von Jan Krone, 18.5.17
Mit Blick auf das leicht zugängliche transnationale Angebot an digital verfügbaren redaktionellen Artikeln, Videos und Kommentaren des Publikums scheint gegen Ende der 2010er Jahre ein Zustand eingetreten zu sein, der eine befürchtete Abnahme von Informations- und Meinungsvielfalt durch Unternehmenszusammenschlüsse entschärft. Die schier unerschöpfliche Wahlfreiheit in der Auswahl von Kommunikations- und Medienangeboten und Teilhabe an deren Produktion sind entscheidende Unterschiede im Vergleich bis zum 20. Jahrhundert.
Medienkonzentration & Medieninhalte
Wendet man für eine Überprüfung der Hypothese quantitativer Vielfalt den Blick auf die qualitative Vielfalt redaktioneller Angebote, fallen viele unterschiedliche Formen von redaktionell-werblich verschränkter Kommunikation auf. Von unbearbeitet übernommenen Informationskampagnen aus den Public Relations über graduell auffällig gekennzeichnete redaktionell gestaltete Werbung bis hin zu Schleichwerbeformen wie Native Advertising sowie Content Marketing reicht das Spektrum in Zeiten unsicherer Mediengeschäftsmodelle. Sie schmälern den ersten Eindruck eines vielfältigen ausgeprägten, journalistischen Medienensembles. Lassen sich – unter Rücksichtnahme auf geltendes Recht zur Trennung von werblicher und redaktioneller Kommunikation – diese Dysfunktionen kommerzieller Medienproduktion bereits strukturell unterschiedlich nach Mediengattungen erfassen, kommen Rufe nach ethisch ausgerichteten Plattformregulierungen hinzu. Problematisch, weil unterbelichtet, wird der qualitative Aspekt des redaktionellen und/oder nicht-redaktionellen Informationsangebots, wenn Subtilität und Suggestivität des Berichteten und Kommentierten einen Grad erreichen, der die Kommunikationsintention für „(E)in vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers (…)“ [frei entlehnt aus der BVerfGE Benetton-Schockwerbung] schwerer erkennbar werden lassen kann. Die durch Journalismus zu leistende Orientierungsfunktion, Aussagen und Motivation von Kommunikationsinhalten unmittelbar differenzierbar zu halten, wird dem Publikum bewusst unterschlagen.
Medien und Wirkungsvermutungen
Angekommen im Komplex Wahrhaftigkeit von Nachrichten und Kommentaren kann der Theoriefundus der Medienwirkungsforschung dazu geeignet sein, um zumindest die Wahrscheinlichkeit von Einstellungsänderungen seitens des rezipierenden Publikums zu entmystifizieren: der Third-Person-Effekt legt nahe, sich selbst nicht für den einzig und alleinigen Verständigen des wahren Ziels von Kommunikationsinhalten zu wähnen und andere für leicht zu beeinflussende Medienopfer. Eine weitere Theorie, die der Verstärkerhypothese, belegt – ebenso wie die Erstgenannte – empirisch, dass bestimmte Inhalte vor allem diejenigen wirkend erreichen, die sich bereits Vorurteile gebildet haben und an anderen für Einstellungsanpassungen wirkungslos abprallen (Third-Person-Effekt kann wieder einsetzen).
Eine in diesem Zusammenhang wichtige Erläuterung betrifft den Rezeptionsbegriff in Unterscheidung zur unspezifischen Mediennutzung wie das Einschlafen am Fernseher: ein Beitrag wird bewusst aufgenommen und vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und Erwartungen verarbeitet. Meinungen/Einstellungen zu spezifischen Themenkomplexen werden verstärkt, herausbildet oder bleiben ohne signifikante Wirkung (selektive Mediennutzung). Nicht jedoch bedeutet der Rezeptionsbegriff, dass es sich bei dem Aufrufen eines Beitrages zwangsläufig um Zustimmung handeln muss. Harmonieverschränkungen sind keine logische Folge im Austausch zwischen Rezipient und Kommunikator. Für den um die Social Media erweiterten Bereich der Zustimmung oder Ablehnung von Inhalten ist der Verdacht der Wirkmächtigkeit von Filterblasen und Echokammern durch die Medien- und Kommunikationsforschung zudem ebenso relativiert worden. Likes und Shares sind hier zunächst einmal flüchtige, schwach zuverlässige Statusbekundungen und müssten – theoretisch – hinsichtlich der kontinuierlichen Aufrechterhaltung regelmäßig überprüft werden. Die Verwendung von Likes, Shares und Echokammern, Filterblasen als qualitative Belege für Medienwirkung mag gerade noch die in sich gerne geschlossene Werbebranche oder, allgemein, Eitelkeiten von Absendern befriedigen. Mehr nicht.
