von Philipp Staab, 7.2.17
Jo Wüllner: Warum reden heute alle über Digitalisierung und KI? Woher kommt der Hype?
Philipp Staab: Wir haben es mit einer säkularen Stagnation der Weltwirtschaft zu tun, insbesondere der hochentwickelten Ökonomien. Seit etwa den 1970er-Jahren befinden wir uns in der OECD-Welt in einer Phase langfristig rückläufigen Wirtschaftswachstums.
Bis dahin gab es im Westen ein fast synchrones Wachstum von Produktivität und Löhnen, was, einfach gesagt, dazu führte, dass die Beschäftigten selbst kaufen konnten, was sie produzierten. Zum einen ging langfristig aber das Produktivitätswachstum zurück, was Unternehmen dazu verleitete, vielfach an den Löhnen zu sparen. Zum anderen hatten in der OECD-Welt irgendwann die meisten Menschen einen Kühlschrank, einen Fernseher und ein Automobil, und es stellte sich zunehmend das Problem ein, dass auf den Heimatmärkten der Unternehmen nicht mehr ausreichend Nachfrage für den weiterhin steigenden Output gefunden werden konnte.
„KI wird, wenn es so weitergeht, weniger Industrie 4.0
und mehr Amazon und Facebook sein.“
Diese Situation hat in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Hoffnungsträger auf den Plan treten lassen: in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren wurde beispielsweise die Globalisierung von Produktion und Warenverkehr im Gespann mit einer Liberalisierung der Finanzindustrie als neuer Motor wirtschaftlichen Wachstums vielerorts gepriesen, ebenso wie die sogenannte New Economy aus Technologieunternehmen.
Heute sehen das viele Menschen anders: Die Finanzindustrie ist spätestens seit der Krise ab 2008 deutlich in Misskredit geraten, die Globalisierung wird als Ursache der Zunahme sozialer Ungleichheit oder gar als Triebkraft des Aufstiegs des Rechtspopulismus beschrieben. Als einstweilen letzter großer Hoffnungsträger übrig geblieben sind die digitalen Technologien, deren tiefe ökonomische Krise nach dem Platzen der Dotcom-Blase heute scheinbar als Kinderkrankheit abgetan wird. KI ist dabei das aktuellste Buzzword, weil offenbar in jüngster Vergangenheit enorme Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt wurden.
Der offensichtliche Nutzen: Um immer stärker individualisierte Produkte an den Kunden zu bringen, braucht es immer stärker personalisierte Wege auf diese Güter aufmerksam zu machen. Das verspricht die hochgradig individualisierte Online-Werbung, die das Kerngeschäft von Google oder Facebook darstellt. Je enger Nutzer in die technischen Ökosysteme dieser Unternehmen integriert sind, desto mehr Daten können diese sammeln, um noch präzisere Konsumangebote machen zu können. Smarte Assistenzsysteme dienen hier zunächst auch der Nutzerbindung.
Ist KI nur die Fortführung von Industrie 4.0? Oder wird hier eine neue Dimension von Digitalisierung beschritten?
Wenn die Digitalisierung weiter in den eingeschlagenen wirtschaftlichen Pfaden verläuft, dann wird KI eher die Fortführung einer Welt beschleunigten und personalisierten Konsums sein, also weniger Industrie 4.0, aber mehr Amazon und Facebook. Wo Industrie 4.0 heute mehr ist als die Fortführung von Rationalisierungstrends, die uns aus der langen Geschichte der Industriearbeit nur allzu vertraut sind, da orientieren sich Produktionsunternehmen ohnehin an den Leitunternehmen des Internet. Diese Leitunternehmen wiederum verfolgen im Kern ein Programm zur Intensivierung des Konsums: Wenn Sie sich das Kerngeschäft der digitalen Leitunternehmen wie Google, Apple oder Amazon ansehen, dann ist das offensichtlich Neue doch, dass sich diese Unternehmen nicht vor allem mit der Steigerung der Produktivität von Arbeit, sondern mit der des Konsums befassen. Appstores beispielsweise bilden Märkte, die gänzlich ohne die Reibungsverluste ‚analoger‘ Märkte auskommen. Die dort angebotenen Güter können jederzeit und überall erworben und konsumiert werden. Diese Logik prägt auch den E-Commerce. Unternehmen wie Zalando oder Amazon sind nicht umsonst geradezu besessen von der Idee des Same-Day-Delivery: Es geht hier darum, Kunden die Teilnahme am Konsum unabhängig von Ort und Zeit zu ermöglichen. Einfach gesagt: Wenn ich meine Einkäufe in der U-Bahn erledigen kann, weil ich jenseits dessen keine Zeit habe, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ich mein Geld spare und es damit dem Warenkreislauf entziehe.
Auch Onlinewerbung, die das Kerngeschäft von Google und Facebook ausmacht, operiert im Grunde mit diesem Versprechen: Wenn noch der differenzierteste Geschmack durch kluge Algorithmen auffindbar wird, entstehen angeblich ganz neue Möglichkeiten, den potenziellen Konsumenten Produkte anzubieten, die sie von alleine wohl gar nicht gefunden hätten. Hier liegt schon heute ein zentrales Feld von KI-Applikationen: Wir haben es letztlich doch vor allem mit Assistenzsystemen zu tun, die uns das Konsumieren noch leichter machen sollen, Konsumtionsmaschinen sozusagen.
Kann eine intelligente, sich selbst steuernde Produktionssphäre, die – so gut wie – keine Menschen mehr zu ihrem Betrieb braucht, das Paradies einer (fast) arbeitsfreien Gesellschaft zuwege bringen? Und ist das ein Paradies?
Als Soziologe fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass die Leute das als Paradies empfinden würden. Schon heute lebt doch ein gar nicht kleiner Teil unserer Bevölkerung in einer Gesellschaft der menschlichen und technischen Dienstboten. Diese Zukunft ist für viele Leute also gar nicht so weit weg, hat aber eher neofeudale Züge. Anerkennung, Wettstreit und Wirksamkeit suchen wir doch aber tatsächlich nach wie vor vornehmlich in der Arbeit. Es ist schon die Frage, welche Art von Lebensführung uns die digitalen Technologien eigentlich versprechen. Viele Digitalisierungseuphoriker sehen ja das Reich der Freiheit am Horizont aufscheinen. Zugleich sind die digitalen Applikationen der Gegenwart doch vor allem darauf angelegt, uns beschäftigt zu halten. Wenn man den eingeschlagenen Pfad in Rechnung stellt, scheint mir das Silicon Valley eigentlich Menschen des Typus „Walle – der letzte räumt die Erde auf“ zu projizieren: Vollversorgte, von jeder Anstrengung und Ambition befreite Subjekte in einer klinischen Blase der Langeweile. Ob die Leute das am Ende wirklich wollen …
Dieses Interview erscheint in der Februar-Ausgabe 2017 der Berliner Wirtschaftszeitung OXI als Teil des Titelthemas „Künstliche Intelligenz“. Die Fragen stellte Jo Wüllner.
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