#Bildung

Jung, gebildet, fern der Heimat. Eine Replik auf Michael Seemanns Verschwörungs-Text

von , 13.2.11

Michael Seemann (mspro) hat ein hübsches Verschwörungs-Szenario für die Generation Facebook geschrieben. Die zentralen Thesen seines Textes lauten:

  1. In meiner Generation sind beinahe alle mit Hochschulabschluss ein Jahr ins Ausland gegangen.
  2. Seit 10 Jahren kommuniziert diese Elite über das Internet. Auf Englisch.
  3. Die gebildete Mittelschicht in meinem Alter hat viel mehr kulturelle Schnittmengen mit den gebildeten Mittelschichten in anderen Ländern als mit den Spießer-Nachbarn von nebenan.
  4. Es ist zu beobachten, dass wir – also ich und die meisten, die ich kenne – sich kulturell und sozial von der Mehrheit der Menschen in Deutschland abwenden.
  5. Meine spießigen Nachbarn haben Recht: Es ist eine Verschwörung, die gegen sie geht.

Das Interessante an Seemanns “Enthüllung einer Verschwörung” ist die Unverblümtheit, mit der er sie aufgeschrieben hat. Dabei missfällt manchem Kommentator des Seemann-Textes der Mangel an Empathie für „die Ungebildeten“, das Übermaß an selbstgefälliger Arroganz eines Privilegierten und die rhetorische Blasiertheit, die in der Annahme gipfelt, die Welt drehe sich nur deshalb um die Mittelschicht, weil die vielen ungeduldigen, urban geprägten Singles mit Hochschulabschluss in angesagten Cafés herumsitzen, in ebensolchen Clubs vorbeischauen oder biologisch erzeugte Steaks verspeisen, wenn sie nicht gerade mit ihren Smartphones und Netbooks die Revolution ausrufen.

Doch moralische Vorwürfe will ich Michael Seemann gar nicht machen. Ich könnte mir denken, dass ihm diese Einwände sehr wohl bewusst sind, dass er aber – der Ehrlichkeit halber und der besseren Wirkung seines Textes wegen – nicht so tun wollte, als sei er ein Mensch, der seine bildungsbedingten Privilegien bloß mit schlechtem Gewissen genießt. Nein, er findet seine Privilegien toll. Und er findet das Reisen und Reden über alle Grenzen hinweg sinnvoller als die Debatten mit den Nachbarn seiner Eltern am heimischen Jägerzaun. Seemanns Beitrag würde an Schlagkraft verlieren, müsste er Einwände und Bedenken von vornherein berücksichtigen. In diesem Sinne ist es ein cleverer Text. Warum ist er trotzdem falsch?

1. Das Networking der jungen, mobilen Bildungseliten über alle Grenzen hinweg überwindet die nationale Erdung keineswegs. Es blendet sie lediglich aus. Es ist eine Hans-guck-in-die-Luft-Haltung. Würde die junge, mobile Bildungselite (schon) Kinder groß ziehen, Eltern pflegen, Steuern zahlen, Wohnung putzen, Wäsche waschen – was in zehn, 15 Jahren für 80 Prozent der „Info-Elite“ der Fall sein wird – hätte sie auch ein Gespür für die nationale Gesellschaft, in der (und von der!) sie lebt.

2. Die internationalistische Lebensweise, die Seemann beschreibt und bejubelt, ist ein Escape-Modell. Sie scheut die – als anstrengend empfundene – nationale Einmischung, das kommunale Kleinklein, die Mühen der Ebene, und sie steht der (wachsenden) Ungleichheit im eigenen Land indifferent, ja ignorant gegenüber.

3. Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in ihrer Aufsehen erregenden Untersuchung „Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ nachgewiesen, dass die zentrale Voraussetzung für kosmopolitische Solidarität und kooperativen Internationalismus die Reduzierung der Ungleichheit im eigenen Land ist. Wobei Reduzierung bedeutet: Verringerung der Einkommensunterschiede zwischen den ärmsten und reichsten Schichten der Gesellschaft. Extreme Ungleichheit, so Wilkinson/Pickett, produziere ein Höchstmaß an Unzufriedenheit, Missmut, Spießigkeit, Fremdenhass und irrationalen Ängsten in allen Schichten. Sich dieser Problematik zu entziehen, indem man seine Freunde lieber jenseits der Landesgrenzen in vergleichbaren sozialen Milieus sucht, ist verständlich, aber fatal. Ein solches Ausweichverhalten führt nur dazu, dass sich die Unterprivilegierten „verraten und verkauft“ fühlen und irgendwann aus Trotz jede Modernisierung und jeden Fortschritt verweigern.

4. Möglicherweise wollte Seemann nur besonders trickreich darauf hinweisen, dass er und seinesgleichen im Begriff sind, sich aus dem Staub zu machen und die ganze Arbeit den Zurückgebliebenen (!) zu überlassen. Vielleicht wollte er eine Ahnung davon vermitteln, dass sich diese „Strategie“ eines Tages rächen könnte. Denn wenn die dumpfen Strömungen keinen Widerpart mehr finden, weil sich die junge, urbane, gebildete Elite in den Clubs von Istanbul, Amsterdam, Jakarta und New York die Zeit vertreibt, könnte es zuhause zappenduster werden.

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