#Bildung

Liebe Verleger, fallt mir nicht auf Philosoph Precht herein

von , 14.9.12


Liebe Verleger,

wieder mal habt Ihr Euch den bestellt, der Euch sagt, was Ihr hören wollt. Das macht Ihr nun seit Anbeginn des Internets. Es hat wenig geholfen, oder?

Ihr solltet Menschen mit Euch (und eben nicht zu Euch) sprechen lassen, die Euch endlich mal Euer krudes Weltbild zurechtrücken, die Euch wecken aus Eurem Dornröschenschlaf, die Tacheles mit Euch reden.

Ihr seid doch intelligente Männer (!), Ihr müsstet doch längst gemerkt haben, dass Ihr keine zweite Meinung neben Eurer zulasst.

Ihr müsstet darüber hinaus längst bemerkt haben, dass selbst die Kanzlerin Euch nach dem Mund redet, sich umdreht, von der Bühne geht und alles vergessen hat, was sie Euch gerade versprach. Dass sie dies mit allen anderen Verbänden ebenso macht.

Aber zurück zu Philosoph Precht (ich wähle zufallsbedingt den boulevardesken W&V-Post als Roten Faden meiner Ausführungen):

Richard David Prechtvon Medien geliebter Philosoph und Autor, hat die Grossotagung in Baden-Baden mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Printmedien gerockt. Mit einem fulminanten Plädoyer pro Print und einer Philippika gegen die “Pöbelkultur” im Internet balsamiert der populäre Denker die vom digitalen Strukturwandel geschundenen Seelen anwesender Grossisten und Verleger.

Soso, Philosophen “rocken”. “Populärer Denker” ist ein Widerspruch in sich. So was funktioniert nur auf Boulevard- und TV-Niveau, bei den Geissens et al. Ansonsten sind Denker nie populär, da sie landläufigen Vorurteilen diametral widersprechen. Reine Zustimmung oder Popularität hat meist wenig mit eigenem Denken zu tun.

Das trifft übrigens auch für die “Popularität” seiner Thesen in Eurem Kreis zu. Er hat nur geschickt die Knöpfe gedrückt, die Ihr ihm nippelartig hingehalten habt.

Die Aufgabe von Massenmedien sei es nicht in erster Linie zu informieren und zu unterhalten, sondern “Öffentlichkeit über relevante Themen herzustellen” und so als “sozialer Kitt” zu wirken.

A. Und wer entscheidet, was “relevant” ist? Der Verleger, der Chefredakteur? Anscheinend nicht die Leser. Anscheinend nicht die Zukunft, nicht die Moral, nicht ein weises Wesen, das die Welt zum Besseren wenden möchte. Eher die Quote, die Abverkäufe, die politischen Seilschaften. Diese Öffentlichkeit nutzt der Öffentlichkeit wenig.

B. Wie kann ein Sender ohne Rückkanal “sozialer Kitt” sein? Doch nur in einer stumpfen Masse, die kritiklos folgt und in einer Richtung mitmarschiert. Gleichschaltung als sozialer Kitt? Das erinnert mich an ein bestimmtes Buch und eine bestimmte Realität.

Übrigens: Sozial kann das Netz besser.

Dies könnten Printmedien besser leisten als das Internet. Das Netz stelle zwar ein unglaubliches Verfügungswissen auf Knopfruck zur Verfügung. Doch wer helfe einem, zu unterscheiden was relevant sei und was nicht?

In einer guten Welt würde die Schule lehren, zu unterscheiden zwischen relevantem und irrelevantem Wissen. In unserer Welt sollen das allen Ernstes laut Philosoph Precht die Massenmedien übernehmen!? Klingt nach Mediendiktatur, nach Mediokratie – im doppelten Sinn. Und nicht nach freier Meinungsbildung. Eines Philosophen unwürdig.