Emotionalität, Kalkül & Rationalität
Gut, ohne dass der Autor dieser Zeilen daran glaubt, Medienwirkung im Wahljahr 2017 mit einem kurzen Kapitel entdramatisiert zu haben (die aus den 1930/40er Jahren überlieferte Hypothese der starken Medienwirkungen getreu dem Paradigma „Was machen Medien mit den Menschen“ scheint einfach zu attraktiv), kann, wenn nicht sogar: muss die Medienwirkungsforschung in ihrer rund 85jährigen Tradition zur Erklärung qualitativer Vielfalt im Medienensemble in diesem Fall zurückstehen.
Die Medienwirkungsforschung ist entgegen der Erwartung nicht in der Lage, direkte Erklärungsmodelle für „digitaler Kommunikationskosmos“ und „Mediensystem“ im Jahr 2017 anzuflanschen. Der Ansatz moderner Wirkungsforschung „Was machen Menschen mit den Medien“ (Konzept der schwachen Medienwirkungen) deutet einerseits zwar auf Wirkungszusammenhänge hin, andererseits bleiben jedoch Aussagen und Motivation der Kommunikatoren unbeleuchtet. Auch bleibt der im verzweifelten Klickkrieg um Werbepennies und Präsentation von Ideen erstickte Ruf der der angelsächsischen Journalismustradition Anhängenden, der Trennung von Nachricht und Kommentar, zur Erkenntnis wirkungs- und belanglos.
Konzeptionen von Journalismus
Folgt man anderen kommunikationswissenschaftlichen Zugängen zur Beleuchtung der qualitativen Strukturen im Medien- und Kommunikationsraum (Kommunikatorforschung), denen der Medienpolitik und historischen Journalismusforschung, trennt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Konzeptionen von Journalismus die Nebelbank gesellschaftlicher Unsicherheit im Umgang mit den eigenen Kommunikationswerkzeugen.
Plurale Demokratien beruhen zu nicht unwesentlichen Teilen auf dem Journalismuskonzept der Vielfalt, denn alleine dieses sei in der Lage frei, grundsätzlich unabhängig, objektivierend, privatwirtschaftlich (und öffentlich-rechtlich), mit Sorgfalt und sozialer Verantwortung unter dem Schutz von Redaktionsgeheimnis, mit Tendenzschutz und innerer Medienfreiheit im Rahmen der allgemein gültigen Gesetze wie Jugendschutz oder dem Schutz der Persönlichkeitsrechte, eingebettet in Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit mit allen bekannten Schwächen – und die sind in liberalen politischen Systemen wesensbedingt – die Existenz und Publikation unterschiedlicher Perspektiven mittels unterschiedlichen Genres und Darstellungsformen auf die gesamte Gesellschaft zu gewährleisten. Dies sind direkt und indirekt ableitbare Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat.
Mit der Verbreitung und Annahme des Internet als internationaler Kommunikationskanal und der darauf in Form von Plattformen aufgesetzten transnationalen Social Software tritt nun ein überwunden geglaubtes, zweites Journalismuskonzept aus der Versenkung der 1980er Jahre wieder zutage: die marxistisch-leninistische Pressetheorie als Folie zur Instrumentalisierung der Kommunikationsmittel zur kollektiven Organisation, Agitation und der Propaganda für Ideologien. Im Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation (Wolfgang Donsbach, Hans Mathias Kepplinger, Rainer Mathes, Elisabeth Noelle-Neumann, Thomas Petersen, Kurt Reumann, Reinhart Ricker, Michael Schenk, Johannes Schneller, Walter J. Schütz, Rüdiger Schulz, Winfried Schulz, Jürgen Wilke, 3. Aufl. 2004 FaM, S. 214-215), Kapitel „Medien DDR“ heißt es dazu:
„Die Massenmedien in der DDR arbeiteten nach den Prinzipien der marxistisch-leninistischen Pressetheorie. Während Karl Marx ursprünglich noch der liberalen Idee einer freien Volkspresse anhing und der Presse erst später die Aufgabe zuwies, ‚alle Grundlagen des bestehenden Zustands zu unterwühlen’, wurde Lenin zum Schöpfer einer genuinen sozialistischen Pressekonzeption. (…)
Als Propagandist sollte die Presse Marxismus-Leninismus in allen Bevölkerungsschichten verbreiten. Ihr Ziel war langfristig die politisch-ideologische Erziehung durch Darlegung und Erläuterung kommunistischer Überzeugung und Theorie. Als Agitator hatte die Presse die aktuelle Politik der staatsbeherrschenden Partei zu unterstützen und die Bevölkerung zur Erfüllung der jeweils gestellten Aufgaben zu aktivieren. Der Agitation diente die bewusste und parteiliche Auswahl von Ereignissen und Tatsachen, die Gegenstand der Berichterstattung waren.
