von Franz Sommerfeld, 20.11.16
Zweifelsohne verfügen die grünen Realos über herausragende Politiker wie Winfried Kretschmann oder auch weniger ausstrahlend Tarek Al-Wazir, über Intellektuelle wie Ralf Fuecks und nicht zuletzt über realen Einfluss in vielen Landesregierungen. Um so bemerkenswerter ist ihre politische Schwäche, die auf ihrem letzten Parteitag in Münster unübersehbar wurde, dessen Agenda Trittin und seine junge Anhängerschaft prägten. Und stärker noch bei der Suche nach Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl. Die Entscheidung für Steinmeier mag Merkel schwächen. Angeschlagen durch Seehofers Kleinkrieg gegen sie blieb ihr tatsächlich wenig Spielraum. Die Grünen hatten es dagegen in der Hand, zweimal einen Kandidaten mit hohen Chancen durchzusetzen. Und setzten beide Optionen in den Sand. Grüner Aufbruch sieht anders aus.
In der FAS von heute schildert Peter Carstens anschaulich, wie Marianne Birthler am vergangenen Parteitagswochenende von ihren Parteifreunden allein gelassen wurde, obwohl sie von ihren Zweifeln wussten. Während sie in Münster ihren Richtungsstreit ausfochten, entschied sich Birthler gegen ihre Kandidatur, der offensichtlich sogar die CSU zugestimmt hätte. Zum ersten Mal hätten die Grünen den Bundespräsidenten gestellt, der Abschluss einer großen demokratischen Integrationsgeschichte.
Den grünen Trittianern ist getrost zu unterstellen, dass sie Birthlers von der Union unterstützte Kandidatur dagegen als worst case empfunden hätten, zu Recht als ein Signal für schwarz-grün bei der Bundestagswahl, denn so war es von Merkel gemeint. Im Kampf gegen eine solche Option sind sie sich mit Seehofer einig, nur ist letzterer im Zweifel dann doch verantwortungsbewusster, wie sich zumindest in diesem Fall zeigt. Mental sind den linken Grünen ostdeutsche Politiker wie Gauck und Birthler bis heute fremd geblieben, unbekannte Wesen aus einer anderen Welt. Also wäre es in diesem Fall Sache und Pflicht der Realos gewesen, Birthler bei ihrer Entscheidung zu begleiten und die Kandidatur zu sichern.
Erst Recht, nachdem die Realos schon die erste grüne Kandidaten-Option gerade verhindert hatten. In einer ausführlichen und durchaus spannend zu lesenden Tagebuch-Recherche schildert der Spiegel in seiner neuen Ausgabe, wie die grünen Realos das Angebot von SPD-Chef Dietmar Gabriel durchkreuzen, mit Navid Kermani einen Kandidaten aufzustellen, der die Stimmen von rot-rot-grün hätte erhalten können. Immerhin hatten die hessischen Grünen Kermani bei der letzten Bundesversammlung als einen ihrer Delegierten benannt. Und sie wussten um seine hohe Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die den Linken, nicht ihnen Schwierigkeiten bereitet hätte.
Doch die Realos dachten und handelten rein parteipolitisch und damit unpolitisch. Obwohl sie die Weigerung von Seehofer, einen Kandidaten Kretschmann zu unterstützen, genau kannten, klammerten sie sich an eben diese Hoffnung. Die Aussicht auf Regierungsbeteiligung verstellte den Realos den Blick auf die Realität
Noch in letzter Minute versuchte Cohn-Bendit, seine Mitstreiter eines Besseren zu belehren. Vergeblich. Als alter Profi versucht er nun, den Schaden zu mindern und Gabriel die Schuld in die Schuhe zu schieben, aber natürlich weiß er, dass die Realos zweimal die Chance verspielt haben, das höchste Amt des Staates zu besetzen.
Unter den grünen Realpolitikern dieser Generation fehlt ein Politiker von der Stärke Joschka Fischers, der über strategischen Weitblick verfügt, grüne Vorstellungen auch noch in griffige politische Forderungen fassen kann und dafür kämpft. Im innerparteilichen Streit reicht der Kompromiss nicht. Die grünen Realos sind politisch kopflos. In der Öffentlichkeit entsteht zusehends der Eindruck, die Realos wollten eben regieren. Das können sie und das ist ja auch in Ordnung. Nur wenn sie sich allein darauf beschränken, laufen sie in die Hillary-Falle. Im Zweifel schon bei der nächsten Bundestagswahl.
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