Richard David Prechts These: Trotz vieler intelligenter Blogs, die es im Internet gebe, brauche es Print zum Eintrainieren von Orientierungswissen. Precht: “Die Aufgabe der Zeitungen ist es, ideologisch nicht vorformatiertes Orientierungswissen bereitzustellen. Diese Aufgabe dürfen sie nicht verspielen.

A. Haben sie doch längst. Das hätte er Ihnen offen sagen sollen. Stärker als Spiegel, Bild, Fokus, Welt, FAZ, und andere kann man doch gar nicht “ideologisch vorformatiertes” Wissen präsentieren und seine Glaubwürdigkeit verspielen.

B. “Eintrainieren von Orientierungswissen”, das klingt sehr nach katholischem Religionsunterricht. Intelligent Design des kindlichen Hirns.

Orientierungswissen verlangt nicht nach Print, sondern nach freiem Denken, nach kritischem Denken, nach Fragen und Antworten, nach Dialog, nach online casino Verunordnung, nach Diskurs.

Orientierungswissen entwickelt man im Zwiegespräch, und sei es mit sich selbst, nicht aber durch die Bestrahlung mit Vorgefertigtem, Vorgefasstem, Einseitigem, Eindimensionalem.

Weil einem dabei auch Wissen serviert werde, nach dem man – anders als im Internet – gar nicht gezielt gesucht habe, erweiterten vor allem systemrelevante Zeitungen den Horizont der Leser.

Hat Herr Precht schon mal etwas im Internet gesucht? Man erhält dort nämlich nie die 100%ig eindeutige Antwort auf eine Suche. Serendipität ist eingebaut in Suche und Netz. Man muss sich nur darauf einlassen. Und diese Serendipität führt ungefähr 3.000.000 mal weiter als die einzelne Tageszeitung.

Die Funktion des Internet als Produzent von mehr Demokratie und Meinungsvielfalt stellt Precht ebenfalls infrage. Die Meinungsvielfalt habe sich durch das Internet nicht erhöht, sondern die Meinungen seien lediglich transparenter geworden.

A. “Lediglich”, klar, das können weder Herr Precht, noch Sie als Verleger wissen, aber das ist das wichtigste und untrüglichste Zeichen und Qualitätsmerkmal von Demokratie: Transparenz. Denn ohne Transparenz kann Demokratie nicht funktionieren, wie man anschaulich an den Demokratien der Welt sieht.

B. Die Meinungsvielfalt insgesamt wird sich vielleicht nicht erhöht haben, erhöht aber hat sich die Vielfalt der Meinung im Einzelnen, da er sich im Netz einfacher (aktiv und passiv) mit anderen Meinungen konfrontieren kann, als wenn er nur “seine” Tageszeitung, “seinen” Spiegel liest.

Man bekomme vor allem mehr von der Meinung anonymer Leute, die meist “fallbeilartig ihre Meinung äußerten “, sagt der Philosoph. Das Netz fördere eine “Pöbelkultur”.

Spätestens hier muss man mal auf den hinkenden Vergleich Internet vs. Der-qualitativ-hochwertigste-Printtitel-den-Sie-sich-gerade-vorstellen-können eingehen. Denn dies ist der einfachste verallgemeinernde Analyse-Fehler, den man machen kann.

Das Internet des Herrn Precht existiert nicht, auch nicht Ihr Internet, liebe Verleger, oder das Internet der Politik, Musik- und Abmahnindustrie, des Verfassungsschutzes, der Kinderporno- und Terroristenjäger. Sorry. Nicht das Internet, nicht die Muslime, nicht der Islam.

Das Internet ist Abbild unserer Gesellschaft, was schon schlimm genug ist, aber es ist eben auch so viel mehr, denn endlich kann ich über meinen kleinen Gesichtskreis und Horizont hinausschauen. Ich kann sogar den deutschen Sprachkreis verlassen, wenn ich dessen qua Sprache mächtig bin.

Precht: “Sprachkompetenz schließt auch die Entscheidung zu schweigen ein.”

