#Ai Weiwei

Kaltes Deutschland

von , 20.8.15

Seine Freude, nach Jahren seinen achtjährigen Sohn endlich wieder zu sehen, erklärt der Tagesspiegel, der in diesem Fall ganz gegen seine sonstige Art eine unrühmliche Rolle spielt, damit, dass Ai dabei „geprägt vom Konfuzianismus mit seiner patriarchalen Lehre und der besonderen Bedeutung der Vater-Sohn-Beziehung“ sei. Als würde sich eine vom Christentum geprägte deutsche Mutter nicht unendlich freuen, ihr Kind nach Jahren wieder in die Arme zu schließen. Das fällt ja noch ins Fach fürs Groteske, viel mehr empört die Medien, dass Ai sich weigert, agenturfähige Verdikte über die chinesische Diktatur vom Fließband zu liefern. Statt dessen denkt er laut, zweifelt und wägt ab, versucht, sich in die neue ihm dann doch fremde Gesellschaft hinein zu finden. Er postet Privates auf Facebook, als sei er kein Dissident, sondern ein ganz gewöhnlicher Blogger. „Da wird ein Kind zur Schau gestellt“, kritisiert prompt der Tagesspiegel.

Damit gerät Ai Weiwei zum Fall für die aus Funk und Fernsehen bekannten Amateur-Psychologen und Fern-Psychiater. Er sei nicht mehr der alte, unterstellt die ZEIT. Das ist noch harmlos. Der Leiter der Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus analysiert bei ihm das Stockholm-Syndrom. Keiner der deutschen Sittenwächter über dissidentische Moral musste auch nur annähernd eine ähnliche Verfolgung für seine Kritik erfahren und auf sich nehmen, wie sie Ai Weiwei über viele Jahre erfahren hat und auf sich genommen hat, ohne zurück zu weichen. Andreas Rosenfelder und Ronja von Rönne waren beinahe die einzigen, die in der WELT diesen maßlosen deutschen Hochmut kritisieren.

Ai Weiwei setzt auf die Wochenzeitung ZEIT und erwartet vom liberalen Blatt, dort seine Vorstellungen in Ruhe darlegen zu können. In seinem Interview entwickelt er die vielleicht nicht unbedingt neue, aber für ihn entscheidende These, dass die fehlende Vielfalt kulturell und politisch die entscheidende Schwäche in China sei und hofft, dass eine sich entwickelnde stärkere Individualisierung eine große Chance für die Veränderung der chinesischen Gesellschaft und auch politischen Ordnung in sich berge. Das entwickelt er mit verschiedenen Bildern und Beispielen, beginnt mit fehlenden Fahrradwegen, nennt die Blumenvielfalt, erhofft sich von der wachsenden Zahl von Auslandsstudenten Individualisierung und Liberalität und schließt seine Überlegungen mit dem Bild vom Ziegel ab: „Nehmen wir die Form des Ziegelsteins, von dessen Abmessungen ein Hausbau abhängt. Wenn sich diese aber ändern, dann wird sich damit auch das Erscheinungsbild des ganzen Bauwerks ändern müssen. Dann bedarf es aber einer total umfassenden Änderung, erst dann kann sie gründlich sein.“ Damit plädiert er dafür, auch die kleinen Veränderungen in der Breite und Tiefe der Gesellschaft Ernst zu nehmen, weil sie auf Dauer das Gesamtgebäude erschüttern. Und nicht nur auf die große Konfrontation zu setzen.

In der ihm zur Authorisierung vorgelegten Fassung sind diese Überlegungen alle vorhanden. Um so entsetzter ist Ai Weiwei, dass in der schließlich veröffentlichten Fassung diese Passagen systematisch gestrichen wurden. (Das ist an den geklammerten, das heißt, gestrichenen Texten gut zu erkennen). Damit fehlt dem Interview der für Ai Weiwei so wichtige innere Halt, seine vorsichtige Zuversicht steht angesichts der aktuellen politischen Maßnahmen der chinesischen Regierung plötzlich leer im Raum. Entsprechend empört reagiert der Künstler und wirft der ZEIT vor, sein Interview nach der Authorisierung um ein Viertel gekürzt und gefälscht zu haben.

Die ZEIT„schlägt“ im Tagesspiegel zurück. Beide Blätter sind verlegerisch miteinander verbunden, einer der Tagesspiegel-Herausgeber ist stellvertretender Chefredakteur der Zeit. Die Autorin des Textes im Tagesspiegel, Christiane Peitz, immerhin die Feuilleton-Chefin, also nicht irgendwer, schreibt selbst regelmäßig in der ZEIT. Alles das wird dem Leser vorenthalten, der Tagesspiegel erweckt den Eindruck einer unvoreingenommenen objektiven Berichterstattung. Dabei dementiert die ZEIT den Vorwurf des Künstlers ausdrücklich nicht, sondern erklärt lediglich, es gäbe „keine Entstellung, keine aus dem Zusammenhang gerissene Sätze“. Nebenbei bemerkt, klingt das fast so, als sei derlei bei der ZEIT möglich oder üblich. Dass der zentrale Gedankenstrang gestrichen wurde, übergeht sie vornehm. Ansonsten berichtet der Tagesspiegel, dass auch die ZEIT-Redakteurin „ungehalten“ über den Interviewten sei. Die ZEIT versucht sich darüber hinaus, damit zu verteidigen, Weiwei habe nicht um die Druckfassung gebeten und am Mittwoch (vermutlich bereits während des Drucks) sogar eine PDF-Fassung des Schlusstextes erhalten. Zu welchem Zweck ihm dann überhaupt eine authorisierte Fassung vorgelegt wurde, bleibt letztlich ungeklärt. Zum Abschluss wirft der Tagesspiegel Ai Weiwei Macho-Verhalten vor. Als würden solche oder noch schlimmere charakterliche Mängel seine Kritik am Umgang mit ihm relativieren, als dürfe man mit einem „Macho“ so umspringen.

Die ZEIT reagiert in ihrer jüngsten Ausgabe auf die Vorwürfe nicht. Ai Weiwei kommt aus einer Diktatur und muss nun die Erfahrung machen, dass es auch in einer offene Gesellschaft schwierig ist, sich gegen ein dominierendes Medium zu behaupten. Hätte er eine chinesische Zeitung kritisiert, hätten alle Agenturen und Medien reagiert und um einen Originalton gebeten. Als wären Verfälschungen in westlichen Blättern nicht möglich. Auf Facebook entwickelt sich immerhin eine Debatte, in der Angela Köckritz, die das Interview mit einer Kollegin für die ZEIT geführt hat, ihr Vorgehen zu verteidigen sucht. Anders als noch beim Skandal um die Odenwald-Schule lässt sich heute Kritik nicht mehr vollständig unterdrücken. Eine Öffentlichkeit entsteht, in der klassische Medien die Türen zur Öffentlichkeit nicht verschließen können. Das ist ein Fortschritt.

Und sicher ist es ein Fortschritt, dass Völker- und Menschenrechte höhere Aufmerksamkeit finden. Doch warum kommen viele Beiträge mit einer deutschen Rigidität und Kälte daher, als würde immer noch am deutschen Wesen die Welt genesen? Oder ist es nur der gewöhnliche Mainstream-Journalismus, der Schlagworte, in diesem Fall die Menschenrechte, abarbeitet und schnell verbreitet? Bis zum nächsten Hype?

 


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