von Özgürol Öztürk, 8.6.13
Im Gezi Park, der Park, wo alles begann, befindet sich rund um die Uhr eine fröhliche Menschenmenge. Aber in verschiedenen anderen Stadtteilen – wie z.B. in dem von vielen Aleviten bewohnten Gazi Mahallesi – und in anderen türkischen Städten wird exzessive Polizeigewalt eingesetzt.
Seit Freitag, dem 31. Mai, war keiner meiner Tage wie sonst. In den ersten drei Tagen (Freitag bis Sonntag) ging es um nichts anderes als Wasserwerfer, Tränengas und Pfefferspray. Am Montag ging ich nach nur zwei Stunden Schlaf zur Hochschule. Nach der Arbeit verbrachte ich einige Zeit mit Freunden im Gezi Park. Um ungefähr 23 Uhr verließ ich den Platz und kehrte zur Universität zurück, wo wir ein Lazarett für die bei den Angriffen der Polizei Verletzten eingerichtet hatten. Glücklicherweise breiteten sich die Auseinandersetzungen nicht so weit aus wie in den vorigen Tagen, und ich konnte um 4 Uhr morgens nach Hause gehen.
Am Dienstag kam ich um 9 Uhr in der Universität an, aber die Gewerkschaft Öffentlicher Angestellter hatte inzwischen für Dienstag und Mittwoch in der gesamten Türkei einen Streik ausgerufen. Also hielten wir uns am Dienstag an unseren Arbeitsplätzen auf, ohne zu arbeiten. Nach Büroschluss ging ich wieder zum Gezi Park und schaute mir in den angrenzenden Vierteln die Barrikaden und Straßen an, die ich in den Tagen zuvor nicht in Augenschein nehmen konnte. An diesem Abend erhielt ich dann die Nachricht von der Festnahme unserer Erasmus-Austauschstudentin Lorraine Klein. Ich verließ umgehend den Park, um irgendwo in Ruhe mein Telefon benutzen zu können.
Meine Kollegen von der Juristischen Fakultät und ich kontaktierten die Anwaltskammer, die sich momentan bemüht, die Demonstranten vor Gericht zu vertreten, und erkundigten uns nach dem Befinden von Lorraine. (Sie ist Journalistik-Studentin, nimmt an zweien meiner Lehrveranstaltungen teil und arbeitet für ein Studentenmagazin, das wir gerade vorbereiten. Eines der Themen ihrer Artikel für dieses Magazin waren die Demonstrationen in Istanbul, über die sie seit Januar 2013 berichtete). Lorraine wurde mit 76 anderen Menschen verhaftet. Sie war vor Ort, um Fotos zu machen und Interviews zu führen, sowohl für das Hochschulmagazin als auch für einige französische Zeitungen. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass es eine der Kernaufgaben von Journalisten ist, direkt aus dem Zentrum der Ereignisse zu berichten. Während einer der Polizeirazzien konnten die Leute flüchten, die sie gerade interviewte. Ihr selbst gelang dies aber nicht, und so wurde sie verhaftet. Noch in der Nacht versuchten wir erfolgreich, einen Dolmetscher und einen Anwalt für sie zu finden.
Am Mittwochmorgen wurde sie zusammen mit den anderen Verhafteten zum Staatsanwalt gebracht, um ihre Aussage zu machen. Am selben Morgen fand auch eine Demonstration der Gewerkschaft statt, an der wir teilnahmen. Wir marschierten von einem Außenbezirk (Beyazit) zum Taksim. Der Marsch und die Demonstration dauerten beinahe 5 Stunden. Danach begab ich mich wieder zur Universität, um weitere Informationen über Lorraines Situation zu bekommen. Zunächst gab es gute Nachrichten: Der Staatsanwalt entschied, alle Festgenommenen freizulassen. Wir waren erleichtert, und einige türkische Freunde von Lorraine warteten vor dem Gericht, um sie abzuholen. Ich selbst war sehr erschöpft. Weil es schon kurz vor 21:30 Uhr war, entschied ich mich, nach Hause zu gehen.