Was für ein – mit Verlaub – Schwachsinn. Was hat das mit dem Netz zu tun? Das ist überall so, und nirgendwo hält sich jemand dort draußen daran. Dass macht die Spontaneität der Welt und der Menschen aus. Das ist Stammtisch, das ist das Gespräch beim Bäcker, Friseur, Arzt. Da wird nicht geschwiegen, da wird gelästert, sich empört, des Volkes wahre Meinung gesprochen.

Die Like- oder Dislike-Kultur führe dazu, etwas permanent zu bewerten, oft mit Empörung. Bei Print ginge das nicht; es ermögliche deswegen, zunächst über das Gelesene zu reflektieren, …

Hm, vielleicht ist das Volk einfach empört. Punkt. Vielleicht muss man sich über das, was mancher Politiker so treibt und mancher Journalist so schreibt, auch einfach mal empören können.

Vielleicht ist das die eben noch vermisste Meinungsvielfalt, die die Demokratie (und eigentlich auch die Medien, liebe Verleger) so dringend braucht.

Die Bindekraft sozialer Netzwerke stellt der Philosoph dagegen infrage. Soziale Netzwerke seien ein Modephänomen, eine Episode. Prechts steile These: “Facebook wird zusammenfallen wie ein zur Unzeit aus dem Feuer genommener Auflauf.

Liebe Verleger, genau das ist Euch längst passiert! Warum bloß!?

Das ist einfach:

A. Als Philosoph lebt Herr Precht in einer verdächtig gestrigen Welt. Auch in einer Welt, die sich längst mit dem Bildungszustand der Menschen abgefunden zu haben scheint. Einer Welt, die längst alle Antworten hat, sie müssen nur immer wieder gedruckt werden, um sich endlich in der Geschichte zu verfestigen.

Nun, genau diese Denkweise hat ihr Ende mit dem Aufkommen des Internets gefunden. Die neue Individualität, Unabhängigkeit und Ungeduld der Menschen ist nicht mehr zufrieden mit dem Angebot der Medien, der Mächtigen, der Machthungrigen.

B. Philosophie, liebe Verleger, hat in den Niederungen des Vertriebes wenig verloren. Schlimmer noch: Eine Philosophie, die dem Anschaffer nach dem Mund redet, ist keine.

C. Philosophie muss über den Dingen schweben, muss die Menschen der Erkenntnis (an sich, nicht einer bestimmten) zuführen, zur Vielfalt, zur Freiheit, zum Denken. Philosophie muss Neues entdecken, nicht Bestehendes bestätigen. Philosophie sucht ewige Wahrheit(en). Schwadroniert nicht über Internet oder Print. Nicht über Symptome, sondern über Ursachen.

Wahre Philosophen geben längst zu, dass – genau aus diesem Grund – die Philosophie längst zusammengefallen ist “wie ein zur Unzeit aus dem Feuer genommener Auflauf”.

Fazit: Schmücken Sie also nicht länger Ihr sinkendes Schiff, liebe Verleger, mit den letzten Strohhalmen, die Sie noch greifen können, ehe Sie im Morast klebriger Reden und geronnener Untätigkeit auf immer versinken.

Schärfen Sie Ihre Sägen, sehen Sie wieder den Wald vor lauter Bäumen, erkennen Sie endlich Muster, entdecken Sie neue Perspektiven, lesen Sie zwischen den Zeiler Ihrer Hiobsbotschaften.

Verzichten Sie aber auf Philosophien, die längst nicht mehr in unser aller Welt passen wollen, geschweige ihr vorangehen.

Verzichten Sie auf die Protagonisten solcher Philosophie. Sie geben Ihnen für ein paar Minuten ein gutes Gefühl der heimeligen Geborgenheit, Ihren inzwischen Jahre andauernden, selbstverschuldeten Kater vertreiben sie nicht.

In diesem Sinne, liebe Verleger: Get well soon!
Crosspost von Policlinique

Die ursprüngliche W&V-Topmeldung, auf die sich der Text bezieht, ist nicht mehr online. (Red.)

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