von Wolfgang Michal, 28.11.10
Im deutschen Feuilleton läuft eine… na? genau! …eine politische Grundsatzdebatte. Geht ein Gespenst um in Europa (wie 1848)? Oder ist alles nur ein Maschinen-Sturm im Latte macchiato-Glas? Eine kleine Einführung in die bisherige Debatte:
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I. Die Schrift:
Das Pamphlet, um das es geht – „Der kommende Aufstand“ – liegt mittlerweile in zwei deutschen Übersetzungen vor (1 + 2).
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II. Die Positionen des Feuilletons:
– Am 7. November 2010 äußerte Nils Minkmar in der FAS, der Text sei glänzend geschrieben und könnte das wichtigste linke Theoriebuch unserer Zeit werden:
„Abseits der uns bekannten Formen der politischen Willensbildung empfehlen die Autoren des kommenden Aufstands eine neue Form der Kommune, und zwar möglichst abseits der allgegenwärtigen Netze: Sie wollen, etwas altmodisch, Freundschaften statt bloßer Kontakte und empfehlen statt der Mail, der SMS oder dem Tweet den gegenseitigen Besuch. Ist schöner und hinterlässt keine Spuren.“
„Die räumliche Distanz zur Großstadt ist nötig, um sich abzukoppeln, denn das System agiert am effektivsten aus dem eigenen Hirn heraus: ‚Was hat mich nur dazu bewogen, am Sonntagmorgen joggen zu gehen?’ Sich fit zu halten und vernetzt zu bleiben, das ist der Terror von oben. Apple, die Wachstumskritiker und die Bioläden würden gemeinsam daran arbeiten, dem Kapital und den Herrschenden ungehinderten Zugang zu den Jungen und Kreativen zu verschaffen, während selbst die so Kolonisierten noch ein gutes Gewissen haben.“
„Weit davon entfernt, wie die Pfadfinder, Attac oder die Gewerkschaften eine bessere Arbeitsmoral zu fordern und zu fördern, plädiert ‚Der kommende Aufstand’ für eine umfassende Subversion, vom Sozialbetrug bis zur Faulheit am Arbeitsplatz.“
„Die Generation Golf kippt sich Zucker in den Tank!“
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– Am 11. November verglich Alex Rühle den Text in der Süddeutschen Zeitung mit Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands:
„Das Besondere an dem Buch ist dessen glänzender Stil. Der Text kommt ohne das sonstige phraseologische Sperrholz linker Pamphlete aus, die Autoren schreiben mit situationistischem Schwung und gleichzeitig düsterrevolutionärem Zorn eine ‚Ästhetik des Widerstands’ für das neue Jahrtausend.“
„Die ersten 60 Seiten sind eine Gegenwartsanalyse, so beißend wie poetisch, geschult an Guy Debord, Antonio Negri, Giorgio Agamben, und oft meint man Michel Houellebecqs Stimme durchzuhören, wenn da genüsslich die Kälte und Vereinsamung der Leistungsgesellschaft beschrieben wird.“
„Der zweite Teil lässt sich polemisch so auf einen Nenner bringen: Schafft ein, zwei viele Banlieues. Es geht eher darum, Sand statt Öl im Getriebe der immer absurderen Beschleunigung zu sein: Stromzähler abzuklemmen, Waren zu unterschlagen, Sozialleistungen zu erschleichen.“
„Das Buch trifft aus drei Gründen einen Nerv. Zum einen bezieht es eine Aura der Hellsichtigkeit aus dem Umstand, dass es geschrieben wurde vor dem kollektiven Schock der Finanzkrise, den es im Nachhinein zu antizipieren scheint. Zweitens machen der aphoristische Parlandostil, die heitere Gewissheit des Untergangs, die an Max Frischs Beobachtung erinnert, die Krise sei ein sehr produktiver Zustand, ‘wenn man ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nimmt’, aus dem Text ein Weißbuch des Überlebens in stürmischen Zeiten. Der dritte Aspekt ist wahrscheinlich der beunruhigendste: Die totale Partizipationsverweigerung, dieses Hohelied auf den Privatismus – pardon: die Kommune – ist höchst beunruhigend in Zeiten, in denen sich europaweit die diffuse Unzufriedenheit, der Frust und die Angst immer heftiger entladen.“
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– Am 22. November widersprach Johannes Thumfart seinen Kollegen von FAS und SZ vehement und erklärte in der taz, der Text sei nicht links, sondern eine antimoderne Hetzschrift, voller Paranoia und naiver politischer Theologie:
„Neu an diesem zusammengeflickten Unsinn ist vor allem, dass sich das Feuilleton dafür begeistert. FAZ und SZ rezensierten die Schrift derart positiv, dass sich ein Berliner Buchladen genötigt sah, ironisch per Rundmail zu kommentieren, große deutsche Tageszeitungen riefen nun zum Terrorismus auf.“
„Ausgehend von den Theorien des Nazijuristen Carl Schmitt, wird darin zur politischen Gewalt aufgerufen, gegen Demokratie und Rechtsstaat gewettert.“
„Ein anderer Haupteinfluss ist der Philosoph des nationalsozialistischen Denkdienstes, Martin Heidegger. Insbesondere seine Ressentiments gegen Technik und Moderne haben das Buch inspiriert.“
„In diesem intellektuellen Milieu ist auch die Deutung des – vor allem technischen – Alltags westlicher Demokratien als Totalitarismus üblich, die das Hauptstilmittel des Texts ist.“
„Dass das ‚linke’ Gedanken sind, kann niemand ernsthaft behaupten. Von sozialer Gerechtigkeit, der Demokratisierung der Technik oder den Menschenrechten ist in dem Buch nie die Rede.“
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Weitere Stimmen in der Debatte:
- Andreas Fanizadeh (taz)
- Marc Felix Serrao (SZ)
- Jürgen Kaube (FAZ)
- Harry Nutt (Berliner Zeitung)
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Und jetzt bei Carta: Der Publizist und Blogger Hans Hütt über einen immens französischen Text.