#Krieg

Mensch Putin, oder: Der Fleck, der nicht verschwinden will

Der Fleck tritt immer wieder frisch hervor. Er geht nicht weg. So oft ich auch versuche, den Fleck loszuwerden. So ist’s auch mit dem Nationalismus, der Pest unter den Völkern. Man kann sie vertreiben, sie tritt immer wieder wie neu hervor, wie der vermaledeite Fleck. Putin ist Nationalist.

von , 4.3.22

Wie wurde der russische Präsident, was er ist? Was lässt sich über die öffentliche Figur Putin sagen? Was treibt ihn an? Und wie geht das wieder weg? Versuch einer Annäherung.

Es ist ein fünf-Buchstaben-Wort, das gegenwärtig am meisten genannt wird – wie zum Beispiel Liebe oder Blume; oder auch – etwas weniger oft zu lesen aber dennoch bedeutungsschwer – wie Mafia. Das meist genannte Fünf-Buchstaben-Wort lautet derzeit: Putin. Es ist kein Was-Wort sondern ein Wer-Wort. Wer ist Putin? In der FAZ las ich, dass die Landtagsabgeordnete Doris Schröder-Köpf (SPD) ihn für einen nachdenklichen, gebildeten und sensiblen Menschen halte, mit welchem sie Nächte durchdiskutiert habe. Für andere ist er einfach »das Böse«, nicht im Sinn des früher von Hunderttausenden gelesenen Sozialwissenschaftlers Arno Placks, also einer Fehlsteuerung von Verhalten, sondern für andere ist er »das Böse« schlechthin; genuin böse, jemand, dem lediglich durch einen Exorzismus beizukommen wäre.

Er ist Präsident der Russischen Föderation. Er ist nach eigenen Angaben russischer Nationalität. Präsident kann er bleiben bis ins nächste Jahrzehnt, bis er weit über die achtzig Jahre alt ist. Er kann, er muss nicht. Er ist gelernter Geheimagent. Einen Teil der Schlapphut-Kenntnisse hat er in der DDR erworben. Sein Großvater war Koch, wie der Enkel 2018 erzählt hat, der habe für Lenin und auch Stalin gekocht. Auf Wikipedia ist ein Jungen-Foto des Enkels aus dem Jahr 1960 zu sehen: ein offenkundig schmaler Junge mit einem frühreifen Blick, wie einem frühen Roman von Günter Grass entsprungen. Ist es angebracht, über Wladimir Putin (69) ironisch zu schreiben, obgleich er einen mörderischen Krieg gegen das Volk der Ukrainer begonnen hat? Obgleich er Mörder und Kriegsverbrecher genannt wird, genannt werden kann? Ja, nach Chaplins »Der große Diktator« ist das Tor zur ironischen, satirischen Beschäftigung mit Mördern weit aufgestoßen.

Was lässt sich über Person und Verhalten des russischen Staatschefs Wladimir Putin sagen? Ausgedeutet wird er von Forschenden, Sozialwissenschaftlern, von den Enkeln und Urenkelinnen Freuds und Skinners, Pawlows, Fromms und vieler anderer. Ausdeuten wollen ihn Medienleute, Historikerinnen und Historiker, diplomatisch erfahrene Menschen, Wirtschaftsleute und politisch verantwortliche Menschen. Von denen, die ihn tatsächlich bis ins Innerste kennen müssten, von Partnern und Partnerinnen seiner Geschäfte, Freunde und von denen, die er so begünstigt hat, dass sie den Mund halten, kommt nicht viel (davon gibt es ja auch, wie erwähnt, welche in Deutschland).

Es wird ausgedeutet, auf welche Weise er mit seinen Händen einen vor ihm stehenden Tisch anfasst, und daran herumfingert; warum er kürzlich einen Anzug trug, der eine Nummer zu groß gewesen sein soll. Es heißt über ihn: Einmal Agent des Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti, des KGB, immer Agent. Heißt das, Wladimir Putin ist von Misstrauen erfüllt, er wird von Misstrauen beherrscht, er erlebt die Welt als doppelbödig? Demnach müsste der wahre Mann die ihn umgebende Welt bekämpfen wie die acht Arme eines Oktopusses. Er habe im damaligen Leningrad auf der Straße gelernt, sich durchzusetzen, lese ich. In diesem Zusammenhang wird die Geschichte von einer in die Enge getriebenen Ratte erzählt, derer er sich habe erwehren müssen. Ein Puzzleteil seiner Fama?

