#Online-Wahlkampf

Kampagne als “Augmented Reality Game”: Der Mitmachwahlkampf der Piratenpartei

von , 25.9.09

Am Sonntag um 18 Uhr beendet die Schließung der Wahllokale auch die „3-Tage-Wach-Aktionen“ der finalen Mobilisierungsrunde im angeblich so langweiligen Bundestagswahlkampf 2009. Die nach 1998, 2002 und 2005 nunmehr vierte digitale Kampagne um den Einzug in den Deutschen Bundestag hat vermutlich den größten Gegenwind durch Vertreter der „etablierten Massenmedien“ aushalten müssen – die Kritik an der Belang- und Bedeutungslosigkeit des Online-Wahlkampfs lief in Print, Hörfunk und TV auf „heavy rotation“. An einigen Stellen zeigte sich aber, dass man durch geschicktes Manövrieren auch auf stürmischer See erfolgreich navigieren kann. Die Häufung von Seefahrtsmetaphern deutet an, worum es geht: den „anderen“ Online-Wahlkampf der Piratenpartei.

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Die Piraten schreiben mit ihrer Online-Präsenz lediglich die „Normalität“ des digitalen Alltages ihrer Mitglieder und Unterstützer fort

Schon vor der Sommerpause fiel die Textlastigkeit und scheinbare „Rückständigkeit“ der Piratenwebsites ins Auge – ganz anders als die bereits im Frühjahr multimedial aufgerüsteten Hochglanz-Plattformen der Bundestagsparteien pflegt die Piratenpartei ein Erscheinungsbild, das eher an die Auftritte in den frühen Online-Jahrgängen 1998 und 2002 erinnert. Dieser „Return-to-HTML“ ist keineswegs als genialer Coup der Enthaltsamkeit zu verstehen und hat auch nur wenig mit fehlenden Ressourcen zu tun. Eher das Gegenteil ist der Fall – die Piraten schreiben mit ihrer Online-Präsenz lediglich die „Normalität“ des digitalen Alltages ihrer Mitglieder und Unterstützer fort: Blogs sind nun mal vornehmlich textorientierte Gebilde, ebenso wie Wikis oder die 140 Zeichen bei Twitter. Plakative, audiovisuelle Elemente finden sich natürlich auch im Piratenwahlkampf, aber eben nicht an so vorderer Front wie bei den „alten“ Parteien. Deren inzwischen arbeitsteilig die Aufgaben des Online-Wahlkampfes übernehmende Partei-Homepages, Kampagnen-, Kandidaten- und Unterstützerseiten setzen viel stärker auf die Mechanismen aus der alten Medienwelt und imitieren zu Hauf journalistische Formate – möglicherweise hat gerade hier die Missgunst der professionellen Wahlkampf-Beobachter ihren Ursprung.

Die Präsenz von Parteien und Kandidaten in den Sozialen Netzwerken ist sicherlich die wesentliche Innovation der Kampagnen-Klasse von 2009. Doch inwiefern sich hierdurch die Wahlkampfführung erneuern und Erfolge haben realisieren lassen, wird sich erst weit nach dem Wahltermin zeigen. Die Erfahrungen in den Netzwerken haben sich nicht zur erhofften Erfolgsgeschichte entwickelt – wenn man die Reichweite der Profilseiten als Maßeinheit verwendet. Dass sich nur schleppend Freunde oder Unterstützer für deutsche Spitzenpolitiker gefunden haben, dürfte vor allem mit der Rolle der mächtigen Parteiorganisation „hinter“ den persönlichen Profilen zu tun haben. Die Wähler wissen zu genau, dass ihre unmittelbare Unterstützung für einen Kandidaten durch den „Partei-Filter“ abgedämpft wird – die Struktur des parlamentarischen Systems begünstigt die Netzwerk-Werbung von Einzelkandidaten nicht. Dies gilt im besonderen für einen solch unübersichtlichen Wahlkampf wie in diesem Jahr, dessen Endresultat erst nach einer Art „Koalitions-Lotterie“ (Karl-Rudolf Korte) feststehen wird.