Als Organisator sollte die Presse ferner anleitend und kontrollierend in die geplante politische und kulturelle Entwicklung eingreifen und zu konkreten Ergebnissen führen. Sie sollte die Werktätigen zum Aufbau des Sozialismus mobilisieren und zu bereitwilliger Planerfüllung bewegen.
In diesem Sinne galt auch die Presse in der DDR als „Instrument der Partei zur Umsetzung zu ihrer revolutionären Politik“ und nicht nur als Mittel zur „Interpretation und Aufklärung“ (Budzilslawski 1966). Weitere Grundprinzipien des sozialistischen Journalismus bildeten Parteilichkeit, Wissenschaftlichkeit und Volksverbundenheit (Hüther 1969).
Die für die Presse entwickelte Funktionsbestimmung ist im Wesentlichen auch auf die anderen Massenmedien übertragen worden. (…).“
Eine Übertragung dieser Strategie zur politischen Einflussnahme auf die Rezipienten ist ebenso für weitere klassische Mediengattungen wie Hörfunk, Fernsehen, Buch und Kino als auch auf digitale, interaktive Netzmedien und Kommunikationsplattformen beobachtbar. Kollektive Organisation, Agitation und Propaganda sind nicht nur abstrahiertes Selbstverständnis von Werbekommunikation und Public Relations für definierte Zielgruppen, sondern kann zudem von allen deliberalen gesellschaftlichen Kräften aufgegriffen und zur Anwendung gebracht werden. Die Erwartungen starker Medienwirkungen im Sinne der Organisationsziele eint die Akteure.
Hier schließt sich der Kreis zur Medienwirkungsforschung. Selektive Mediennutzung sowie ökonomischer und publizistischer Wettbewerb – die Kombination quantitativer und qualitativer Vielfalt – tragen maßgeblich zur Strahlkraft liberaler Staaten und Gesellschaften bei und wehren deliberale Angriffe auf Freiheit, Pluralismus und Verantwortung ab. Die marxistisch-leninistische Theorie der öffentlichen Kommunikation ist mindestens auf graduell erkennbaren Totalitarismus gesamter politischer Systeme, Organisationen oder Gruppen angewiesen. Sie ist nicht nur im Sinne der Aufklärung betrachtet rückschrittlich und fehlerhaft: das kollektiv propagandistische, organisatorische und agitatorische Journalismus- und Kommunikationskonzept zerbricht in diskursiven Umgebungen. Praktisch durchsetzbar ist der Ansatz nur mit staatlicher Gewalt oder kapitalistischer Beherrschung wesentlicher Teile der Medien und Kommunikationsinfrastruktur. Eine transnationale Ausprägung, sogenannte Fake News, bleiben im Spiegel dieser Erkenntnis nur mehr ein Dysphemismus, eine Negation jeglicher Ansprüche an journalistisches Handwerk vielfältiger Konzeption.
Immer wieder Medienkompetenz
Plurale Demokratien und ihre Medien- und Kommunikationssysteme sind geprägt durch schwache Medienwirkungen bei publizistischem und ökonomischem Wettbewerb. Mit dem Aufkommen eines leichten Zugangs zu Kommunikationsmedien sind sie ebenso geprägt durch Unsicherheiten auf Rezipientenseite, die sich auf die Suche nach dem Abbau von Ungleichgewichten im Selbstbild begeben. Die komplizierte Orientierung in der Medienlandschaft darf als ein gänzlich normaler Effekt im Zuge eines Eintritts von signifikanten Technologien in Gesellschaften verstanden – und – erkannt werden. Überwunden wird die temporäre Ungleichverteilung von Wissen mit ernsthaft angelegten Media Literacy-Programmen in (vor-)schulischen Curricula, die weit über derzeitige Lippenbekenntnisse, Pilotprojekte oder Auslagerung an schwach wirksame Institutionen, die nicht kontinuierlich ihre Adressaten zu erreichen imstande sind, hinausgehen.
Die Medienkompetenz des Publikums, also die Fähigkeit zur Differenzierung, baut sich mit der allgemeinen Lebenserfahrung oder, expliziter, mit gezielten Studien auf. Letztere sollten einen höheren Stellenwert in der Bildungspolitik erfahren und in der Praxis mit fachlich geschultem Personal ausgestaltet werden. Dafür gibt es die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft als Schlüsseldisziplin zur gesellschaftlichen Einordnung des Medienwandels. Sich organisiert auf das Lehramt hin qualifizierende Studierende sind dem Autor dieses Beitrags trotz der messbaren Attraktivität der angebotenen Studiengänge in mehr als 20 Jahren Ausbildung, Lehre und Forschung noch nicht begegnet. Einzelausnahmen, Autodidaktismus und heterogenes Grundwissen zu mediensystemischen Komplexen an Schulen mögen bis in die 1990er Jahre adäquat gewesen sein. 2017 nicht mehr.
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