Um ca. 22 Uhr rief mich allerdings einer der vor dem Gerichtsgebäude wartenden Freunde an und teilte mir mit, dass die Ausländerpolizei sie zur zentralen Abschiebestelle gebracht hatte. Während ich sofort mit einem anderen Kollegen unserer Fakultät zur Polizeiwache ging, versuchten wir, zusätzliche Rechtsanwälte einzuschalten, die im Ausländerrecht erfahren sind. Als wir bei der Abschiebestelle ankamen, waren vier Anwälte bereits vor Ort. Wir blieben bis 2:30 Uhr morgens und hatten die Gelegenheit, mit Lorraine zu sprechen. Da ich mich mit derartigen Sachverhalten überhaupt nicht auskenne, versuchte ich, die Abläufe zu verstehen und zu begreifen, was nun zu tun war. Wie ich von den Anwälten erfuhr, drohte Lorraine tatsächlich die Abschiebung. Wieder zuhause angekommen, schickte ich eine Nachricht an den E-Mail-Verteiler der Wissenschaftler unserer Universität. Ich beschrieb die Situation und bat sie um Hilfe in dieser Angelegenheit, die unser sofortiges Handeln erforderte. Es war halb sechs morgens, als ich endlich zu Bett ging.
Nachdem ich nur anderthalb Stunden geschlafen hatte, war ich am Donnerstagmorgen um 8 Uhr wieder in der Universität, um für Lorraine eine Immatrikulationsbescheinigung zu holen und sie anschließend bei der Polizei vorzulegen. Als ich um 9:30 Uhr auf der Polizeiwache eingetroffen und eine Stunde später endlich vom zuständigen Polizeibeamten vorgelassen worden war, teilte man mir mit, dass Lorraines Fall zur endgültigen Entscheidung nach Ankara gesandt werde. Da alle Universitätsdozenten hierdurch höchst beunruhigt waren, nahmen sie sofort Kontakt mit Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen sowie mit allen möglichen nationalen und internationalen Nachrichtenagenturen auf, informierten sie über die Situation und baten sie um Hilfe. Während ihr Rechtsfall vorbereitet wurde, sah ich Lorraine zufällig auf dem Korridor und bat die Wächter, mit ihr sprechen und mich nach ihren Bedürfnissen erkundigen zu dürfen. Sie kam in unseren Warteraum und bat um ihre Brille, saubere Kleidung, einige Bücher, ein Handtuch sowie Papier und Stifte. Sie sagte: „Hier sind viele Frauen und Kinder; ich möchte mir Notizen machen und einen Artikel über sie schreiben.“ Wieder einmal bewies sie, dass aus ihr eine großartige Journalistin werden wird!
Inzwischen war der Vizepräsident des Fußballklubs Galatasaray, Adnan Öztürk, auf die Polizeiwache gekommen und erkundigte sich nach Lorraines Lage. Zwei weitere Anwälte besuchten sie und einer bot an, sie ehrenamtlich zu vertreten. Um 14:30 Uhr war ihr Dossier endlich vorbereitet und wurden nach Ankara geschickt. Ich konnte vor Ort nichts mehr tun und kehrte zur Universität zurück, um die dortige Verwaltung über den Stand der Dinge zu informieren. Am selben Tag um 18:30 Uhr organisierten alle Universitätsmitarbeiter in Istanbul eine Demonstration auf dem Taksim. In dieser Nacht konnte ich zum ersten Mal seit dem Beginn der Demonstrationen sechs Stunden schlafen.
Wegen des Streiks und der jüngsten Ereignisse war in der Universität viel Arbeit angefallen, die ich bis tief in die Nacht hinein erledigen musste. Tags darauf verfolgen bereits viele Menschen die Entwicklung von Lorraines Fall. Am Nachmittag wurde uns endlich gesagt, dass das Ministerium für EU-Angelegenheiten und das Außenministerium günstige Stellungnahmen an die Ausländerpolizei gesandt hätten. Diese würde allerdings noch auf eine zusätzliche Beurteilung von einer anderen Regierungsstelle warten (ich weiß momentan noch nicht, um welche Behörde es sich handelt).
Einige meiner Freunde kamen an diesem Abend aus Ankara herüber; gemeinsam gingen wir zum Taksim. Gestern kam ich erst spät nach Hause – und mit dem schlechten Gewissen, Ihnen [Carta, die Red.] noch nicht geantwortet zu haben, wachte ich heute um 6 Uhr auf. Darum schreibe ich Ihnen nun.
Am Sonntagmorgen (9. Juni 2013) teilte uns Özgürol Öztürk die gute Nachricht mit, dass Lorraine Klein wieder frei sei.
Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Guido Jansen.