Doch zurück zum Piratenwahlkampf. Die technologische Einfachheit der Plattformen unter schwarzer Flagge mag durch die knappe Zeit zwischen #zensursula-Debatte und der damit verbundenen netzpolitischen Zäsur bis zum formellen Einstieg in den Bundestagswahlkampf nach der Wahlzulassung am 31. Juli resultieren – dass sie sehr funktional für einen beteiligungsorientierten Wahlkampf mit niedrigen Einstiegshürden ist, kann inzwischen als unbestreitbar gelten. Möglicherweise hat die in den etablierten Parteien allein schon für eine interne Sichtbarkeit der Online-Kampagne zwingend erforderliche Vergrößerung der Internet-Teams potenzielle Untestützer „von außen“ eher abgeschreckt als zum Mitmachen angeregt. Auch der zwischen den Lagern gerne gepflegte Seitenhieb auf die neuesten Aktivitäten des Gegners muss für „einfache Wähler“ nicht unbedingt mitreißend wirken – bisweilen verselbstständigte sich so die Berliner Kampagnen-Blase.

Der umstandslose Zugriff auf Informationsmaterialien und ein reduziertes inhaltliches Angebot bei gleichzeitiger permanenter Mitgestaltungsmöglichkeit im Piraten-Wiki stellt einen konträren Ansatz dar – vielleicht den einzig „echten“ Mitmach-Wahlkampf im Web 2.0. Eine wichtige Rolle spielt hier auch die Abwesenheit von Partei-Eliten – trotz der formalen Differenzierung innerhalb der Piraten-Organisation ist noch keine Kluft zwischen Landes- oder Bundesvorstand und der „einfachen Mitgliedschaft“ zu erkennen. Auch für externe Unterstützer und Sympathisanten ist es einfach, sich an der Arbeit der Piraten zu beteiligen – doch das muss nicht so bleiben, wenn die Piratenpartei erst einmal einen „richtigen“ Parteiapparat ausgebildet hat. Und den wird sie durchaus brauchen, wenn sie auch künftig eine Rolle im Parteienwettbewerb spielen möchte.

Dabei ist „Spielen“ das zweite Schlüsselelement für den Erfolg der Piraten-Kampagne – denn die kollektive Anstrengung der „Nerds“ in schwarz-orange trägt Züge eines Rollenspiels. Die „Mission Bundestagswahl“ lässt sich in eine Folge einzelner „Quests“ zerlegen, an denen die über das ganze Bundesgebiet verteilten Mitspieler relativ koordiniert arbeiten. Gelöst wurden bisher die Aufgaben „Europawahl“, „Zulassung zur Bundestagswahl“, “Übernahme der Mehrheiten in den Sozialen Netzwerken“, das Extra-Level „Gewinnung von öffentlicher Aufmerksamkeit“ wurde etwas holprig erreicht, vielleicht auch unter Zuhilfenahme von „Cheats“. Und nun steht das vorerst letzte Level mit dem Endgegner „Wahlurne“ an.

Und auch wenn das nach maximaler Unwahrscheinlichkeit klingt – an dieser Stelle gibt es sogar Ähnlichkeiten des Piraten-Wahlkampfs mit einem amerikanischen Vorbild, dem doch vor allem die Bundestagsparteien nacheifern wollten. In einem wenig beachteten Text hat Gene Koo die Performance von my.barackobama.com als „Augmented Reality Game“ beschrieben. Auch hier finden sich klar definierte Teilaufgaben, die Unterstützer erledigen müssen, um zum Gelingen der Kampagne beizutragen – Telefonieren, Nachbarn überreden, Veranstaltungen vorbereiten, Geld spenden. Auch wenn das Setting des Spiels mangelhaft war („minimal graphics, no sound effects, and deeply flawed gameplay“), so ist der Gedanke erkennbar – eine möglichst große Gruppe von Menschen versucht sich an der Lösung verschiedener kampagnenbezogener „Quests“, um die zentrale Spielfigur „Barack Obama“ durch das Szenario zu leiten. Der Ausgang des „Spiels“ ist bekannt.

In puncto Nutzerführung war Obama den Piraten allerdings noch um einiges voraus – mittels eines Punktesystems wurden die Wahlhelfer für ihre Aktivitäten belohnt und konnten sich so innerhalb des Schwarms der Kampagnen-Mitarbeiter verorten. Einerseits löste diese Form des kompetetiven Wahlhelfens enorme Motivationsschübe aus, sorgte aber auch für große Frustration – wenn die eigene Kampagnenarbeit nicht im Sinne des Systems „abgerechnet“ werden konnte oder andere Unterstützer gezielt auf Punktejagd gingen. Selbst wenn die Kampagne der Piratenpartei am Sonntag bei einer mageren Prozentausbeute endet – die Impulse für die Wahlkampf-Kommunikation und die Organisation des innerparteilichen Austauschs sind erheblich und werden künftig mit Sicherheit auch von den etablierten Parteien aufgegriffen werden.

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