Schaue ich mir Pressekonferenzen an, auf denen er Fragen beantwortet, wirkt Putin beherrscht. Zurückgenommen. Frechheiten nimmt sich niemand heraus. Ein Alltagsgesicht macht einen auf unnahbar, ließe sich zusammenfassend sagen. Er wirkt einschüchternd. Sein Gesicht hat im Vergleich zu früheren Zeiten Breite bekommen. Die Augen wirken daher klein und wenig beweglich. Aber was heißt das schon? Während seiner Auftritte lässt er den Oberkörper hin und her schwingen, so wie wir Jungs früher, wenn wir so taten, als wollten wir einen Saloon in Laramie betreten.

Putin sei Uhrenliebhaber, ist zu lesen: »Am bekanntesten ist dabei wohl die Sammlung von Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Putin hat vermutlich eine Uhrensammlung mit einem Gesamtwert von mehr als 500.000 Franken. Auf Fotos wurden bei ihm schon Zeitmesser von … erkannt.« (Kein Produkt-Placement!) »Sowohl einem Arbeiter in einem Rüstungsbetrieb als auch einem Hirtenjungen in Sibirien soll der Präsident auf seinen Touren durchs Land eine … als Souvenir geschenkt haben.« Das berichtete die Schweizer Handelszeitung vor Jahren. Schweizer verstehen etwas von Uhren. Im Fall Putins führt das einfach unwiderstehlich zum Kalauer: »Wem die Stunde schlägt.«

Um Putin auf Distanz »näher« zu kommen, bieten sich Blicke in die Archive der Bildagenturen an. Da zeigt er sich mitunter ein wenig unbeholfen mit seinen 170 Zentimetern (Freund Gerhard misst 174 Zentimeter, das mag neben anderem verbinden) unter den politischen Größen der Welt. Aufschlussreich Fotos, auf denen Putin und Barack Obama abgelichtet wurden. Imago-Images bietet ein Foto von der 70- Jahre Feier der Landung der Alliierten am 6. Juni 2014 in der Normandie an (IMAGO Bildnummer: 0097344844). Zwischen zwei Räumen im Türdurchbruch stehen sich Obama und Putin gegenüber. Auf Tuchfühlung, der größere der beiden, Obama, beugt sich über den kleineren, Putin, er spricht eindringlich auf ihn ein, den rechten Arm seitlich gestreckt bis in die Fingerspitzen, als erkläre er Putin etwas. Der muss zuhören, blickt freilich nicht in Obamas Gesicht, sondern hat das Kinn auf den Hemdkragen gesenkt. Er blickt auf Obamas Krawatte, die rechte Hand vor der Brust zur Faust geballt, die Linke in die Hosentasche gesteckt. Ein anderes Foto zeigt das Händeschütteln Beider auf dem Weltklimagipfel 2015 in Paris (IMAGO Bildnummer: 0067223631). Kein Fetzen Freundlichkeit in den Gesichtern, als die 187 Zentimeter Obamas auf die 17o0 Zentimeter des anderen blicken. Obamas wirkt kalt. Putin schaut irritiert oder widerwillig oder beides zur Seite.

Letztendlich fällt mir zu Putin nur die Geschichte über den Fleck ein, der nicht verschwinden will, so oft ich auch mit Fleckentferner daran herumreibe. Der Fleck tritt immer wieder frisch hervor. Er geht nicht weg. So oft ich auch versuche, den Fleck loszuwerden. So ist’s auch mit dem Nationalismus, der Pest unter den Völkern. Man kann sie vertreiben, sie tritt immer wieder wie neu hervor, wie der vermaledeite Fleck. Putin ist Nationalist. Ein Nationalist wie aus einem Lehrbuch des 19. Jahrhunderts. Ein Bilderbuch- Nationalist. Er kann nicht sein ohne anderen seinen Nationalismus, seine »Identität« aufzuzwingen. Das treibt ihn an.

Wie weit Putins Nationalismus zurückreicht, wissen wir nicht. Identität durch Nationalismus ist stets geliehene Identität. Das ist Schwäche und Gefahr zugleich. Wer dieser »Leihgabe« zu lange nachläuft, wird sie nicht wieder los. Gerald Knaus hat am 1. März in der Sendung Markus Lanz darauf hingewiesen.

Putin führe eine Art Kolonialkrieg wie Frankreich damals in Algerien, um den Algeriern die französische Identität aufzuzwingen, sagte Knaus; koste es an Todesopfern was es wolle. Und alle um den Angriffskrieg versammelten Nachbarnationen von den Esten über die Letten und Litauer, die Belarussen und Moldavier bis hin zu den Georgiern wüssten, was sie erwarte, wenn Putin in der Ukraine gewinne. Und je brutaler er seine Identität in der Ukraine durchsetzen will, umso mehr beflügelt er die Identitäten der Anrainer-Nationen. Genau das setzt der Mann im Kreml in Bewegung. Dem einen sticht dessen »Besessenheit« ins Auge, dem anderen dessen »Wahn«.

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