von Udo Stiehl, 20.7.16
Nein. Es gibt keine vollständige Geschichte. Auch wenn auf Twitter, Facebook und sonst wo schon die Gerüchteküche brodelt. Und: Ja, es gibt alle Spekulationen, Fakes und Behauptungen. Aber das hat nichts mit Journalismus zu tun – wird aber oft damit verwechselt.
In den vergangenen Tagen hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, die Nachrichtenthemen aus Konsumentensicht zu verfolgen – im Urlaub sitzt man nicht in der Redaktion. Und die Kollegen waren nicht zu beneiden um ihre Aufgaben. Erst werden auf der Promenade von Nizza 84 Menschen überfahren, dann gibt es einen Putschversuch in der Türkei und kaum ist dieses Thema einigermaßen journalistisch aufgearbeitet, kommen Meldungen über einen Angriff auf Fahrgäste in einem Zug bei Würzburg.
Alle drei Ereignisse haben eines gemeinsam
Von Beginn an stand eine Erwartungshaltung gegen eine journalistische Haltung. Ab den ersten Eilmeldungen wurde in den sozialen Medien kritisiert, es gäbe ja noch gar nichts im Fernsehen dazu. Im jüngsten Fall bei Würzburg brachte es Benjamin Denes von Spiegel TV auf den Punkt:
@udostiehl Das Absurde ist ja: Die Twitter-Sesselreporter sind in Echtzeit informiert, wollen aber zeitgleich vom TV Info-Mehrwert.
— Benjamin Denes (@berlinflaneur) July 18, 2016
Wobei „informiert“ sich in diesem Zusammenhang darauf beschränkt, eine Timeline zu verfolgen, die überwiegend nicht-journalistischen Ursprungs ist. Dennoch bemerkenswert, dass ausgerechnet aus diesen Reihen die Rufe nach sofortiger und vollständiger Fernsehberichterstattung laut werden. Mit anderen Worten: Die User möchten gerne möglichst in Echtzeit die Bestätigung oder Widerlegung aller in ihrer Gerüchteküche befindlichen Informationen durch professionelle Journalisten. Nur Zeit zur Recherche wird nicht gewährt. Dauert es etwas, wird daraus sofort der Schluss gezogen:
„Die können es nicht. Und die werden auch noch dafür bezahlt!“
Wie schon erwähnt habe ich mir das aus der Sicht des Konsumenten in den vergangenen Tagen angesehen. Mit den Mitteln der herkömmlichen Möglichkeiten: Twitter, Fernseh-Livestream, Online-Medien. Und ohne Login in meinen Agenturzugang. Es waren ausschließlich Möglichkeiten die jedem Interessierten am Geschehen zur Verfügung stehen. Einziger Unterschied: Ich weiß, wie im Hintergrund gearbeitet wird. Und genau hier liegt nach meiner Einschätzung das Problem.
Genauer gesagt liegen hier die Probleme. Es ist nicht nur ein Missverständnis oder gar Unverständnis. Es ist eine ganze Reihe von Kritikpunkten, hinter denen sehr unterschiedliche Motivationen stecken.
- Die Informations-Junkies
Da zähle ich mich dazu und kann nachempfinden, dass jede neue Information wie ein Schwamm aufgesogen und bewertet wird. Wichtig hierbei: Es wird tatsächlich bewertet und eingeordnet – ohne und auch mit journalistischer Begleitung. Je nach dem, wie weit die Berichterstattung fortgeschritten ist. - Die interessierten Ungeduldigen
Haben auch alle denkbaren Quellen angezapft, mögen aber nicht abwarten, bis irgendwas bestätigt oder zumindest als plausibel eingeordnet wird. Sind aber dankbar, wenn fachlich kundige Menschen die Berichterstattung begleiten – wenn auch nach deren Auffassung meist zu spät. - Die Allwissenden
Qualifizieren sich vor allem durch Weitergabe sämtlicher im Umlauf befindlichen Informationen, egal wie plausibel oder abseitig sie sind. Hauptsache, man kann hinterher darauf verweisen, das doch schon von Anfang an so vermutet zu haben. Kunststück, wenn man alles weiterverbreitet. - Die Basher
Warten bei jeder Nachrichtenlage nur darauf, etablierten Medien vorzuwerfen, viel zu spät, zu träge, zu parteiisch oder gar nicht berichtet zu haben – auch wenn nachweislich das Gegenteil der Fall war.
