaust, human rights have focused on the notion of entitlement at the expense of individual and communal responsibility. As Prince Charles noted: “The Human Rights Act is only about the rights of individuals (I am unable to find a list of social responsibilities attached to it) and this betrays a fundamental distortion in social and legal thinking.”
His thinking is more closely aligned with Judaism’s approach, which posits a system of duties rather than one of rights. Recognition of an individual or communal duty implies the recognition of a collateral right, unlike secular systems where it seems to be the other way round. A classic example is the right to privacy. Judaism obliges every individual to respect his neighbour’s privacy, rather than the responsibility resting on the state.
It is a pity the Jewish jurists who influenced the development of human rights did not draw more comprehensively on Jewish law. We might have been spared the growing attacks on our traditions if greater emphasis had been placed on individual responsibility, communal cohesion and the role faith can play in delivering these objectives.
Ich weiß nicht genug über Judaismus, um beurteilen zu können, ob das stimmt. Aber wie auch immer: Die Idee, Rechte als Kehrseite von Pflichten zu betrachten und an die Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft zu knüpfen, ist mir nur allzu bekannt. Sie ist Ausdruck eines Grundrechtsverständnisses, das Rechte nicht als Minderheitenschutz, nicht als Freiheitssphären des Einzelnen gegenüber den Ein- und Unterordnungszumutungen der Gemeinschaft versteht, sondern als etwas, das man sich verdienen muss, was die Gemeinschaft ihren Mitgliedern zuerkennt, wenn und nur wenn sie sich brav verhalten. Sie ist die Perversion all dessen, worum es bei Menschenrechten geht. Sie ist das Kennzeichen autoritärer Verfassungen.
Die verfassungspolitische Autorität des königlichen Keksbäckers Charles imponiert mir da, pardon, nicht so furchtbar arg.
Adam Wagner weist verdienstvollerweise darauf hin, dass Jonathan Fisher hätte erwähnen sollen, dass er eines von acht Mitgliedern einer Regierungskommission ist, die derzeit die Frage beantwortet, ob Großbritannien statt der Implementierung der EMRK eine eigene, genuin britische Bill of Rights ins Leben rufen soll.
Ich bin ja mal sehr gespannt, was diese Kommission am Ende so alles empfiehlt.
Tatsächlich ist diese Rundum-Denunzierung der Menschenrechte als potenzielle Antisemiten-Tools völlig unnötig. Man kann auch auf Basis des klassischen liberalen Rechteverständnisses zu dem Schluss kommen, dass es mit den Menschenrechten nicht vereinbar sein kann, einer kulturellen Minderheit für ihre seit Jahrtausenden praktizierten, sozial vollkommen akzeptierten Riten den Staatsanwalt auf den Hals zu hetzen. Man kann auf dieser Basis auch die Motive derer bezweifeln, die vorgeben, sich unaufgefordert die Rechte kleiner Kinder, die niemand nach ihrer Meinung fragen kann, zu eigen zu machen und gegen deren eigene Eltern in Stellung zu bringen.
All dies kann man tun. Außer man hat eine ganz andere Agenda, natürlich.
So bekommen diejenigen, die gern die Europäische Menschenrechtskonvention einem imaginierten Merry-Old-England-Idyll opfern wollen, die Gelegenheit, die berechtigte Furcht vor der Ausbreitung des Antisemitismus auf ihre Mühlen zu lenken. Das ist der Fluch der bösen Kölner Tat.
Crosspost vom Verfassungsblog