Die Mischung aus all diesen Positionen ist interessant.
Die Dauernörgler und Standardbasher sind bei weitem nicht in der Mehrheit. Aber sie sind die lautesten im Konzert der Kritiker. Sie provozieren mit vergleichsweise wenig Aufwand einen beachtlichen Aufruhr. Gegen Argumente und Erklärungen sind sie immun – sie lehnen journalistische Einordnung ab:
Nein. Man konnte genau verifizieren, was am Airport passierte. 34 Periscope livestreams aus allen Winkeln. https://t.co/2QfeOdSO5V
— DenisGoldberg (@DenisGoldberg) July 18, 2016
An dieser Stelle kommt dann wirklich die Frage, ob es User vorziehen, gänzlich ohne Journalismus auskommen zu wollen. Live-Bilder – woher sie auch stammen mögen und mit welcher Intention sie verbreitet wurden – Hauptsache live.
Aus Sicht eines Nachrichtenredakteurs ist so eine Haltung der GAU.
Wer auf jegliche Einordnung, Hintergrundinformation und Verifizierung der Quelle verzichten möchte, hat seine Medienkompetenz verloren – so er sie überhaupt jemals hatte. Und Menschen mit dieser Einstellung fangen wir Journalisten auch kaum noch ein. Da können wir noch so gut und sauber berichten: Diese Klientel hat unsere Branche im Kopf längst gegen die Filterbubble ausgetauscht. Wir professionellen Redakteure sind da nur noch wahlweise Nutznießer, Wichtigschwätzer oder gar Propagandisten.
Was fehlt, ist Medienkompetenz.
Es mangelt zunehmend daran, klarzustellen, was die Aufgabe professioneller Medien ist. Das fängt im Elternhaus und auch in der Schule an – aber dort ist es oft allenfalls Randthema. Das setzt sich im weiteren Lebensweg fort, spätestens, wenn politische Konzepte nur noch als Ventil für Wut und Aggression aufgefasst werden.
Daraus darf aber keinesfalls der inzwischen gerne und manchmal auch lukrative Weg eingeschlagen werden, den Zuschauern/Hörern/Lesern nach dem Mund zu schreiben und zu senden, damit die Quote stimmt und die Lautstärke weniger Schreihälse geringer wird. Ganz im Gegenteil:
Es ist an der Zeit, ordentlichen Journalismus dieser Ignoranz entgegenzusetzen.
Es ist dringend geboten, dem rasenden Geschäft der „Klick-Geier“ und „Schnell-Melder“ mit Qualität und Recherche das Handwerk zu legen.
Ja, das kostet im Berichtsfall Zeit, die man uns nachträglich als Versäumnis vorwerfen wird. Und es kostet Geduld, die uns – insbesondere bei öffentlich-rechtlichen Medien – als Geldschneiderei unterstellt wird.
Aber wenn wir dem Druck nachgeben und damit journalistische Grundwerte über Bord werfen, dann haben wir vielleicht sogar kurzfristig eine tolle Quote, aber langfristig das eigene Grab gegraben.
Journalisten haben letztlich keine Wahl
Dem Druck nach Geschwindigkeit darf nicht nachgegeben werden, dem Ruf nach sofortiger Berichterstattung um der Spekulation Willen muss widerstanden werden und Medienkompetenz zu lehren sollte endlich zum Lehrfach in den Schulen werden.
Ordentlicher und anständiger Journalismus ist Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft. Auch, wenn kleine Provokateure meinen, das in Frage zu stellen.
Dieser Artikel erschien auch auf der Webseite des Autors. Am 17. Juli 2016 erschien zur selben Thematik „Medien in der Krise. Ratlosigkeit als Betriebssystem“ von CARTA-Herausgeber Christian Neuner-Duttenhofer.
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